Über Atlantis und Amerika

von Lewis Spence (1925)

Abb. 1 Der schottische Mythologe und Atlantisforscher Lewis Chalmber Spence (1874-1955)

Die Überlieferung, dass der Atlantische Ozean das Wrack eines großen Insel-Kontinents birgt, der einst eine blühende Zivilisation aufwies, ist im Geist Tausender tief verwurzelt. Keine Menge wissenschaftlicher Gegenerklärungen scheint in der Lage zu sein, die weltweite Überzeugung von der vormaligen Existenz von Atlantis zu erschüttern. Ich halte diese Überzeugung für natürlich und geradezu instinktiv, aber ich betrachte nicht so wohlwollend die weit verbreitete Vorstellung, Atlantis sei die Mutter aller Zivilisation gewesen. Solch eine Attitüde ist natürlich ebenso unwissenschaftlich wie jene, die Ägypten als fons et origo aller Kultur betrachtet. [1] Die Kultur muss ihre Geburtsstätte unzweifelhaft in irgendeiner Region auf der Erdoberfläche gehabt haben. Doch aus solch einer offensichtlichen Tatsache den Schluss zu ziehen, die gesamte Apparatur der Zivilisation sei von einer atlantidischen, ägyptischen oder irgendeiner anderen singulären Quelle entwickelt worden, bedeutet starrsinnig die Augen vor ihren speziellen und eigenständigen Manifestationen zu verschließen, die aus den Notwendigkeiten der [jeweiligen; d.Ü.] Umwelt erwachsen.

Wenn ich daher sage, dass ich vermute, die Zivilisation sei von dem nun versunkenen Kontinent Atlantis nach Europa getragen worden, so ist dies nicht so zu verstehen, dass jedwede Zivilisation, sondern nur ein bestimmter Typus von ihr aus Atlantis ins frühe Europa gebracht wurde. Die atlantidische Hypothese wird nichts dadurch gewinnen, dass sie ins Extrem getrieben wird, oder durch die Aufmerksamkeiten von Spinnern. Wenn sie es denn wert ist, untersucht zu werden, so ist sie es wert, auf gesunde Weise [orig.: "sanely"; d.Ü.] geprüft zu werden.

Abb. 2 Das Front-Cover einer Ausgabe von Lewis Spences "Atlantis in America" aus dem Jahr 1981 [2]

Gelang es dem atlantischen Kultur-Typus in frühen Zeiten die Küsten Amerikas so wie jene Europas zu erreichen? Ich meine, dass sie es tat. Ich kann jedoch die Erklärungen einiger enthusiastischen Altertumsforscher nicht glauben, dass sie amerikanischen Boden einige Jahrtausende vor der christlichen Ära erreichte. Wenn das langwierige Studium der Zivilisations-Bedingungen im präkolumbischen Amerika aus meiner Sicht eines klarer gemacht hat als alles andere, dann dass die Kultur des Volkes der Maya in Mittelamerika, welche vermutlich die ehrwürdigste auf amerikanischem Boden war, im Gebiet ihrer frühesten Siedlungen keinen Zeiten zugeordnet werden kann, die älter sind als das zweite Jahrhundert vor der christlichen Ära.

Solch einer Theorie Substanz zu geben wie jener, die das Vordringen atlantidischer Kultur auf den amerikanischen Kontinent betrifft, ist natürlich eine Angelegenheit von überragender Schwierigkeit. Zum ersten behandeln wir hier eine Kultur, die nicht durch erhalten gebliebene materielle Relikte fassbar ist. Wieder und wieder müssen wir auf Analogien und Mutmaßungen zurückgreifen. Eine ganze Literatur, bemerkenswert ob ihrer Interessantheit, Gelehrsamkeit und ihres Scharfsinns, hat sich zu diesem Thema herausgebildet. Vieles davon ist verurteilt worden, und manches zu Recht, wie die phantastischen Ergüsse verantwortungsloser Gebildeter. Andererseits haben diejenigen, welche die Hypothese am ungnädigsten kritisiert haben, zu oft jenen Glauben an die Skepsis [orig.: "credulity of incredulity"; d.Ü.] an den Tag gelegt, der seine Spuren so unauslöschlich in der viktorianischen Wissenschaft hinterlassen hat.

Auf diesen Seiten habe ich es unternommen, die Beweise und Evidenzen für die Theorie zu sammeln, dass von jener heute überfluteten Landmasse, die sowohl in der Überlieferung als auch in der Geologie als Atlantis bekannt ist, die Anfänge eines bestimmten Typs von Kultur nach Amerika wie auch nach Europa übermittelt wurden. Beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnis kann der präzise Wert der kulturellen Schuld, in welcher das präkolumbische Amerika bezüglich Atlantis steht, nicht gut eingeschätzt werden. Doch es muss wohl kaum betont werden, dass der Annahme einer solchen Transferenz wohl kaum einen vernünftigen Geist zu empfehlen wäre, es sei denn, es wäre bereits sehr offensichtliches und auffallendes Beweismaterial vorhanden, das es zwingend macht, die Aufmerksamkeit darauf zu richten.

Solches Material existiert [tatsächlich], doch unser Wissen über aboriginale amerikanische Zivilisation ist derzeit noch so unvollständig, dass wir uns unseren Weg nur mühsam im Licht von ein paar gut nachgewiesenen Fakten, durch einen Dämmer von Wahrscheinlichkeiten hindurch ertasten können, in dem viel von dieser Szenerie ein wenig schemenhaft ist. Doch wenn sich unsere Sehkraft besser an das Zwielicht dieser obskuren Atmosphäre gewöhnt, erhalten die Umrisse der erkannten Dinge schärfere Konturen, und zu gegebener Zeit mögen sie uns vielleicht vollständig enthüllt werden.


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Lewis Spence (1874-1955) wurde seinem 1925 erstveröffentlichten Buch "Atlantis in America" [3] entnommen, wo der Originaltext als Beginn (S. 13-14) des 1. Kapitels ("Atlantis and Antillia") zu finden ist. Übersetzung ins Deutsche und redaktionelle Bearbeitung durch Atlantisforschung.de nach dem Reprint des Werks bei THE BOOK TREE (2002) [4].

Fußnoten:

  1. Red. Anmerkung: Siehe dazu bei Atlantisforschung.de die Beiträge: "Hyperdiffusionismus" (red) und "Heliozentrismus" (red)
  2. Siehe: Lewis Spence, "Atlantis in America", Santa Fe - New Mexico (Sun Pub. Co.), 1981
  3. Siehe: Lewis Spence, "Atlantis in America", London (Ernest Benn Limited), 1925
  4. Siehe: Lewis Spence, "Atlantis in America", San Diego - Kalifornien (The BookTree), 2002

Bild-Quellen:

1) Rebecca Bird (Uploaderin) bei Wikimedia Commons, unter: File:Lewis Spence writer.png
2) Sun Pub. Co. (Santa Fe, New Mexico) via AbeBooks.co.uk / Bild-Archiv Atlantisforschung.de