Wunder und Wissenschaft

von unserem Gastautor Walter-Jörg Langbein

Abb. 1 "Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.“ Johann Wolfgang von Goethe (Faust)

"Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.“ - heißt es schon in Goethes Faust. (Abb. 1) Und in der Tat: Religiöse Wunder faszinieren weltweit. So machte zunächst in Indien, dann in aller Herren Länder ein merkwürdiges Phänomen Schlagzeilen. Vor laufenden Kameras und unter den Augen staunender Tempelbesucher tranken da allem Anschein nach leblose Statuen Milch, die ehrerbietig gereicht wurde. Es handelte sich dabei stets um Darstellungen von Ganesa, der bei einigen Sekten als höchster Gott gilt.

Luigi Garlaschelli [1], ein angesehener Forscher [2], der an der Universität Pavia Vorlesungen über trockene Themen wie Steroid-Hormone hält, vernahm von dem Phänomen. Sollte da tatsächlich Übersinnliches geschehen? Sollten verehrte Kunstwerke tatsächlich stellvertretend für einen indischen Gott Opfergaben annehmen? Luigi Garlaschelli wagte eine „Ferndiagnose“, die inzwischen vor Ort von einem Wissenschaftlerteam aus New Delhi bestätigt wurde. Sie mutet profan an: „Die Milch wird über die Kapillarkräfte unter den Körper des Elefanten geleitet, wo sie dann abtropft.

Das Prinzip läßt sich in einem einfachen Experiment nachvollziehen: Man fülle ein Waschbecken mit Wasser, lege ein Handtuch zur Hälfte hinein und lege es zur Hälfte über die Kante des Beckens. So wie die Elefantenfigur Milch vom Löffel saugte, so nimmt das Handtuch Wasser auf und läßt es abtropfen.

Luigi Garlaschelli ist so etwas wie ein Sherlock Holmes, der sich dem Übersinnlichen verschrieben hat. Religiöse Phänomene haben es ihm allem Anschein nach sehr angetan. Als Mitarbeiter des „Italienischen Komitees zur Untersuchung der Behauptungen über paranormale Vorkommnisse“ konnte er vordergründig unerklärliche Geschehnisse verständlich machen. Da sahen heilige Hostien plötzlich aus, als seien sie mit Blut getränkt. Freilich waren sie von einem seltenen Schimmelpilz namens Serratia marcescens (Abb. 2) befallen, der für die Verfärbung verantwortlich war.

Abb. 2 Kolonien von Serratia marcescens in einer Petrischale

Manche vermeintlichen Wunder erwiesen sich gar als Betrug. So hatten findige Tüftler Marienstatuen mit einem Hohlraum im Inneren hergestellt. Der wurde mit Flüssigkeit gefüllt - und trat an den Augen, wo man die Glasur weggelassen hatte, aus. So konnten Statuen salziges Wasser oder Blut „weinen“.

Auch für weltberühmte Blutwunder bietet Luigi Garlaschelli Erklärungen an, die an geschickte Taschenspielertricks erinnern. So wurde St. Januarius anno 305 geköpft. (Abb. 3) Fromme Anhänger fingen sein Blut in einem gläsernen Behältnis auf. Noch heute wird es als heilige Reliquie verehrt. Das ganze Jahr über ist das Blut des Märtyrers geronnen, ein- oder zweimal aber verflüssigt es sich. Für Luigi Garlaschelli gibt es nur eine Erklärung: Irgendwann wurde das Blut durch eine Mischung einfacher Chemikalien ersetzt: Eisenchlorid, Kalk und Kochsalz. Dieses Gemisch sieht in ruhigem Zustand wie geronnenes Blut aus und verflüssigt sich durch Schütteln. Die Ampulle mit der Reliquie wird bei der kirchlichen Zeremonie gedreht, also bewegt. Reicht das aus, um den gewünschten Effekt der „wundersamen Verflüssigung“ zu erzielen?

Ausgetauscht worden sein müßte irgendwann einmal auch das Blut des St. Lorenzo. Immer wenn sich der Todestag des Heiligen - der 10. August - jährt, verflüssigt sich sein als Reliquie verehrtes Blut. Für Luigi Garlaschelli gibt es nur eine Erklärung: das angebliche Blut ist in Wirklichkeit ein Gemisch aus Fetten, Wachsen und roter Farbe. Im kühlen Altarraum erstarrt es in der Ampulle. In der von zahllosen Kerzen erleuchteten Menschenmenge wird es jeden 10. August flüssig, einfach weil es dann deutlich höheren Temperaturen ausgesetzt ist.

Abb. 3 Das Martyrium des Januarius (Gemälde von Girolamo Pesce, ca. 1727)

Immer wieder gelang es dem findigen Sherlock Holmes in Sachen Wunder vermeintliche Mysterien als Trickbetrügereien zu entlarven. In den Fällen St. Januarius und St. Lorenzo unterstellt er ebenso betrügerische Machenschaften, die schon vor Jahrhunderten begangen worden sein müssen. Beweisen konnte er sie bislang noch nicht. Denn aus verständlichen Gründen der Pietät hat man ihm keine Proben der Reliquien zur Verfügung gestellt.

Wer freilich vermutet, Luigi Garlaschelli sei zu einem Kreuzzug gegen das Wunderbare angetreten, irrt. Er sei lediglich neugierig und wolle interessanten Dingen auf den Grund gehen, erklärt er immer wieder. „Der Begriff ‘Übersinnliches Phänomen’ bedeutet schließlich, daß man es mit Dingen zu tun hat, die man mit den bekannten Naturgesetzen nicht erklären kann. Darum sehen wir uns derartige Phänomene an, so genau es geht, und suchen Erklärungen. Wer weiß, vielleicht finden wir dann tatsächlich neue Naturgesetze.“ Der Wissenschaftler sollte einmal das Bildnis der Jungfrau von Guadalupe (Abb. 4) unvoreingenommen unter die Lupe nehmen!

Abb. 4 Das mysteriöse Bild der 'Jungfrau von Guadelupe'

Im Dezember 1531 will der zum Katholizismus konvertierte Juan Diego unweit der heutigen Millionenmetropole Mexico City eine Marienerscheinung erlebt haben. Die Erscheinung trug ihm auf, Blüten - dies es in der Trockenzeit eigentlich gar nicht hätte geben dürfen - zu pflücken und in seinem Umhang dem Bischof zu bringen: als Beweis für die Echtheit der Erscheinung. Als er tat wie ihm geheißen und die Blüten vor dem Bischof ausschüttete, zeigte sich auf seinem Umhang eben jenes Bild der Jungfrau von Guadalupe, das noch heute als heilige Reliquie verehrt wird.

Das Porträt der Jungfrau - 152,24 Zentimeter groß - ist eigentlich eine Unmöglichkeit. Der Stoff, auf dem es sich abzeichnet, ist aus groben Agavefasern gewebt. Er hat gewöhnlich eine Lebensdauer von maximal zwanzig Jahren ... und hätte eigentlich vor rund 450 Jahren zerfallen sein müssen. Auch die „Farben“ selbst hätten eigentlich längst schon völlig verblaßt sein müssen. Dabei kann man nicht einmal feststellen, wie das Bild produziert wurde. Denn gemalt wurde es auf keinen Fall. Weder auf noch in den Fasern findet sich Farbe, Pinselstriche sind auch nicht feststellbar. Nach einer strikten Untersuchung, durchgeführt von Experten der Firma Kodak, ist das Bildnis „dem Wesen nach eine Fotografie“.

Das eigentliche Geheimnis enthüllte Dr. José A. Tonsmann von der Cornell-Universität mit modernster Computertechnologie. Er fotografierte die Pupillen der Jungfrau von Guadalupe und vergrößerte sie auf das 2000fache. Resultat: In ihnen spiegelt sich, erst in der gewaltigen Vergrößerung erkennbar, eine denkwürdige Szene. Der Bischof Zumarrage, im Profil, spricht mit dem Dolmetscher Gonzales. Am Boden kauert Juan Diego, der gerade seinen Mantel ausbreitet. Außerdem sind noch zu sehen: eine Mutter mit Baby auf dem Rücken, ein weiterer Indio und ein kleiner Junge.

Dr. Johannes Fiebag, der sich intensivst mit dem Bildnis auseinandergesetzt hat: „Der Vorgang der Bildentstehung war dabei nicht eine Fotografie im herkömmlichen Sinne. Zum einen fungierte der Umhang Juan Diegos sowohl als Linse auch als Farbfilm, zum anderen blieb das Objekt der Fotografie, nämlich die Mariengestalt, während des Vorgangs unsichtbar.

Dem Auftrag der Erscheinung gemäß wurde am Ort des Geschehens ein Marienheiligtum errichtet. Das „Produkt“ der Begegnung mit der Erscheinung wird von Millionen Menschen angebetet - und ist mit wissenschaftlichen Maßstäben nicht zu erfassen.

Es muß Stätten geben. wo jeder Mensch, wer auch immer es sei, das Übernatürliche in dem Maße, wie Gott es will, mit Händen greifen kann. Es wird aber nie so deutlich geschehen, daß wir nicht mehr frei wären, es zu leugnen.“ schrieb Francois Mauriac über das Wunderbare. Seine Definition trifft auf kaum einen Ort so zu wie auf die Basilika von Guadalupe in Mexiko.


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Red Anmerkung: Luigi Garlaschelli steht der itlienischen CICAP nahe, einer Organisation von so genannten - je nach Sichtweise - "Skeptikern" oder "Pseudoskeptikern". Jedenfalls ist anzuerkennen, dass er als "Debunker" diverse scheinbar 'übersinnliche Phänomene' sehr überzeugend als Hoaxes oder Fehlinterpretationen aufgeklärt hat.
  2. Red. Anmerkung: Zumindest in Einzelfällen sind L. Garlaschellis Ermittlungsergebnisse keineswegs unumstritten, wie z.B. in Sachen "Turiner Grabtuch". Siehe dazu online zwei antagonistische Positionen pro und contra sowie eine mehr oder weniger neutrale Berichterstattung im Magazun DER SPIEGEL.

Bild-Quellen:

1) LeastCommonAncestor bei Wikimedia Commons, unter: File:Kersting - Faust im Studierzimmer.jpg
2) Patho bzw. Brudersohn bei Wikimedia Commons, unter: File:Serratia marcescens.jpg
3) Upload Bot (Magnus Manske) bei Wikimedia Commons, unter: File:Januarius.jpg
4) Katsam bei Wikimedia Commons, unter: File:Virgen de guadalupe1.jpg