Gregor Demm: Atlantis - eine poetische Fiktion? (1904/05)

Abb. 1 Das - digital 'restaurierte' - Frontcover der Broschüre "Ist die Atlantis in Platons Kritias eine poetische Fiktion?" (1904/1905), mit welcher der bayerische Gymnasiallehrer Gregor Demm seinen Schülern das damals 'wissenschaftlich korrekt' gewordene Bild von Atlantis als Erfindung Platons nahelegte

(bb) Ein interessantes atlantologie-historisches Dokument, auf das wir bei Archive.org gestoßen sind, stellt die Broschüre "Ist die Atlantis in Platons Kritias eine poetische Fiktion?" [1] (Abb. 1) dar, welche von dem Lehrer Gregor Demm [2] verfasst und im Rahmen des Programms des Königlich humanistschen Gymnasiums Straubing für das Schuljahr 1904/1905 veröffentlicht wurde.

Dass Demm für die Überschrift seiner immerhin 43 Seiten umfassenden Abhandlung die Form einer Frage wählte, hatte wohl in erster Linie didaktische Gründe: Offenbar wollte er - dies legt auch die Struktur seiner Arbeit nahe - bei den Lesern einen Spannungsbogen aufbauen, um erst ganz zum Schluss seine Conclusio zu präsentieren, die für ihn allerdings schon vor Beginn der Niederschrift festgestanden haben muss:

"Eine Atlantis (und ein Volk der Atlanten), wie sie Pl. schildert, hat es nie gegeben. Was er im >Timaios< und ausführlicher im >Kritias< hierüber erzählt, ist den Hauptzügen nach DICHTUNG, die in Form eines Mythus gekleidet ist. Diese >philosophisch-politische< Dichtung soll die sittliche Idee des platonischen Staatsideals in seiner WIRKLICHEN EXISTENZ dadurch veranschaulichen, daß dem besten Staat ein zweiter, jedoch minderwertiger gegenübergestellt wird, an dem der erstere sein Tüchtigkeit erprobt. Der zweite Staat ist DIE ATLANTIS, EIN UTOPIEN, DAS DER DICHTERPHILOSOPH MIT POETISCHER KRAFT ERSCHUF und reich mit märchenhaften Zügen ausstattete. Um das fremdartige und phantastische Bild mit dem Schein der Wirklichkeit zu umgeben, baute es Pl. angeblich auf historischer Überlieferung auf. Um die Deutlichkeit des Bildes zu erhöhen, verwob er reichlich Anschauungen und Kenntnisse seiner Zeitgenossen in die Erzählung hinein, oft so, daß Wahrheit und Dichtung schwer zu scheiden sind." [3]

Demms "Ist die Atlantis in Platons Kritias eine poetische Fiktion?" ist für all jene, die sich für die Geschichte der Atlantisforschung interessieren, eine nutzbringende Lektüre. So wird in dieser Abhandlung exemplarisch dokumentiert, auf welchem 'akademischen Boden' die als 'fortschrittlich' enpfundene und just zu jener Zeit zum Dogma erhobene Fiktionalitäts-These beruht, d.h. welche Autoren - z.B. Franz Susemihl, Joseph Socher sowie Thomas Henri Martin - und Werke zur diesbezüglichen Meinungsbildung herangezogen wurden. Es wird deutlich, wie die im atlantologischen Kontext relevante Annahme eines uralten Wissens um die Existenz Amerikas nun 'vom Tisch gewischt' wurde, und welche bis in die Gegenwart tradierten Fehleinschätzungen ("Während des Mittelalters ruhte die Atlantisfrage fast vollständig." Demm, S. 8) [4] schon damals als 'gesichertes Wissen' betrachtet wurden.

Letztlich verdeutlicht die Lektüre von Gregor Demms Traktat, dass die gegenwärtig in der konventionellen Altgriechischen Philologie gepflegte Lehrmeinung zur vermeintlichen Fiktionalität des platonischen Atlantisberichts eigentlich 'von gestern' ist, und dass es dort in dieser Hinsicht seit mehr als einhundert Jahren keinen nennenswerten Fortschritt im Erkenntnisprozess gegeben hat.


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Siehe: Gregor Demm, "Ist die Atlantis in Platons Kritias eine poetische Fiktion?", Straubing (C. Attenkofer'sche Buch- u. Kunstdruckerei), 1905
  2. Anmerkung: Über G. Demms Vita konnte der Verfasser bisher nichts in Erfahrung bringen. Gesicherte Informationen zu ihr sind der Redaktion höchst willkommen!
  3. Quelle: Gregor Demm, op. cit., S. 43 (Hervorhebungen durch Demm)
  4. Siehe zur Widerlegung dieses hartnäckigen Irrtums aktuell: Thorwald C. Franke, "Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis", Norderstedt (BoD), 2016, S. 365 - ISBN 978-3-7412-5403-1

Bild-Quelle: