Atlantis, Beringstraßen-Paradigma und Paläo-Anthroplogie in der UdSSR

Abb. 1 Die herrschende Lehrmeinung in den USA und Westeuropa unterstellt, die Erstbesiedlung Amerikas sei ausschließlich, wie hier abgebildet, via Beringstraße, und erst am Ende der jünsten Eiszeit erfolgt. In der UdSSR sahen Wissenschaftler das anders.

(bb) Ein zentraler, für die Verfechter der klassischen Atlantis-Theorie vitaler, Punkt, in dem sowjetische Atlantologen Flankenschutz von Wissenschaftlern aus dem Bereich der Paläo-Anthropologie bekamen, war die Ablehnung das sogenannten 'Beringstraßen-Paradigma' zur rezenten Besiedlung Amerikas in Forscher-Kreisen der UdSSR. Während die Behauptung, der amerikanische Doppelkontinent sei erstmals gegen Ende der jüngsten Eiszeit von Großwild jagenden Nomaden besiedelt worden, die ihn von Sibirien aus über eine damals noch überseeische Beringstraße betraten (Abb. 1), unter US-Anthropologen Mitte des vergangenen Jahrhunderts bereits den Charakter einer Gebetsformel annahm [1], galt sie in der Sowjetunion als höchst umstritten.

So wies Zhirov 1970 darauf hin, dass auf der sibirischen Seite der Beringstraße keine relevanten Spuren der vermeintlichen Wanderungen 'steinzeitlicher' Großwildjäger zu finden seien: "Man muss die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass in Ost-Sibirien bisher keine paläolithischen Lager-Plätze entdeckt wurden. E. A. Abramova [2] berichtet, dass Mount Afontova (radiokarbon-datiert auf ein Alter von nur 20 000 Jahren) die älteste Siedlung in Ostsibirien ist. Doch Lagerstätten selbst diesen Alters würden östlich des Yenisei (d.h. von Mount Afontova) fehlen, was auch für die Halbinsel Chukotka gilt, über welche der Theorie zur Besiedlung Amerikas via Asien, die Migration verlief. Darüber hinaus wurden die ältesten Lager-Plätze im Gebiet der Bering-See nicht auf dem Kontinent entdeckt, sondern auf den Aleuten-Inseln bei Alaska; sie wurden auf ein Alter von nur 8425 Jahren datiert. [3] [...] Es ist zweifelhaft, ob es vor 10 000 bis 14 000 eine große Migrationswelle über Alaska gab, als das Klima dort so kalt war, dass selbst die Tundra-Zwergbirke ausstarb. In Alaska existierte die Tundra schon seit einer sehr langen Zeit [4], deren Beginn [festzustellen] außerhalb der Möglichkeiten der Radiokarbon-Methode liegt." [5]

Zhirov kann auch Kritik am Beringstraßen-Modell von Wissenschaftlern aus den USA anführen: "Nach einer genauen Untersuchung der tatsächlichen Bedingungen, die während der Eiszeit und den Interglazialen in Alaska und Ost-Sibirien herrschten, haben L. A. Brennan, T. N. Lee, F. Rainey [zu ihm später mehr; bb], P. Tolstoy, C. S. Shard und andere amerikanische Anthropologen jetzt auf die großen Härten dieser Route hingewiesen, die erst nach dem völligen Abschmelzen der Gletscher beiderseits der Straße zugänglich war." [6] Das wissenschaftliche Establishment in den Vereinigten Staaten zeigte sich jedoch sowohl paläo-klimatischen Argumenten als auch harten archäologischen Evidenzen gegenüber als unempfindlich.

In der sowjetischen Anthropologie registrierte man dagegen aufmerksam, was die Kollegen beim "Klassenfeind" alles aus amerikanischer Erde gruben, und man kam auch hier nicht selten zu völlig anderen Ergebnissen als die Amerikaner. Zhirov kann mit dieser Rückendeckung gelassen das konstatieren, was festzustellen in den USA jeden Fachwissenschaftler ins berufliche Abseits beförderte (siehe dazu z.B.: "Sie finden doch da unten nicht wirklich etwas?" - Thomas E. Lee´s unerwünschte Entdeckungen (bb); sowie: Beringstraßen-Theorie und indianische Überlieferungen von Itztli Ehecatl); er konnte nämlich feststellen, dass die ältesten Fundstätten menschlicher Relikte in Amerika tatsächlich weitaus älter sind, als dies mit dem Beringstraßen-Paradigma und mit seinem 'Temporalen Limes' zur Erst-Besiedlung des Doppelkontinents vereinbar ist:

"Durch Radiokarbon-Datierungen hat man herausgefunden, dass die ältesten Lager-Plätze des Menschen in Nordamerika mehr als 25 000 Jahre alt sind. Gegenwärtig wissen wir von mindestens drei derart alten Stätten: 1) nahe Louisville, Texas - älter als 37 000 v. Chr.; 2) auf der Insel Santa Rosa, Kalifornien - etwa 28 000 v. Chr.; und 3) bei Tule Springs, Nevada - zwischen 28 000 und 33 000 v. Chr. [7]. Selbst noch ältere Stätten, deren Altersbestimmung außerhalb der Möglichkeiten der Radiokaron-Datierung liegt, sind auf der Insel Santa Rosa [8]. Eine anderer Lagerplatz mit einem Alter von mehr als 30 000 Jahren ist unlängst bei Pueblo, Mexiko, ans Licht gekommen. In Illinois wurden einige Stein-Geräte gefunden, die in etwa auf ein Alter von 35 000 bis 40 000 Jahren datiert wurden." [9]

Zur 'wissenschaft-offiziellen' Einschätzung des Themas in der Sowjetunion (die natürlich auch nicht einheitlich war) bemerkt er: "I. K. Ivanova berichtet [10], dass der 7. Kongress der INQA zur allgemeinen Auffassung gelangte, dass der Mensch vor 15 000 bis 20 000 Jahren auftrat, d. h. zu Beginn des Holozäns. E. A. Zamyslova [11] geht dagegen davon aus, dass der Mensch Amerika viel früher erreichte. Um dies zu untermauern, weist sie auf die Entdeckung von fossilen Menschenknochen unter Schichten des Folsom-Typs bei Midland, Texas, hin." [12]

Angesichts dieser Evidenzen und vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Widerlegbarkeit des Beringstraßen-Szenarios einer rezenten, endglazialen Besiedlung Amerikas durch Jäger- und Sammler aus Sibirien, betrachtete Zhirov das faktische 'Denkverbot' des euro-amerikanischen Wissenschaftsbetriebs bezüglich alternativer Modelle, die transatlantische und -pazifische Paläo-Migrationen miteinbeziehen, als inakzeptabel. Bedauernd stellt er dazu fest: "Bisher wird jede andere Route als unwahrscheinlich zurückgewiesen. [...] Was die Möglichkeit angeht, dass Amerika von Osten her, über den Atlantischen Ozean und Atlantis besiedelt wurde, haben die Vorurteile der Amerikanisten jeder Möglichkeit der Existenz von Atlantis gegenüber Studien dazu einigen wenigen Atlantologen überlassen." [13]

Für ihn als interdisziplinär denkenden Forscher, der sowohl den Wissenschaftsbetrieb im kapitalistischen Westen als auch den in der UdSSR kannte, muss der 'Domino-Effekt' voraussehbar gewesen sein, den ein grundlegender Paradigmenwechsel zur Frage der Paläo-Migrationen der Menschheit und die Entwicklung eines neuen Theorems zur wissenschaftlichen Betrachtung paläolithischer Kulturen zwangsläufig auch auf andere verwandte Fächer der Menscheits, Kultur- und Zivilisationsgeschichte ausgeübt haben würde.

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Abb. 2 Zhirov wusste: Selbst wenn die vermuteten Atlanter nicht den kulturellen Entwicklungsstand aufgewiesen haben sollten, den Platon ihnen in seinem Bericht zuschrieb, würde der definitive Nachweis ihrer vormaligen Existenz sämtliche gängigen Vorstellungen zur Paläohistorie über den Haufen werfen.

Zhirov war sich dessen wohlbewußt, denn er hob hervor: "Selbst wenn wir annehmen, dass auf Atlantis keine Zivilisation existierte, wie sie von Platon beschrieben wurde, und dass das Volk, welches es bewohnte, auf der selben Stufe primitiver Barbarei stand wie der Rest der Menschheit, ist bereits die Existenz von Atlantis als geologisch rezente geographische Entität für sich genommen von ungeheurer wissenschaftlicher Bedeutung. Darüber hinaus spielte Atlantis als Landbrücke zwischen der Alten und der Neuen Welt selbst dann eine bemerkenswerte Rolle für die menschliche Migration, wenn es in der Epoche existierte, als sich der intelligente Mensch gerade erst entwickelte (vor 30 000 bis 100 000 Jahren)." [14]

Man muss sich in der Tat die völlige Unvereinbarkeit des isolationistischen Besiedlungs-Szenario mit einem vermuteten 'Bottleneck' Beringia als einzigem und nur zeitweiligem Zugang zum amerikanischen Doppelkontinent, wie sie vor allem von der Establishment-Wissenschaft in den USA propagiert wurde, und den experimentellen atlantologischer Modellen mit ihrem diffusionistischen Charakter vor Augen halten, um die mehr als scharfe Ablehnung eines weit prähistorischen 'Atlantis im Atlantik' seitens westlicher Schulwissenschafler nachvollziehen zu können. Die Modelle, bei denen denen vermutete - heute versunkene - Landgebiete - insbesondere Inseln und Inselgruppen - im panatlantischen Großraum im als 'Spungbretter', als 'Relais-Stationen' für späteiszeitiche und holozäne Migrationen über den Ozean hinweg und als kultureller 'Schmelztiegel' einer Abfolge prähistorischer Seefahrer-Kulturen auf dem Atlantik dienten.

Da Zhirov im Jahr 1070 verstarb - nicht lange nach der englischsprachigen Veröffentlichung der finalen Fassung seines Opus ("Atlantis - Atlantology: Basic Problems") beim Staatsverlag Progress-Publishers in Moskau - konnte er nicht mehr mitverfolgen, wie seine paläö-anthropologischen Kernaussagen (1. Das Beringstraßen-Paradigma ist widerlegt; 2. Amerika wurde schon weitaus früher vom Menschen besiedelt als von der westlichen Forschung vorausgesetzt) in den folgenden Jahren durch immer neue archäologische Entdeckungen für kritische Geister zur unumstößlichen Gewissheit wurde. (Siehe dazu auch: Die Besiedlungsgeschichte Amerikas und das Atlantis-Problem)

Es war Zhirov auch nicht vergönnt, die weitere Entwicklung der Atlantisforschung in der UdSSR mitzuerleben, die bis weit in die 1980er Jahre hinein offenbar ganz in seinem Sinne verlief. Unter den spezifischen wissenschaftshistorischen Bedingungen in der Sowjetunion vermochte es die, von ihm als "interdisziplinäre Verbund-Wissenschaft" charakterisierte und vorbildlich repräsentierte, Richtung moderner Atlantisforschung offenbar, sich in der dortigen 'Welt der Wissenschaft' zumindest als tolerable Randerscheinung längerfristig zu etablieren. Nicht geringen Anteil an diesem Phänomen hatten vermutlich auch diverse krypto-archäologische Tiefsee-Funde im Atlantik, die von Zeit zu Zeit durch Schiffe der sowjetischen Forschungs-Flotte - damals die größte der Welt - gemeldet wurden. Die wenigen Informationen dazu, die bisher zur Verfügung stehen, stellen wir im folgenden Teil dieser Abhandlung vor.

Fortsetzung:

Gab es atlantologische Ergebnisse sowjetischer Feldforschung?


Anmerkungen und Quellen

  1. Siehe dazu auch die Beiträge in unserer Rubrik: Farewell, Clovis! - Vom langsamen Sterben eines Paradigma
  2. Siehe: Z. A. Abramova (1966), "Lokalniye osobennosti paleoliticheskikh kultur Sibiri" ("Local Features of Siberian Paleolithic Cultures"), Seventh International Congress of Prehistorians and Protohistorians, Papers and Communications by Soviet Archaeologists, Moskau, S. 46-55
  3. Siehe: R. F. Black u. W. S. Langbein (1964), "Anangula: A Geologic Interpretation of the Oldest Archaeologic Sites on the Aleutians", Science 143, S. 1321-1322
  4. Siehe: P. Colinvaux, (1964) "Origin of Ice Ages; Pollen Evidence from Arctic Alaska", Science, 145, No. 3433, S. 707-708
  5. Quelle: N. Zhirov, "Atlantis - Atlantology: Basic Problems", Progress Publishers, Moskau, 1970 [Englischsprachige Orig. Ausg. 1968], S. 353
  6. Quelle: ebd., S. 352
  7. Siehe: L. A. Brennan, "No Stone Unturned. An Almanac of North American Prehistory", New York, 1959
  8. Siehe: R. Berger, Orr. Ph. C., "The Fire Areas of Santa Rosa", California, 1966 in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, 56, 1678, 1682
  9. Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. 352
  10. Siehe: I. K. Ivanova, "Voprosy arkheologiı i istorii iskopayemogo cheloveka na VII kongresse" ("Problems of Archaeology and the History of Fossil Man at the 7th Congress"), 7. Kongress der INQA, Moskau, 1967
  11. Siehe: E. A. Zamyslova, "Drevniy chelovek v Severnoi Amerike (obzor literatury)" ["Ancient Man in North America (Review of Literature)"], in: Bulletin of the Commission for the Study of the Quaternary Period, 1967, No. 34, S. 107-119
  12. Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. 352
  13. Quelle: ebd., S. 354
  14. Quelle: ebd., S. 17


Bild-Quellen

(1) The University of North Carolina at Chapel Hill - RESEARCH LABORATORIES of ARCHAEOLOGY, unter: http://rla.unc.edu/lessons/Lesson/L301/L301.htm

(2) http://www.civilization.ca/archeo/hnpc/images/npvol01b.jpg (Seite nicht mehr online)