Anthropologie im Umbruch

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Ein neuer Fund aus Denisova hält die Genetiker im Atem

von Dr. Dominique Görlitz

Abb. 1 Der Denisova-Mensch hatte vor ungefähr einer Million Jahren gemeinsame Vorfahren mit modernen Menschen und Neandertalern (Schädel links). Er könnte gewissermaßen ein 'Ableger' des Homo heidelbergensis (Schädel rechts) gewesen sein.

Eine der wichtigsten Fragen der Menschenforschung ist, wann und wo der moderne Mensch entstand und wie es ihm gelang, sich von seinem Menschwerdungszentrum Afrika um die ganze Welt auszubreiten. Die Paläoanthropologie ist durch neue Fossilienfunde in der Lage, die Ausbreitung der Hominiden aus Afrika ziemlich genau zu rekonstruieren (Wood & Richmond, 2000). Eine neue Studie des Max-Plank Instituts für evolutionäre Anthropologie (Abb. 2) an der Universität Leipzig erbringt nun weitere Hinweise für die genetische Vielfalt unserer frühesten Vorfahren.

Erneut scheint sich damit abzuzeichnen, dass die Entwicklungsgeschichte des Menschen deutlich komplexer abgelaufen ist, als bisher angenommen wurde: Es ist offenbar mehrfach zu Aufspaltungen und späteren Wiedervereinigungen von menschlichen Linien gekommen. Wieder richtet sich der Blick auf Eurasien, wo in den letzten Jahren völlig neue Funde gemacht wurden. Einer dieser Hotspots der frühen Menschwerdung heißt heute Denisova. Über die gleichnamigen Denisova-Menschen, die vor etwa 40.000 Jahren im Süden von Sibirien lebten, ist immer noch nicht viel bekannt. Alle wissenschaftlichen Nachweise stammen aus der Denisova-Höhle in Sibirien, genauer gesagt im Altai, einem mittelasiatischen Hochgebirge in der Grenzregion zwischen Russland, Kasachstan, der Mongolei und China. Dort fanden die Forscher bei Ausgrabungen immer wieder kleine Fragmente: ein Fingerglied eines Mädchens und zwei Backenzähne eines anderen Mädchens. DNS-Untersuchungen zeigen nun: Die Denisovanerinnen gehören zu einer eigenen Menschen-Art, die offenbar auch Kontakt zu anderen Arten wie dem Neandertaler hatte (Claudia Pupo Almaguer). Viviane Slon, MPI für evolutionäre Anthropologie Leipzig, Haupt-Autorin einer aktuellen Studie [1], fasst zusammen:

Abb. 2 Das Hauptgebäude des Max-Plank Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig

Aus früheren Studien wussten wir bereits, dass Neandertaler und Denisovaner gelegentlich Nachwuchs miteinander gezeugt haben, doch ich hätte nie gedacht, dass wir so viel Glück haben könnten, auf einen direkten Nachkommen der beiden Gruppen zu stoßen“. Bis vor gut 40.000 Jahren lebten beide Hominiden-Gruppen in Eurasien - die Neandertaler im Westen und die Denosivaner im Osten. Den Forschungsergebnissen zufolge kam es dabei mehr als einmal zu Vermischungen. Dabei zeigen die Funde in der Denisova-Höhle: Die Denisova-Menschen müssen die Höhle in einem Zeitraum von 50.000 bis vielleicht sogar 100.000 Jahren immer wieder aufgesucht haben. Und mehr als einmal müssen sie dort oder in der Nähe auf Neandertaler getroffen sein und sich mit ihnen vermischt haben.

Der neue Fund von Denisova untermauert damit, was noch vor zwei Jahrzehnten in der Anthropologie als (fast) undenkbar galt: Dass sich zwei unterschiedliche Menschenarten untereinander kreuzen konnten! Diese neue genetische Untersuchung bringt damit weitere Argumente für die vielfältigen verwandtschaftlichen Beziehungen und Wanderungsprozesse der Frühmenschen, die sich vermutlich sowohl in als auch außerhalb Afrikas immer wieder gekreuzt und damit altsteinzeitliche Merkmale in den Genpool des modernen Menschen eingemischt haben. „Es ist schon beeindruckend, dass sich unter den wenigen Genomen früher Menschen, die wir bis jetzt sequenziert haben, dieses Neandertaler-Denisovaner-Kind befindet. Neandertaler und Denisovaner hatten vielleicht nicht viele Gelegenheiten einander zu treffen. Aber wenn sie aufeinandergetroffen sind, müssen sie relativ häufig Kinder miteinander gezeugt haben – viel öfter als wir bisher dachten“, so Svante Pääbo, der Direktor der Abteilung für Evolutionäre Genetik am MPI Leipzig.

Damit gerät die restlose Verdrängung aller Frühmenschenformen (Verdrängungsmodell) durch eine kleine Homo sapiens-Gruppe aus Afrika mehr und mehr ins akademische Hintertreffen. Die Anthropologie öffnet sich damit wieder älteren Anschauungen, dass die letzte Phase der Evolution desmodernen Menschen nicht allein einer Einwanderung einer genetischen „Ur-Eva“ aus Afrika zugeschrieben werden kann. Vielmehr tragen wir modernen Menschen als „Überlebende“ einer mehreren hunderttausend Jahre währenden Evolution das Vermächtnis mehrerer Frühmenschen-Linien in uns. Das völlige Aussterben älterer Menschenarten ist möglicherweise nicht auf Verdrängung dieser Linien zu zuschreiben, sondern darauf, dass diese Altmenschenformen in immer wieder neueren Linien des Menschen eingekreuzt und somit aufgenommen worden sind. Sicherlich war Afrika das Menschwerdungszentrum, aber eben nicht das alleinige, wie man es vor wenigen Jahren noch an führenden Universitäten lehrte. Diese Entdeckung hat nicht nur umwälzende Konsequenzen für die Urgeschichtsforschung, sondern auch für das Studium der psychisch-mentalen Fähigkeiten jener Frühmenschen. [2] Sie untermauert, dass bereits die Vorfahren des modernen Menschen zu hohen geistigen Leistungen und Fernwanderungen in der Lage waren (Görlitz & Wirth, 2006).


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Dr. Dominique Görlitz () wurde von ihm am 27. August 2018 für Atlantisforschung.de verfasst (Publikation: 28. Aug. 2018).

Literatur

  • Wood, B. & Richmond, B.G. (2000): Human evolution: taxonomy and paleobiology. Journal of Anatomy 197:19-60.
  • Pupo Almaguer, Claudia (2018), "Mutter Neandertaler, Vater Denisovaner (MDR Wissen); abgerufen am 27.08.2018 um 18.15 Uhr
  • Görlitz, D. & Wirth, K.-H. (2006): Mit dem Schilfboot durch das Sternenmeer – Das Schilfboot kreuzt entlang uralter Himmelsrouten durch das Mittelmeer. Eigenverlag, Chemnitz.

Fußnoten:

  1. Siehe: Viviane Slon, Fabrizio Mafessoni, Benjamin Vernot, Cesare de Filippo, Steffi Grote, Bence Viola, Mateja Hajdinjak, Stéphane Peyrégne, Sarah Nagel, Samantha Brown, Katerina Douka, Tom Higham, Maxim B. Kozlikin, Michael V. Shunkov, Anatoly P. Derevianko, Janet Kelso, Matthias Meyer, Kay Prüfer, Svante Pääbo, "The genome of the offspring of a Neandertal mother and a Denisovan father", in: Nature, 22. August 2018, DOI: 10.1038/s41586-018-0455-x
  2. Red Anmerkung: Siehe dazu auch: William R. Corliss, "Entwicklung und Verbreitung prähistorischer Wissenschaft"

Bild-Quellen:

1) Max-Planck-Gesellschaft, nach: "New ancestor? Scientists ponder DNA from Siberia", 24. März 2010, bei phys.org
2) Janwo bei Wikimedia Commons, unter: File:Leipzig MPI-EVA.JPG (Lizenz: Creative-Commons, „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ )