Atlantis in Karthago - Die Lokalisierung des Victor Bérard: Unterschied zwischen den Versionen

K
 
(6 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
[[Bild:Victor_Berard.jpg|thumb|'''Abb. 1''' Der französische Homerist Victor Bérard vermutete Anfang des 20. Jahrhunderts, dass Atlantis mit Karthago identisch sei.]]
+
[[Bild:Victor_Berard.jpg|thumb|220px|'''Abb. 1''' Der französische Homerist Victor Bérard vermutete Anfang des 20. Jahrhunderts, dass Atlantis mit Karthago identisch sei.]]
  
([[bb]]) Eine moderne Nordafrika-Lokalisierung von [[Atlantis]], die im deutschsprachigen Raum inzwischen völlig in Vergessenheit geraten ist (sofern sie hier jemals zur Kenntnis genommen wurde) stammt von dem französischen [[Homer]]-Forscher Victor Bérard (1864-1931). Ihr heute gegen Null tendierender Bekanntheitsgrad erscheint auf den ersten Blick eigentlich nur schwer nachvollziehbar: Bérard '''(Abb. 1)''' identifizierte nämlich eine recht prominente, antike Metropole mit [[Atlantis]] - das phönizische [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago].  
+
([[bb]]) Eine Nordafrika-Lokalisierung von [[Atlantis]], die im deutschsprachigen Raum inzwischen völlig in Vergessenheit geraten ist (sofern sie hier jemals zur Kenntnis genommen wurde) stammt von dem französischen [[Homer]]-Forscher [https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_B%C3%A9rard Victor Bérard] (1864-1931). Ihr heute gegen Null tendierender Bekanntheitsgrad erscheint auf den ersten Blick eigentlich nur schwer nachvollziehbar: Bérard '''(Abb. 1)''' identifizierte nämlich eine recht prominente, antike Metropole mit [[Atlantis]] - das phönizische [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago].  
  
Wieder einmal ist es einzig [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Lyon Sprague de Camp], der uns mit seinem, 1977 auch in deutscher Sprache erschienenen, Standard-Werk [http://books.google.de/books?id=3YHwFivT-ykC&pg=PP1&dq=Sprague+de+Camp+Lost+Continents+Atlantis Lost Continents] aus dem Jahr 1955 wenigstens ein paar fragmentarische Informationen zu Bérards atlantologischer Arbeit liefert. [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp], hierzulande eher als SF- und Fantasy-Autor bekannt, war u.a. auch ein überaus scharfsinniger und ungemein belesener, bisweilen jedoch zu Engstirnigkeit und Wissenschaftsgläubigkeit neigender [[Atlantologie]]-Historiker und -Kritiker. Im erwähnten, überaus lesenswerten, Buch erging er sich stilvoll darin, die "Atlantisten" (bei ihm eine Sammelbezeichnung für empirische Atlantisforscher jeder Couleur, Märchenerzähler, Atlantisgläubige und Esoteriker) in Bausch und Bogen mit seiner Feder zu sezieren - und die war nicht nur ziemlich spitz, sondern auch scharf wie ein Skalpell.       
+
Wieder einmal ist es einzig [[Lyon Sprague de Camp]], der uns mit seinem, 1977 auch in deutscher Sprache erschienenen, Standard-Werk [http://books.google.de/books?id=3YHwFivT-ykC&pg=PP1&dq=Sprague+de+Camp+Lost+Continents+Atlantis Lost Continents] aus dem Jahr 1955 wenigstens ein paar fragmentarische Informationen zu Bérards atlantologischer Arbeit liefert. [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp], hierzulande eher als SF- und Fantasy-Autor bekannt, war u.a. auch ein überaus scharfsinniger und ungemein belesener, bisweilen jedoch zu Engstirnigkeit und Wissenschaftsgläubigkeit neigender [[Atlantologie]]-Historiker und -Kritiker. Im erwähnten, überaus lesenswerten, Buch erging er sich stilvoll darin, die "Atlantisten" (bei ihm eine Sammelbezeichnung für empirische Atlantisforscher jeder Couleur, Märchenerzähler, Atlantisgläubige und Esoteriker) in Bausch und Bogen mit seiner Feder zu sezieren - und die war nicht nur ziemlich spitz, sondern auch scharf wie ein Skalpell.       
 
   
 
   
 
Bèrard machte er zumindest das Kompliment, seine Theorie sei "''schwieriger zu eliminieren''" als diejenigen anderer Forscher und Autoren. Immerhin, so [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp] großzügig, habe [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] "''von Griechenland aus gesehen in der richtigen Richtung''" gelegen, was man z.B von Kreta nicht sagen könne. Außerdem sei [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] nicht nur, wie das bei [[Platon]] beschriebene [[Atlantis]], eine imperialistische Seemacht gewesen, sondern auch sein städtischer Grundriss '''(Abb. 2)''' lasse sich offenbar mit dem der Atlanter-Hauptstadt vergleichen. Dazu zitiert er - ohne genaue Quellenangabe - Bérard:  
 
Bèrard machte er zumindest das Kompliment, seine Theorie sei "''schwieriger zu eliminieren''" als diejenigen anderer Forscher und Autoren. Immerhin, so [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp] großzügig, habe [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] "''von Griechenland aus gesehen in der richtigen Richtung''" gelegen, was man z.B von Kreta nicht sagen könne. Außerdem sei [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] nicht nur, wie das bei [[Platon]] beschriebene [[Atlantis]], eine imperialistische Seemacht gewesen, sondern auch sein städtischer Grundriss '''(Abb. 2)''' lasse sich offenbar mit dem der Atlanter-Hauptstadt vergleichen. Dazu zitiert er - ohne genaue Quellenangabe - Bérard:  
Zeile 11: Zeile 11:
 
''Die Anlegestellen, die diesen Kanal umgaben, waren durch einen kreisförmigen Kolonadengang überdacht, der von ionischen Säulen getragen wurde. An diesen Docks konnten die größten Kriegschiffe anlegen. Von diesem Hafenbecken ging ein enger Kanal ab, der südlich davon in einen Handelshafen von zirka 400 Metern Länge Mündete. Eine gewaltige Mauer schützte den Eingang zur Seeseite hin und war dazu angetan, Angriffe feindlicher Flotten abzuwehren. Sümpfe umgaben die Landseite. Der Wasserbedarf wurde aus großen Zisternen gedeckt, die auf den benachbarten Hügeln errichtet worden waren und die, so scheint es, gleichzeitig als Bäder genutzt wurden''." <ref>Quelle: Victor Bérard, zit. nach [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp L. Sprague de Camp], [http://books.google.de/books?id=U8pWMQAACAAJ&dq=Sprague+de+Camp+Lost+Continents+Atlantis Versunkene Kontinente], Heyne / 1977, S. 202</ref>
 
''Die Anlegestellen, die diesen Kanal umgaben, waren durch einen kreisförmigen Kolonadengang überdacht, der von ionischen Säulen getragen wurde. An diesen Docks konnten die größten Kriegschiffe anlegen. Von diesem Hafenbecken ging ein enger Kanal ab, der südlich davon in einen Handelshafen von zirka 400 Metern Länge Mündete. Eine gewaltige Mauer schützte den Eingang zur Seeseite hin und war dazu angetan, Angriffe feindlicher Flotten abzuwehren. Sümpfe umgaben die Landseite. Der Wasserbedarf wurde aus großen Zisternen gedeckt, die auf den benachbarten Hügeln errichtet worden waren und die, so scheint es, gleichzeitig als Bäder genutzt wurden''." <ref>Quelle: Victor Bérard, zit. nach [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp L. Sprague de Camp], [http://books.google.de/books?id=U8pWMQAACAAJ&dq=Sprague+de+Camp+Lost+Continents+Atlantis Versunkene Kontinente], Heyne / 1977, S. 202</ref>
  
[[Bild:Karthago_2.jpg|thumb|'''Abb. 2''' Zeichnerische Re- konstruktion von Kartha- go. Tatsächlich besteht eine vage Ähnlichkeit mit Pla- tons Atlantis-Beschrei- bung.]]
+
[[Bild:Karthago_2.jpg|thumb|left|300px|'''Abb. 2''' Zeichnerische Rekonstruktion von Karthago. Tatsächlich besteht eine vage Ähnlichkeit mit Platons Atlantis-Beschreibung.]]
 
   
 
   
 
Tatsächlich lassen sich bei Bérards Beschreibung der nordafrikanischen Phönizier-Metropole gewisse Ähnlichkeiten mit dem 'Stadtplan' von [[Atlantis]] erkennen, wie [[Platon]] ihn uns überliefert hat: Etwa die dreifache Ringstruktur der Wälle (freilich nur partiell und ohne Wasser-Ringe), ein zentraler Wohnsitz für einen Träger der Macht, und der integrierte Hafen- und Werft-Komplex. Aber reicht dies und die eher scherzhaft gemeinte Feststellung, [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] habe, von Griechenland aus gesehen, in der "''richtigen Richtung''" gelegen, bereits aus, um es zur [[Atlantis]]-Kandidatin zu machen?  
 
Tatsächlich lassen sich bei Bérards Beschreibung der nordafrikanischen Phönizier-Metropole gewisse Ähnlichkeiten mit dem 'Stadtplan' von [[Atlantis]] erkennen, wie [[Platon]] ihn uns überliefert hat: Etwa die dreifache Ringstruktur der Wälle (freilich nur partiell und ohne Wasser-Ringe), ein zentraler Wohnsitz für einen Träger der Macht, und der integrierte Hafen- und Werft-Komplex. Aber reicht dies und die eher scherzhaft gemeinte Feststellung, [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] habe, von Griechenland aus gesehen, in der "''richtigen Richtung''" gelegen, bereits aus, um es zur [[Atlantis]]-Kandidatin zu machen?  
  
Wenn wir [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp] richtig interpretieren <ref>Anmerkung: Bérards Arbeit selbst kennt der Verfasser nicht, und bei [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp] kommt nicht immer klar zum Ausdruck, ob er gerade Bérards oder seine eigene Meinung darstellt.</ref>, dann betrachtete Bérard [http://de.wikipedia.org/wiki/Platon Platons] Aufenthalt in [[Syrakus]] auf Sizilien als Erklärung für gewisse Motive und Details der [[Atlantida]], über welche er (Bérard) seine Gleichsetzung der [[Atlantier]]-Hauptstadt mit [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] begründen zu können glaubte. Tatsächlich hatte [[Platon]] insgesamt drei Reisen (389-375 v. Chr.) nach [[Syrakus]] unternommen, das zu dieser Zeit, wie wir heute sagen würden, ein 'heißes Pflaster' war.  
+
Wenn wir [[Lyon Sprague de Camp|Sprague de Camp]] richtig interpretieren <ref>Anmerkung: Bérards Arbeit selbst kennt der Verfasser nicht, und bei [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp] kommt nicht immer klar zum Ausdruck, ob er gerade Bérards oder seine eigene Meinung darstellt.</ref>, dann betrachtete Bérard [[Platon]]s Aufenthalt in [[Syrakus]] auf Sizilien als Erklärung für gewisse Motive und Details der [[Atlantida]], über welche er (Bérard) seine Gleichsetzung der [[Atlantier]]-Hauptstadt mit [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] begründen zu können glaubte. Tatsächlich hatte [[Platon]] insgesamt drei Reisen (389-375 v. Chr.) nach [[Syrakus]] unternommen, das zu dieser Zeit, wie wir heute sagen würden, ein 'heißes Pflaster' war.  
  
[http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp] bemerkt dazu: "''Griechen wie Karthager kolonisierten [http://de.wikipedia.org/wiki/Sizilien Sizilien] und setzten ihr Äußerstes daran, einander zu vertreiben. Der karthagische Chefmagistrat Malchus eroberte 550 v. Chr. nahezu die ganze Insel. Die Kriege dauerten, unterbrochen von Zeiten der Ruhe und lokalen Aufständen, über drei Jahrhunderte hinweg an. Hamilkar gewann die Insel um 480 v. Chr. fast ganz zurück, aber die Streitkräfte von [[Syrakus]] und [http://de.wikipedia.org/wiki/Agrigent Agrigent] schlugen ihn in einer großen Schlacht bei Himera, die fast so entscheidend in der Geschichte der Griechen war wie der griechische Sieg über die Perser bei Salamis im selben Jahr''." <ref>Quelle: [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp L. Sprague de Camp], [http://books.google.de/books?id=U8pWMQAACAAJ&dq=Sprague+de+Camp+Lost+Continents+Atlantis Versunkene Kontinente], Heyne / 1977, S. 202, 203</ref>
+
[[Lyon Sprague de Camp|Sprague de Camp]] bemerkt dazu: "''Griechen wie Karthager kolonisierten [http://de.wikipedia.org/wiki/Sizilien Sizilien] und setzten ihr Äußerstes daran, einander zu vertreiben. Der karthagische Chefmagistrat Malchus eroberte 550 v. Chr. nahezu die ganze Insel. Die Kriege dauerten, unterbrochen von Zeiten der Ruhe und lokalen Aufständen, über drei Jahrhunderte hinweg an. Hamilkar gewann die Insel um 480 v. Chr. fast ganz zurück, aber die Streitkräfte von [[Syrakus]] und [http://de.wikipedia.org/wiki/Agrigent Agrigent] schlugen ihn in einer großen Schlacht bei Himera, die fast so entscheidend in der Geschichte der Griechen war wie der griechische Sieg über die Perser bei Salamis im selben Jahr''." <ref>Quelle: [[Lyon Sprague de Camp]], [http://books.google.de/books?id=U8pWMQAACAAJ&dq=Sprague+de+Camp+Lost+Continents+Atlantis Versunkene Kontinente], Heyne / 1977, S. 202, 203</ref>
  
[http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp] bzw. Bérard mutmaßen nun, "''[[Platon]] könnte aus erster Hand von der karthagischen Bedrohung bei seinen Besuchen in [[Syrakus]] erfahren haben. Die luxuriöse und habsüchtige Lebensweise der punischen Kaufmannsaristokratie (oder, um fair zu sein, die luxuriöse und habsüchtige Lebensweise, die ihnen von ihren griechischen und römischen Feinden nachgesagt wurde) könnte sich in der Beschreibung derselben Untugenden in [[Atlantis]] niedergeschlagen haben.''" <ref>Quelle: ebd.</ref>
+
[[Lyon Sprague de Camp|Sprague de Camp]] bzw. Bérard mutmaßen nun, "''[[Platon]] könnte aus erster Hand von der karthagischen Bedrohung bei seinen Besuchen in [[Syrakus]] erfahren haben. Die luxuriöse und habsüchtige Lebensweise der punischen Kaufmannsaristokratie (oder, um fair zu sein, die luxuriöse und habsüchtige Lebensweise, die ihnen von ihren griechischen und römischen Feinden nachgesagt wurde) könnte sich in der Beschreibung derselben Untugenden in [[Atlantis]] niedergeschlagen haben.''" <ref>Quelle: ebd.</ref>
  
[[Bild:Karthago_3.jpg|thumb|'''Abb. 3''' Eine karthagische Münze aus dem 4. Jahr- hundert vor Christus]]
+
[[Bild:Karthago_3.jpg|thumb|300px|'''Abb. 3''' Eine karthagische Münze aus dem 4. Jahrhundert vor Christus]]
  
Natürlich trafen diese Untugenden nicht nur auf Karthager, sondern auch auf Römer, Perser und nicht zuletzt auch auf die Hellenen selber zu, deren Stadtstaaten nur dann nicht in Permanenz übereinander herfielen, wenn auswärtige Invasoren und Konkurrenten ihnen keine Zeit dazu ließen. Warum sollte [[Platon]] sich bei seiner Kritik also gerade auf 'karthagische Verhältnisse' bezogen haben? Auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp] musste die Schwäche der Analogie zwischen [[Atlantis]] und [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] natürlich auffallen und er stellt fest: "''Andererseits war Karthago eine Republik (nicht ein Königreich, wie [[Atlantis]]), und zu Platons Zeiten war kein Gedanke an sein Verschwinden, im Gegenteil, es war noch dabei, an Macht zu gewinnen.''"  
+
Natürlich trafen diese Untugenden nicht nur auf Karthager, sondern auch auf Römer, Perser und nicht zuletzt auch auf die Hellenen selber zu, deren Stadtstaaten nur dann nicht in Permanenz übereinander herfielen, wenn auswärtige Invasoren und Konkurrenten ihnen keine Zeit dazu ließen. Warum sollte [[Platon]] sich bei seiner Kritik also gerade auf 'karthagische Verhältnisse' bezogen haben? Auch [[Lyon Sprague de Camp|Sprague de Camp]] musste die Schwäche der Analogie zwischen [[Atlantis]] und [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] natürlich auffallen und er stellt fest: "''Andererseits war Karthago eine Republik (nicht ein Königreich, wie [[Atlantis]]), und zu Platons Zeiten war kein Gedanke an sein Verschwinden, im Gegenteil, es war noch dabei, an Macht zu gewinnen.''"  
  
Man mag zunächst versucht sein, [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camps] ersten Punkt zurückzuweisen. Schließlich war [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago], das um etwa 850 v. Christus von der Tyrer-Prinzessin Elissa gegründet wurde, bei seiner Entstehung noch eine Monarchie (Elissa, besser bekannt unter dem Namen '[http://de.wikipedia.org/wiki/Dido_(Antike) Dido]', eine Tochter König Muttons I. von [http://de.wikipedia.org/wiki/Tyros Tyros] hatte sich der Überlieferung nach mitsamt Gefolge vom heimatlichen Hof abgesetzt, um der Tyrannei ihres Bruders [http://de.wikipedia.org/wiki/Pygmalion Pygmalion] zu entfliehen). Trotzdem liegt gerade in der Entstehungsgeschichte Karthagos ein weiteres, schwerwiegendes Argument gegen Bérards [[Atlantis]]-Lokalisierung.
+
Man mag zunächst versucht sein, [[Lyon Sprague de Camp|Sprague de Camps]] ersten Punkt zurückzuweisen. Schließlich war [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago], das um etwa 850 v. Christus von der Tyrer-Prinzessin Elissa gegründet wurde, bei seiner Entstehung noch eine Monarchie (Elissa, besser bekannt unter dem Namen '[http://de.wikipedia.org/wiki/Dido_(Antike) Dido]', eine Tochter König Muttons I. von [http://de.wikipedia.org/wiki/Tyros Tyros] hatte sich der Überlieferung nach mitsamt Gefolge vom heimatlichen Hof abgesetzt, um der Tyrannei ihres Bruders [http://de.wikipedia.org/wiki/Pygmalion Pygmalion] zu entfliehen). Trotzdem liegt gerade in der Entstehungsgeschichte Karthagos ein weiteres, schwerwiegendes Argument gegen Bérards [[Atlantis]]-Lokalisierung.
  
 
Hat doch das, was wir im [[Timaios]]-Dialog über die Ursprünge von [[Atlantis]] erfahren, so gar nichts mit der Gründung der nordafrikanischen Punier-Metropole gemeinsam: Hier der patriarchale Poseidon mit seinem Schöpfungsakt aus eigenem Willen, dort die matriarchale Figur der [http://de.wikipedia.org/wiki/Dido_(Antike) Dido], die sich im Exil gezwungenermaßen eine neue Heimat aufbauen muss - zwei völlig unter-schiedliche Motive, die nichts miteinander zu tun haben. Zudem war die Gründung [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthagos] für [[Platon]] und seine hellenischen Zeitgenossen keineswegs eine mythisch verbrämte, 'vorsintflutliche' Angelegenheit. Während der [[Atlantis-Komplex]] ihren völlig unbekannt war ([[Solon]] und [[Platon]] importierten die Kunde von [[Atlantis]] schließlich aus Ägypten), dürfte der Ursprung der wichtigsten Punier-Städte gebildeten Hellenen durchaus nicht unbekannt gewesen sein.   
 
Hat doch das, was wir im [[Timaios]]-Dialog über die Ursprünge von [[Atlantis]] erfahren, so gar nichts mit der Gründung der nordafrikanischen Punier-Metropole gemeinsam: Hier der patriarchale Poseidon mit seinem Schöpfungsakt aus eigenem Willen, dort die matriarchale Figur der [http://de.wikipedia.org/wiki/Dido_(Antike) Dido], die sich im Exil gezwungenermaßen eine neue Heimat aufbauen muss - zwei völlig unter-schiedliche Motive, die nichts miteinander zu tun haben. Zudem war die Gründung [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthagos] für [[Platon]] und seine hellenischen Zeitgenossen keineswegs eine mythisch verbrämte, 'vorsintflutliche' Angelegenheit. Während der [[Atlantis-Komplex]] ihren völlig unbekannt war ([[Solon]] und [[Platon]] importierten die Kunde von [[Atlantis]] schließlich aus Ägypten), dürfte der Ursprung der wichtigsten Punier-Städte gebildeten Hellenen durchaus nicht unbekannt gewesen sein.   
  
[http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] war schlichtweg nicht alt genug, um mit [[Atlantis]] identisch zu sein! Schließlich wissen wir heute recht genau, wann das historische Vorbild von Platons Ur-Athen tatsächlich existierte. Am Nordhang des Akropolisfelsens entdeckten Archäologen bei Ausgrabungen nämlich genau die Anlagen, die [[Platon]] im [[Kritias]]-Dialog ausführlich beschrieben hat: "''Zunächst war die [http://de.wikipedia.org/wiki/Akropolis_(Athen) Akropolis] damals nicht so beschaffen, wie sie es jetzt ist''. [...] ''Ihre äußeren Abhänge waren von Handwerkern bewohnt und von Landwirten, welche das Land bestellten. Auf den oberen Teilen hatte bloß der Stand der Krieger für sich allein, um den Tempel der Athene und des Hephaistos herum, seine Wohnungen. ''[...]'' An der Stelle, wo jetzt die Burg steht, befand sich eine einzige Quelle, von der, als sie durch Erdbeben verschüttet wurde, ringsherum die jetzigen Bächlein geblieben sind" (12b-12d) Anhand von Keramikfunden in diesen Ruinen an der [http://de.wikipedia.org/wiki/Akropolis_(Athen) Akropolis] ließ sich dann ziemlich genau ablesen, dass die alten Anlagen aus der spätmykenischen Epoche stammten".'' <ref>Quelle: Axel Hausmann, [http://books.google.de/books?id=KLGieBKly_YC&printsec=frontcover&dq=Hausmann+Atlantis+-+die+versunkene+Wiege+der+Kulturen Atlantis - die versunkene Wiege der Kulturen], Aachen, 2000, S. 47</ref>
+
[[Bild:Karthago_4.jpg|thumb|left|300px|'''Abb. 4''' Die prunkvolle Stadt Karthago wurde 146 v. Chr. von den Römern geschleift. Ihre Ruinen liegen heute bei einem modernen Villenvorort von Tunis.]]
  
[[Bild:Karthago_4.jpg|thumb|'''Abb. 4''' Die prunkvolle Stadt Karthago wurde 146 v. Chr. von den Römern geschleift. Ihre Ruinen liegen heute bei einem mo- dernen Villenvorort von Tunis.]]
+
[http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] war schlichtweg nicht alt genug, um mit [[Atlantis]] identisch zu sein! Schließlich wissen wir heute recht genau, wann das historische Vorbild von [[Platon]]s [[Ur-Athen]] tatsächlich existierte. Am Nordhang des Akropolisfelsens entdeckten Archäologen bei Ausgrabungen nämlich genau die Anlagen, die [[Platon]] im [[Kritias]]-Dialog ausführlich beschrieben hat: "''Zunächst war die [http://de.wikipedia.org/wiki/Akropolis_(Athen) Akropolis] damals nicht so beschaffen, wie sie es jetzt ist''. [...] ''Ihre äußeren Abhänge waren von Handwerkern bewohnt und von Landwirten, welche das Land bestellten. Auf den oberen Teilen hatte bloß der Stand der Krieger für sich allein, um den Tempel der [[Athene]] und des Hephaistos herum, seine Wohnungen. ''[...]'' An der Stelle, wo jetzt die Burg steht, befand sich eine einzige Quelle, von der, als sie durch Erdbeben verschüttet wurde, ringsherum die jetzigen Bächlein geblieben sind" (12b-12d) Anhand von Keramikfunden in diesen Ruinen an der [http://de.wikipedia.org/wiki/Akropolis_(Athen) Akropolis] ließ sich dann ziemlich genau ablesen, dass die alten Anlagen aus der spätmykenischen Epoche stammten".'' <ref>Quelle: [[Prof. Axel Hausmann|Axel Hausmann]], "[http://books.google.de/books?id=KLGieBKly_YC&printsec=frontcover&dq=Hausmann+Atlantis+-+die+versunkene+Wiege+der+Kulturen Atlantis - die versunkene Wiege der Kulturen]", Aachen, 2000, S. 47</ref>
  
Selbst wenn wir, um des Arguments Willen, einmal voraussetzen, dass die Angaben der [http://de.wikipedia.org/wiki/Neith_(%C3%84gyptische_Mythologie) Neith]-Priester weit übertrieben waren, [[Atlantis]] sei etwa 9000 Jahre vor ihrem Gespräch mit [[Solon]] untergegangen: in jedem Fall ist es völlig unsinnig, eine historische Konfrontation zwischen dem, 850 v. Chr. gegründeten, [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] und einem Ur-Athen vorauszusetzen, das zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrhunderten nicht mehr existierte. Genau dieser Konflikt (Ägypten und Ur-Athen versus [[Atlantis]]) stellt jedoch eines von [http://de.wikipedia.org/wiki/Platon Platons] zentralen Motiven dar, zu dessen Lebzeiten [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] - wie [http://de.wikipedia.org/wiki/Lyon_Sprague_de_Camp Sprague de Camp] bereits bemerkte - noch in voller Blüte stand.
+
Selbst wenn wir, um des Arguments Willen, einmal voraussetzen, dass die Angaben der [[Neith]]-Priester weit übertrieben waren, [[Atlantis]] sei etwa 9000 Jahre vor ihrem Gespräch mit [[Solon]] untergegangen: in jedem Fall ist es völlig unsinnig, eine historische Konfrontation zwischen dem, 850 v. Chr. gegründeten, [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] und einem Ur-Athen vorauszusetzen, das zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrhunderten nicht mehr existierte. Genau dieser Konflikt (Ägypten und [[Ur-Athen]] versus [[Atlantis]]) stellt jedoch eines von [http://de.wikipedia.org/wiki/Platon Platons] zentralen Motiven dar, zu dessen Lebzeiten [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] - wie [[Lyon Sprague de Camp|Sprague de Camp]] bereits bemerkte - noch in voller Blüte stand.
  
 
Wie wir sehen, ist Bérards [[Atlantis]]-Lokalisierung in [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] eine hübsche Gedankenspielerei, die aber schnell ihren Reiz verliert, wenn man sie etwas eingehender unter die Lupe nimmt. Und darin dürfte auch der Grund dafür liegen, dass Bérards Hypothese heute so völlig unbekannt ist: Sie war eine der unzähligen atlantologischen 'Eintagsfliegen', denn sie hatte weder für die [[Atlantisforschung]], noch dem Publikum viel zu bieten. [http://de.wikipedia.org/wiki/Dido_(Antike) Dido] und ihre frühen Karthager mögen mehr oder weniger entfernte Abkömmlinge der ursprünglichen [[Atlantier]] gewesen sein (siehe dazu etwa die Arbeiten von [[Jürgen Spanuth]] oder [[Jürgen Hepke]]) - mit den Geschehnissen, die [[Platon]] in seinen Dialogen [[Timaios]] und [[Kritias]] schildert, hatten sie bestimmt nichts zu tun.   
 
Wie wir sehen, ist Bérards [[Atlantis]]-Lokalisierung in [http://de.wikipedia.org/wiki/Karthago Karthago] eine hübsche Gedankenspielerei, die aber schnell ihren Reiz verliert, wenn man sie etwas eingehender unter die Lupe nimmt. Und darin dürfte auch der Grund dafür liegen, dass Bérards Hypothese heute so völlig unbekannt ist: Sie war eine der unzähligen atlantologischen 'Eintagsfliegen', denn sie hatte weder für die [[Atlantisforschung]], noch dem Publikum viel zu bieten. [http://de.wikipedia.org/wiki/Dido_(Antike) Dido] und ihre frühen Karthager mögen mehr oder weniger entfernte Abkömmlinge der ursprünglichen [[Atlantier]] gewesen sein (siehe dazu etwa die Arbeiten von [[Jürgen Spanuth]] oder [[Jürgen Hepke]]) - mit den Geschehnissen, die [[Platon]] in seinen Dialogen [[Timaios]] und [[Kritias]] schildert, hatten sie bestimmt nichts zu tun.   
 +
 +
 +
===Externum===
 +
 +
'''Victor Bérard''', "[http://fr.wikisource.org/wiki/L%E2%80%99Atlantide_de_Platon L’Atlantide de Platon]" (aus: Annales de géographie, Volume 38, 1929), bei: [http://fr.wikisource.org/wiki/Accueil Wikisource]
  
  

Aktuelle Version vom 18. April 2019, 18:57 Uhr

Abb. 1 Der französische Homerist Victor Bérard vermutete Anfang des 20. Jahrhunderts, dass Atlantis mit Karthago identisch sei.

(bb) Eine Nordafrika-Lokalisierung von Atlantis, die im deutschsprachigen Raum inzwischen völlig in Vergessenheit geraten ist (sofern sie hier jemals zur Kenntnis genommen wurde) stammt von dem französischen Homer-Forscher Victor Bérard (1864-1931). Ihr heute gegen Null tendierender Bekanntheitsgrad erscheint auf den ersten Blick eigentlich nur schwer nachvollziehbar: Bérard (Abb. 1) identifizierte nämlich eine recht prominente, antike Metropole mit Atlantis - das phönizische Karthago.

Wieder einmal ist es einzig Lyon Sprague de Camp, der uns mit seinem, 1977 auch in deutscher Sprache erschienenen, Standard-Werk Lost Continents aus dem Jahr 1955 wenigstens ein paar fragmentarische Informationen zu Bérards atlantologischer Arbeit liefert. Sprague de Camp, hierzulande eher als SF- und Fantasy-Autor bekannt, war u.a. auch ein überaus scharfsinniger und ungemein belesener, bisweilen jedoch zu Engstirnigkeit und Wissenschaftsgläubigkeit neigender Atlantologie-Historiker und -Kritiker. Im erwähnten, überaus lesenswerten, Buch erging er sich stilvoll darin, die "Atlantisten" (bei ihm eine Sammelbezeichnung für empirische Atlantisforscher jeder Couleur, Märchenerzähler, Atlantisgläubige und Esoteriker) in Bausch und Bogen mit seiner Feder zu sezieren - und die war nicht nur ziemlich spitz, sondern auch scharf wie ein Skalpell.

Bèrard machte er zumindest das Kompliment, seine Theorie sei "schwieriger zu eliminieren" als diejenigen anderer Forscher und Autoren. Immerhin, so Sprague de Camp großzügig, habe Karthago "von Griechenland aus gesehen in der richtigen Richtung" gelegen, was man z.B von Kreta nicht sagen könne. Außerdem sei Karthago nicht nur, wie das bei Platon beschriebene Atlantis, eine imperialistische Seemacht gewesen, sondern auch sein städtischer Grundriss (Abb. 2) lasse sich offenbar mit dem der Atlanter-Hauptstadt vergleichen. Dazu zitiert er - ohne genaue Quellenangabe - Bérard:

"Der niedere, mit einem Wall umgebene Hügel der Byrsa oder Zitadelle, auf welchem der herrliche Tempel des Äskulap in Karthago stand, wurde auf der Festlandseite von drei mächtigen Wällen verstärkt, die sich über die ganze Halbinsel erstreckten und die in Abständen mit Türmen befestigt waren. Unterhalb des Marktplatzes und des Senatsgebäudes war um eine kreisförmige Insel ein Wasserkanal von rund 300 Metern Durchmesser angelegt worden. Auf der Insel erhob sich das Hauptquartier des Admirals.

Die Anlegestellen, die diesen Kanal umgaben, waren durch einen kreisförmigen Kolonadengang überdacht, der von ionischen Säulen getragen wurde. An diesen Docks konnten die größten Kriegschiffe anlegen. Von diesem Hafenbecken ging ein enger Kanal ab, der südlich davon in einen Handelshafen von zirka 400 Metern Länge Mündete. Eine gewaltige Mauer schützte den Eingang zur Seeseite hin und war dazu angetan, Angriffe feindlicher Flotten abzuwehren. Sümpfe umgaben die Landseite. Der Wasserbedarf wurde aus großen Zisternen gedeckt, die auf den benachbarten Hügeln errichtet worden waren und die, so scheint es, gleichzeitig als Bäder genutzt wurden." [1]

Abb. 2 Zeichnerische Rekonstruktion von Karthago. Tatsächlich besteht eine vage Ähnlichkeit mit Platons Atlantis-Beschreibung.

Tatsächlich lassen sich bei Bérards Beschreibung der nordafrikanischen Phönizier-Metropole gewisse Ähnlichkeiten mit dem 'Stadtplan' von Atlantis erkennen, wie Platon ihn uns überliefert hat: Etwa die dreifache Ringstruktur der Wälle (freilich nur partiell und ohne Wasser-Ringe), ein zentraler Wohnsitz für einen Träger der Macht, und der integrierte Hafen- und Werft-Komplex. Aber reicht dies und die eher scherzhaft gemeinte Feststellung, Karthago habe, von Griechenland aus gesehen, in der "richtigen Richtung" gelegen, bereits aus, um es zur Atlantis-Kandidatin zu machen?

Wenn wir Sprague de Camp richtig interpretieren [2], dann betrachtete Bérard Platons Aufenthalt in Syrakus auf Sizilien als Erklärung für gewisse Motive und Details der Atlantida, über welche er (Bérard) seine Gleichsetzung der Atlantier-Hauptstadt mit Karthago begründen zu können glaubte. Tatsächlich hatte Platon insgesamt drei Reisen (389-375 v. Chr.) nach Syrakus unternommen, das zu dieser Zeit, wie wir heute sagen würden, ein 'heißes Pflaster' war.

Sprague de Camp bemerkt dazu: "Griechen wie Karthager kolonisierten Sizilien und setzten ihr Äußerstes daran, einander zu vertreiben. Der karthagische Chefmagistrat Malchus eroberte 550 v. Chr. nahezu die ganze Insel. Die Kriege dauerten, unterbrochen von Zeiten der Ruhe und lokalen Aufständen, über drei Jahrhunderte hinweg an. Hamilkar gewann die Insel um 480 v. Chr. fast ganz zurück, aber die Streitkräfte von Syrakus und Agrigent schlugen ihn in einer großen Schlacht bei Himera, die fast so entscheidend in der Geschichte der Griechen war wie der griechische Sieg über die Perser bei Salamis im selben Jahr." [3]

Sprague de Camp bzw. Bérard mutmaßen nun, "Platon könnte aus erster Hand von der karthagischen Bedrohung bei seinen Besuchen in Syrakus erfahren haben. Die luxuriöse und habsüchtige Lebensweise der punischen Kaufmannsaristokratie (oder, um fair zu sein, die luxuriöse und habsüchtige Lebensweise, die ihnen von ihren griechischen und römischen Feinden nachgesagt wurde) könnte sich in der Beschreibung derselben Untugenden in Atlantis niedergeschlagen haben." [4]

Abb. 3 Eine karthagische Münze aus dem 4. Jahrhundert vor Christus

Natürlich trafen diese Untugenden nicht nur auf Karthager, sondern auch auf Römer, Perser und nicht zuletzt auch auf die Hellenen selber zu, deren Stadtstaaten nur dann nicht in Permanenz übereinander herfielen, wenn auswärtige Invasoren und Konkurrenten ihnen keine Zeit dazu ließen. Warum sollte Platon sich bei seiner Kritik also gerade auf 'karthagische Verhältnisse' bezogen haben? Auch Sprague de Camp musste die Schwäche der Analogie zwischen Atlantis und Karthago natürlich auffallen und er stellt fest: "Andererseits war Karthago eine Republik (nicht ein Königreich, wie Atlantis), und zu Platons Zeiten war kein Gedanke an sein Verschwinden, im Gegenteil, es war noch dabei, an Macht zu gewinnen."

Man mag zunächst versucht sein, Sprague de Camps ersten Punkt zurückzuweisen. Schließlich war Karthago, das um etwa 850 v. Christus von der Tyrer-Prinzessin Elissa gegründet wurde, bei seiner Entstehung noch eine Monarchie (Elissa, besser bekannt unter dem Namen 'Dido', eine Tochter König Muttons I. von Tyros hatte sich der Überlieferung nach mitsamt Gefolge vom heimatlichen Hof abgesetzt, um der Tyrannei ihres Bruders Pygmalion zu entfliehen). Trotzdem liegt gerade in der Entstehungsgeschichte Karthagos ein weiteres, schwerwiegendes Argument gegen Bérards Atlantis-Lokalisierung.

Hat doch das, was wir im Timaios-Dialog über die Ursprünge von Atlantis erfahren, so gar nichts mit der Gründung der nordafrikanischen Punier-Metropole gemeinsam: Hier der patriarchale Poseidon mit seinem Schöpfungsakt aus eigenem Willen, dort die matriarchale Figur der Dido, die sich im Exil gezwungenermaßen eine neue Heimat aufbauen muss - zwei völlig unter-schiedliche Motive, die nichts miteinander zu tun haben. Zudem war die Gründung Karthagos für Platon und seine hellenischen Zeitgenossen keineswegs eine mythisch verbrämte, 'vorsintflutliche' Angelegenheit. Während der Atlantis-Komplex ihren völlig unbekannt war (Solon und Platon importierten die Kunde von Atlantis schließlich aus Ägypten), dürfte der Ursprung der wichtigsten Punier-Städte gebildeten Hellenen durchaus nicht unbekannt gewesen sein.

Abb. 4 Die prunkvolle Stadt Karthago wurde 146 v. Chr. von den Römern geschleift. Ihre Ruinen liegen heute bei einem modernen Villenvorort von Tunis.

Karthago war schlichtweg nicht alt genug, um mit Atlantis identisch zu sein! Schließlich wissen wir heute recht genau, wann das historische Vorbild von Platons Ur-Athen tatsächlich existierte. Am Nordhang des Akropolisfelsens entdeckten Archäologen bei Ausgrabungen nämlich genau die Anlagen, die Platon im Kritias-Dialog ausführlich beschrieben hat: "Zunächst war die Akropolis damals nicht so beschaffen, wie sie es jetzt ist. [...] Ihre äußeren Abhänge waren von Handwerkern bewohnt und von Landwirten, welche das Land bestellten. Auf den oberen Teilen hatte bloß der Stand der Krieger für sich allein, um den Tempel der Athene und des Hephaistos herum, seine Wohnungen. [...] An der Stelle, wo jetzt die Burg steht, befand sich eine einzige Quelle, von der, als sie durch Erdbeben verschüttet wurde, ringsherum die jetzigen Bächlein geblieben sind" (12b-12d) Anhand von Keramikfunden in diesen Ruinen an der Akropolis ließ sich dann ziemlich genau ablesen, dass die alten Anlagen aus der spätmykenischen Epoche stammten". [5]

Selbst wenn wir, um des Arguments Willen, einmal voraussetzen, dass die Angaben der Neith-Priester weit übertrieben waren, Atlantis sei etwa 9000 Jahre vor ihrem Gespräch mit Solon untergegangen: in jedem Fall ist es völlig unsinnig, eine historische Konfrontation zwischen dem, 850 v. Chr. gegründeten, Karthago und einem Ur-Athen vorauszusetzen, das zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrhunderten nicht mehr existierte. Genau dieser Konflikt (Ägypten und Ur-Athen versus Atlantis) stellt jedoch eines von Platons zentralen Motiven dar, zu dessen Lebzeiten Karthago - wie Sprague de Camp bereits bemerkte - noch in voller Blüte stand.

Wie wir sehen, ist Bérards Atlantis-Lokalisierung in Karthago eine hübsche Gedankenspielerei, die aber schnell ihren Reiz verliert, wenn man sie etwas eingehender unter die Lupe nimmt. Und darin dürfte auch der Grund dafür liegen, dass Bérards Hypothese heute so völlig unbekannt ist: Sie war eine der unzähligen atlantologischen 'Eintagsfliegen', denn sie hatte weder für die Atlantisforschung, noch dem Publikum viel zu bieten. Dido und ihre frühen Karthager mögen mehr oder weniger entfernte Abkömmlinge der ursprünglichen Atlantier gewesen sein (siehe dazu etwa die Arbeiten von Jürgen Spanuth oder Jürgen Hepke) - mit den Geschehnissen, die Platon in seinen Dialogen Timaios und Kritias schildert, hatten sie bestimmt nichts zu tun.


Externum

Victor Bérard, "L’Atlantide de Platon" (aus: Annales de géographie, Volume 38, 1929), bei: Wikisource


Anmerkungen und Quellen

  1. Quelle: Victor Bérard, zit. nach L. Sprague de Camp, Versunkene Kontinente, Heyne / 1977, S. 202
  2. Anmerkung: Bérards Arbeit selbst kennt der Verfasser nicht, und bei Sprague de Camp kommt nicht immer klar zum Ausdruck, ob er gerade Bérards oder seine eigene Meinung darstellt.
  3. Quelle: Lyon Sprague de Camp, Versunkene Kontinente, Heyne / 1977, S. 202, 203
  4. Quelle: ebd.
  5. Quelle: Axel Hausmann, "Atlantis - die versunkene Wiege der Kulturen", Aachen, 2000, S. 47


Bild Quellen

(1) Association Culturelle Arménienne de Marne-la-Vallée (France), unter: http://www.acam-france.org/bibliographie/auteur.php?cle=berard-victor

(2) kriegsreisende.de, unter: http://www.kriegsreisende.de/soeldner/geschichte.php?artikel=hopliten/karthago.htm&td=3052004

(3) odophil - Rolands bunter Bilderbogen, unter: http://www.odophil.ch/numismatik/griechen/afrika/karthago/bild04.html

(4) tunesien.info, unter: http://www.fva-tunesien.de/ziele_karthago.htm (Bild nicht mehr online)