Ammianus Marcellinus

Der römische Geschichtsschreiber, Atlantis, die Sintflut und die Amazonen


Abb. 1 Bis heute erhalten gebliebene Strecke einer alten Römerstraße in der Provinz Syria, der Heimat des Ammianus Marcellinus

(bb) Ammianus Marcellinus (geb. um 330 n.d.Z. in Antiochia am Orontes, Syrien - † um 395/400 n.d.Z., vermutlich in Rom) war ein herausragender römischer Historiker. Seine, leider nur teilweise erhalten gebliebene, Schrift Res gestae ([Kriegs-]Taten) gilt allgemein als das letzte bedeutende Geschichtswerk der Antike.

Darin erörterte der "gestrenge und wortmächtige" Ammianus, wie Pierre Vidal-Naquet (1930-2006) den römischen Geschichtsschreiber klassifiziert hat, auch "(XVII, 7) die verschiedenen Arten von Erdbeben. Nachdem er die Theorien Anaximanders und Anaxagoras´ erwähnt hat, behandelt er einzelne Typen von Erdbeben ausführlicher, und unter diesen finden sich auch solche, deren Erschütterungen so stark waren, dass sie eine Insel, >ausgedehnter als Europa< im Atlantischen Ozean versenkten [1]." [2]

Diese Textstelle wurde in der neuzeitlichen Beschäftigung mit Platons Atlanticus von Gelehrten bis in die Gegenwart hinein ziemlich einheitlich als positiver Bezug auf Platons Atlantis betrachtet [3], so wie zu dieser Zeit - vor dem Aufkommen des Isolationismus! - auch noch ohne Scheu aus A. Marcellinus´ Angaben geschlossen werden konnte, "daß die Römer allerdings das Festland von America schon kannten". [4] Dem modernen, hyperkritizistischen Atlantis-Skeptiker Vidal-Naquet scheint diese positive Bezugnahme einer antiken Autorität wie Marcellinus allerdings ein 'Dorn im Auge' gewesen zu sein, sodass er schnell noch eine Im Konjunktiv gehaltene - und letztendlich nichtssagende - Einschränkung nachschob: "Die Nennung Europas könnte ein Hinweis sein, dass Ammianus sich nicht direkt auf Platon bezog." [5]

Abb. 2 Die Titelseite der Ausgabe von Accursius (1533) der Werke des Ammianus Marcellinus

Dieser halbherzige Versuch, Ammianus Marcellinus´ Bezugnahme auf Atlantis infrage zu stellen, muss schon deshalb befremdlich erscheinen, weil auch andere Atlantis-Skeptiker, wie vormals z.B. der Brite Charles Duke Yonge [6], obwohl mit einer zu solcher Auslegung weitaus geeigneteren Übersetzung in der Hand, traditionell keinerlei Zweifel am Atlantis-Bezug dieser Aussage hegten. Gerade Vidal-Naquets Übersetzung - eine Atlantik-Insel, "ausgedehnter als Europa" (und nicht wie etwa bei Yonge: "eine große Insel im Atlantischen Ozean, an der Küste Europas") [7] - lässt kaum eine andere Assoziation als jene zur platonischen Atlantide (nach traditioneller Übersetzung: "größer als Libyen und Kleinasien"; Timaios, 24c) zu. [8]

Vorsicht bzw. eine gesunde 'Portion Skepsis' ist aber - gerade was den Umgang mit A. Marcellinus´ Aussagen zum Atlanticus betrifft - nicht nur exaltierten 'Atlantis-Verneinern' wie Pierre Vidal-Naquet gegenüber, sondern auch bei Befürwortern der Historizitäts-These in Sachen Atlantis angebracht. So wird dem römischen Historiker auf diversen atlantophilen Webseiten die Aussage in den Mund gelegt, dass "...die Intelligentsia Alexandrias die Erzählung und den Untergang von Atlantis als historisches Faktum betrachtete." [9] Eine exakte Quellenangabe für dieses 'Zitat' wird man freilich auf keiner dieser Webseiten finden, und es lässt sich weder anhand der Übersetzung der Res gestae ins Englische durch C.D. Yonge, noch mittels jener von John Carew Rolfe [10] nachweisen. Vermutlich handelt es sich bei dieser - in gutem Glauben und ungeprüft übernommenen - Geschichte um eine später aufgebauschte Fehlinformation, die 1926 von Lewis Spence in "The History of Atlantis" (Chapter III The Sources of Atlantean History - II.) aufgebracht wurde, wo dieser, augenscheinlich zu Unrecht, versicherte: "Die Meinungen der Alexandrinischen Schule in Bezug auf Platos Bericht sind im achtzehnten Buch des Ammianus Marcellinus zu finden." [11]

Abb. 3 In den Res gestae des Ammianus Marcellinus finden sich auch Hinweise auf unterirdische Gänge und Kammern im Alten Ägypten, in denen uraltes Wissen aus den Tagen vor der 'Großen Flut' erhalten geblieben sein soll.

Immerhin war - und dies ist belegbar - Ammianus Marcellinus selber offensichtlich sehr wohl davon überzeugt, dass Solon und Platon, die er ungemein verehrte, beide in Ägypten waren, welches offenbar auch er für "die älteste aller Nationen" (XXII.15.2) hielt (wozu er jedoch kurz anmerkte, dieser Anspruch werde durch die Skythen angefochten), und als Quell altertümlicher Weisheit betrachtete. Im 16. Kapiel von Buch XXII, in dem er sich u.a. mit der oberägyptischen Stadt Alexandria und ihren Gelehrten sowie mit der dortigen Bibliothek befasst [12], schreibt er: " Hier war es, wo Anaxagoras das Wissen herleitete, welches ihm die Vorhersage ermöglichte, dass Steine vom Himmel herabfallen würden, und aus dem Befinden des Schlammes in einem Brunnen bevorstehende Erdbeben vorherzusagen. Auch Solon erhielt Unterstützung durch die Apophthegmen der Priester in Ägypten bei der Inkraftsetzung seiner gerechten und moderaten Gesetze, mit welchen er der römischen Jurisprudenz eine großartige Bestätigung gab. Aus dieser Quelle erhielt auch Plato, emporsteigend inmitten nobler Gedanken, Jupiter selbst gleichkommend in der Herrlichkeit seiner Artikulierung, seine gloriose Weisheit bei einer Reise nach Ägypten." [13]

Zudem wies bereits der herausragende britische Atlantisforscher Egerton Sykes (1894-1983) in seinem, 1977 erschienenen, Buch "Pre-Dynastic Egypt And The Great Pyramids" auf eine Passage in den den Res gestae hin, in welcher von ihrem Autor bestätigt werde, dass dort "uralte Weisheit[en] auf den den Wänden aufgezeichnet sei[en], um sie vor der Sintflut zu bewahren." [14] In der Tat heißt es bei Ammianus Marcellinus im Zusammenhang mit den ägyptischen Pyramiden und anderen alten Bauwerken des Pharaonenreiches: "Dort gibt es auch gewundene, unterirdische Passagen [...], welche, wie es heißt, Männer, die der alten Mysterien kundig waren, mit deren Hilfe sie das Kommen einer Flut voraussagten, an verschiedenen Orten konstruierten, damit nicht die Erinnerung an all ihre geheiligten Zeremonien verloren gehen sollte. Auf den Wänden haben sie, so wie sie diese [aus dem Gestein] herausgeschnitten haben, etliche Arten von Vögeln, Untieren und zahllose andere Tier-Figuren eingemeißelt, welche sie [die Ägypter; bb] Hieroglyphen nennen." [15] Auch diese Textstelle belegt, dass der römische Geschichtsschreiber weder die Historizität vorzeitlicher Kataklysmen noch die Existenz vormaliger, hoch entwickelter Kulturen - wie etwa die jener von Platon beschriebenen Atlantier - ausschloss.

Abb. 4 Die legendären Amazonen Kleinasiens waren für Ammianus Marcellinus historische Realität. (Illustration: Odpocivajici Amazonky, Gemälde von Albert Weisgerber, 1919)

Nebenbei bemerkt, betrachtete Ammianus Marcellinus auch die legendären Amazonen Kleinasiens als historisch existente Völkerschaft. Über sie schrieb er (XXII.8.18-19) recht ausführlich: "Die Amazonen begannen, wie hier dargelegt werden sollte, nachdem sie ihre Nachbarn durch blutige Überfälle verheert, und sie durch wiederholte Siege bezwungen hatten, größere Unternehmungen zu erwägen; und indem sie ihre eigene Stärke als der ihrer Nachbarn überlegen erachteten, und da es sie fortwährend heftig nach deren Besitztümern gelüstete, erzwangen sie sich ihren Weg durch [die Gebiete] viele[r] Nationen hindurch, und griffen [schließlich] die Athener an. Doch [nun] wurden sie in einer grimmigen Feldschlacht in die Flucht geschlagen, und [da] ihre Flanken [...] nicht durch Reiterei gedeckt waren, kamen sie alle ums Leben. Als ihre Vernichtung bekannt wurde, zog der Rest [der Amazonen], der als nicht kriegstauglich zurückgelassen worden war, [...], Anfgriffe ihrer Nachbarn fürchtend, welche sich nun an ihnen rächen würden, in den ruhigeren Distrikt des Thermodon ab. Und nach langer Zeit, nachdem ihre Nachkommenschaft wieder zahlreich geworden war, kehrten sie mit großer Macht wieder in ihre heimatlichen Regionen zurück, und wurden in späteren Epochen [erneut] von den Menschen vieler Nationen gefürchtet." [16]


Ein Fazit

Kommen wir nun zu einer kurzen Schlussbetrachtung in Sachen 'Ammianus Marcellinus & Atlantis': Sicherlich erscheint es legitim, den römischen Geschichtsschreiber in die Reihe antiker Befürworter der Historizität des platonischen Atlantisberichts einzuordnen. Allerdings war seine Beschäftigung mit diesem Gegenstand offenbar nur peripher, und seine offenkundige Akzeptanz der Vorstellung, im Atlantik sei einst eine Großinsel versunken, ist wohl vor allem vor dem Hintergrund seiner besonderen Wertschätzung Solons, Platons und der Alten Ägypter zu verstehen. Immerhin ging er offenbar von der einstigen Existenz einer hoch entwickelten - in gänzlich unbiblischem Sinne - 'vorsintflutlichen' Kultur aus, die im späteren Ägypten ihre Spuren hinterlassen hat. Möglicherweise enthielten die verloren gegangenen Teile seiner Res gestae noch weitere, interessante Hinweise auf die Rätsel der Vorgeschichte, aber darüber lässt sich allenfalls spekulieren.


Externum:

Lateinischer Original-Text der Res gestae:

Ammiani Marcellini rerum gestarum, bei: Domus Ecclesiae (Einführung von Robert Ketelhohn)


Anmerkungen und Quellen

  1. Fußnote (69) bei Vidal-Naquet: Diese Analyse stützt sich auf einen Bericht über das Erdbeben in Nikomedeia (24. August 358)
  2. Quelle: Pierre Vidal-Naquet, Atlantis - Geschichte eines Traums, C.H. Beck, 2006, S. 46
  3. Siehe dazu z.B. das Lemma 'Atlantis' - in: Vergleichendes Wörterbuch... 1829
  4. I. Fr. Hennicke, "Atlantis. - America. (Gelehrte Sachen)", in: Allgemeiner Anzeiger der Deutschen (Gotha), Nr. 46, Donnerstags, den 16. Frebruar 1826
  5. Quelle: Pierre Vidal-Naquet, Atlantis - Geschichte eines Traums, C.H. Beck, 2006, S. 46 --- Red. Anmerkung: Das A. Marcellinus Bezugnahme INDIREKTER Natur ist, ergibt sich natürlich logischer Weise aus der Tatsache, dass er Platon in dieser Textstelle nicht dezidiert erwähnt, keineswegs aber aufgrund seines Größenvergleichs mit Europa!
  6. Siehe: THE ROMAN HISTORY OF AMMIANUS MARCELLINUS DURING THE REIGNS OF THE EMPERORS CONSTANTIUS, JULIAN, JOVIANUS, VALENTINIAN, AND VALENS. TRANSLATED BY C.D. YONGE, M.A.; XVII.13 - und dort insbesondere Fußnote 75: "This is a tale told by Plato in the Timæus (which is believed to have no foundation)."
  7. Orig.bei Yonge: chasmatiæ, which "...swallow up portions of the earth, as in the Atlantic sea, on the coast of Europe, a large island..." (XVII.7.13)
  8. Anmerkung: Interessant erscheint in Hinblick auf den vorzeitlichen Atlantikraum zudem ein Verweis von Jean Markale, welcher 1987 erwähnte, Ammianus Marcellinus habe auch von "fremden Inselbewohnern" gesprochen, "die von weither übers Meer gekommen" seien und Gallien bevölkert haben sollen. Quelle: Jean Markale, "Die Veneter und Atlantis"
  9. Quelle: M. Talc, The Lost History of Man - Testimony of Ancient Civilizations, unter: The Lost Civilization of Atlantis (abgerufen: 09.02.2013; Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  10. Siehe: Peter Donnelly (Hrsg.), Ammianus Marcellinus - Rolfe Translation, Juli 2011; bei Skookum.com (abgerufen: 12.02.2013)
  11. Quelle: Lewis Spence, "The History of Atlantis", Cosimo, Inc., 30.10.2007 (Reprint von 1926), S. 33 (Übersetzung des Zitats ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  12. Anmerkung: Dort müsste also auch die von L. Spence et al. behauptete Textstelle aller Wahrscheinlichkeit nach zu finden sein, wenn es sie denn gäbe.
  13. Quelle: Ammianus Marcellinus, Res gestae, XXII.16.22, in der Übersetzung ins Englische durch C. D. Yonge; Übers. des Zitats ins Deutsche durch Atlantisforschung.de
  14. Quelle: Dr. Judie Gerber (Hrsg.), "Egyptology", bei: seachild.net - The Official Authorized Website of Ergerton Sykes´ Atlantology (abgerufen: 09.02.2013; Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de) --- Anmerkung: In dieser Quelle findet sich auch der Hinweis: "An den Pyramiden von Gizeh fehlen Inschriften vollständig, zumindest, soweit bisher bekannt, in ihrem Inneren." Jedenfalls wird deutlich, dass die von Ammianus Marcellinus beschriebenen Räume und Gänge mit Inschriften - sofern (und in welchen Gegenden Ägyptens auch immer) sie tatsächlich existieren - in der Antike (noch oder wieder) bekannt waren, um danach bis heute in Vergessenheit zu geraten.
  15. Quelle: Ammianus Marcellinus, Res gestae, XXII.15.30, in der Übersetzung ins Englische durch C. D. Yonge; Übers. des Zitats ins Deutsche durch Atlantisforschung.de
  16. Quelle: Ammianus Marcellinus, Res gestae, XXII.8.18-19, in der Übersetzung ins Englische durch C. D. Yonge; Übers. des Zitats ins Deutsche durch Atlantisforschung.de


Bild-Quellen

(1) Wikimedia Commons, unter: File:Ancient Roman road of Tall Aqibrin.jpg (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)

(2) Wikimedia Commons, unter: File:Ammianus Marcellinus 1533.jpg

(3) Webseite "Violations towards a new history" (nicht mehr online)

(4) Wikimedia Commons, unter: File:Weisgerber, Albert - Odpocivajici Amazonky (1913).jpg