Atlantis in der wissenschaftlichen Literatur

von Dr. Rainer W. Kühne

Abb. 1 Neben zahllosen populär- und grenzwissenschaftlichen sowie ideologisch/esoterisch eingefärbten Publikationen, die sich mit Atlantis beschäftigen, gibt es auch eine ganze Reihe von explizit wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die in diesem Beitrag zum großen Teil erfasst werden. Bild: Atlantis nach P. Borchardt, in: A. Petermann, Mittheilungen aus Justus Perthes' Geographischer Anstalt, Folge 73, 1927

Das Thema Atlantis ist vor allem durch populärwissenschaftliche, pseudowissenschaftliche und esoterische Schriften bekannt. Diese einseitige Wahrnehmung hat vielfach zur Ansicht geführt, die Beschäftigung mit Atlantis sei unwissenschaftlich. Jedoch existiert eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur zum Thema. In diesem Beitrag erstelle ich eine kommentierte Liste wissenschaftlicher Abhandlungen zum Thema Atlantis.

Die bekanntesten Lokalisierungen von Atlantis wurden in der wissenschaftlichen Literatur diskutiert. Zahlreiche Autoren lokalisierten Atlantis im Nordatlantik und datierten seinen Untergang an das Ende der letzten Eiszeit [1]. Mehrere Argumente schienen diese Ansicht zu stützen. Mitchell interpretierte den neu entdeckten Mittelatlantischen Rücken als Überrest eines versunkenen Gebirges [2]. Das in der Tiefsee nahe der Azoren aufgefundene Vulkangestein Tachylith schien laut Termier auf versunkenes Land hinzudeuten, da er annahm, Tachylith könne nur an der freien Luft entstehen [3]. Auch zoologische und anthropologische Argumente wurden vorgebracht.

Scharff verwies auf die Ähnlichkeiten der mittelamerikanischen und südeuropäischen Tierwelt [4]. Der Marquis de Folin vertrat die Ansicht, sowohl die Basken als auch die in den Pyrenäen beheimateten Mollusken seien dem übrigen Europa fremd und daher aus einem nordatlantischen Kontinent eingewandert )[5]. Verneau interpretierte die Ureinwohner der Kanarischen Inseln, die Guanchen, als Cro Magnon Menschen, die seiner Ansicht nach aus Atlantis stammten [6]. Babcock schließlich interpretierte legendäre Inseln wie Antilla als Überreste von Atlantis [7]. Die Lokalisierung von Atlantis im Nordatlantik gilt heute als widerlegt [sic!; d. Red.], da gezeigt wurde, dass der Boden des Atlantiks nicht nur Jahrtausende, sondern bereits Jahrmillionen alt ist [8].

Mehrere Autoren vertraten die Ansicht, das minoische Kreta sei Atlantis gewesen [9]. Marinatos vermutete, die atlantische Kultur beziehe sich auf das minoische Kreta, sein Untergang beziehe sich auf den Ausbruch des Vulkans Thera-Santorin nördlich von Kreta und der atlantische Krieg beziehe sich auf die Seevölker-Kriege [10]. Galanopoulos vertrat die ähnliche Ansicht, das minoische Thera sei Atlantis gewesen, der Vulkanausbruch habe den Untergang von Atlantis verursacht [11]. Gemäß einer dritten Ansicht war Atlantis mit dem eisenzeitlichen, in Südspanien gelegenen Tartessos identisch [12].

Gestützt auf die Berichte Herodots und Diodors über ein Libyervolk namens Atlantioi, das am Triton-See beim Atlas-Gebirge gelebt haben soll, vermuteten Borchardt und Herrmann ein bronzezeitliches Atlantis am Schott el Djerid in Tunesien [13]. Bérard nahm an, Atlantis habe in Nordtunesien nahe bei Karthago aber zeitlich vor ihm existiert [14].

Abb. 2 Weniger im Bereich der Wissenschaft denn in demjenigen politischer Esoterik angesiedelt waren die Schriften von A.L. Herrmann, der ein arisch-friesisches Atlantis in Tunesien vermutete. Bild: Atlantis-Rekonstruktion auf dem Cover von Herrmanns "Unsere Ahnen und Atlantis" (1934)

Gidon vermutete ein bronzezeitliches Atlantis zwischen Irland und Aremorika [15]. Jedoch ist dieser Teil des Kontinentalschelfs bereits im Mesolithikum versunken. Zangger setzte Troja mit Atlantis gleich [16]. Seine Ansicht wurde kritisch besprochen [17] und zurückgewiesen [18]. Wie auch das minoische Knossos oder Phaistos stimmt auch Troja nicht mit Platons Beschreibung von Atlantis überein. Collina-Girard vermutete, Atlantis sei die Majuan-Bank gewesen, die während der letzten Eiszeit eine Insel, "Spartel Insel" genannt, innerhalb der Straße von Gibraltar gewesen war [19]. Diese Ansicht kann jedoch Platons Beschreibung von Athen und der Kultur von Atlantis nicht erklären.

Ich vertrete die folgende Ansicht [20]. Laut Broneer bezieht sich Platons Beschreibung von Urathen auf das endbronzezeitliche Athen [21]. Der Krieg von Atlantis gegen die Länder des östlichen Mittelmeerraumes beruht laut Marinatos auf einer ägyptischen Darstellung der Seevölker-Kriege. Die Beschreibung der Geographie und Kultur von Atlantis bezieht sich auf das eisenzeitliche Tartessos [22].

Zahlreiche Autoren betrachten Atlantis als eine Fiktion Platons [23]. Der Krieg beziehe sich auf die Perserkriege [24]. Die Beschreibung der Stadt von Atlantis sei Platons Kenntnissen von Syrakus [25], Karthago [26] und Athen [27] entlehnt. Der Untergang von Atlantis sei dem Untergang der griechischen Stadt Helike [28] oder der Insel Atalante nahe Euböas [29] entlehnt. Sowohl Befürworter der Existenz von Atlantis [30] als auch die Vertreter einer literarischen Fiktion [31] wiesen auf die Ähnlichkeiten von Atlantis mit Scheria, Homers Insel der Phäaken, hin.

Zu zwei der bekanntesten Atlantis-Lokalisierungen existieren in der wissenschaftlichen Literatur lediglich Gegendarstellungen, nämlich zur Helgoland-Lokalisierung [32] und zur Bimini-Lokalisierung [33].


Fortsetzung:


Über den Autor:

Dr. Rainer W. Kühne, Jahrgang 1970, ist promovierter Physiker. Er ist (Co-)Autor von vierzehn wissenschaftlichen physikalischen Abhandlungen. Bei Atlantisforschung.de finden sie R.W. Kühnes Atlantis-These unter: "Atlantis bei Cádiz - zur Bronzezeit"; Kontakt zum Autor: E-MAIL kuehne70@gmx.de


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Dr. Rainer W. Kühne (©) - 09.04.2004 - wurde online erstmals bei Mysteria 3000 publiziert; bei Atlantisforschung.de erscheint er in einer redaktionell bearbeiteten und illustrierten Fassung.

Fußnoten:

  1. Mitchell 1877; de Folin 1892; Mortillet 1897; Verneau 1898; Scharff 1903; Scharff 1909; Wilckens 1913; Termier 1913; Germain 1913; Termier 1915; Babcock 1917; Matthew 1920; Germain 1924a; Germain 1924b; Germain 1924c.
  2. Mitchell 1877.
  3. Termier 1913; Termier 1915.
  4. Scharff 1903; Scharff 1909.
  5. de Folin 1892.
  6. Verneau 1898.
  7. Babcock 1917.
  8. Schuchert 1917a; Schuchert 1917b; Schuller 1917; Kukal 1984.
  9. Frost 1913; Leaf 1915; Balch 1917; Marinatos 1950; Brandenstein 1951; Andrews 1967.
  10. Marinatos 1950.
  11. Galanopoulos 1960.
  12. Jessen 1925; Hennig 1925; Hennig 1927; Schulten 1927; Schulten 1939.
  13. Borchardt 1927a; Borchardt 1927b; Herrmann 1927.
  14. Bérard 1929.
  15. Gidon 1934.
  16. Zangger 1993.
  17. Renfrew 1992.
  18. Bloedow 1994.
  19. Collina-Girard 2001; Collina-Girard 2002; Collina-Girard 2003.
  20. Kühne 2004.
  21. Broneer 1939.
  22. Jessen 1925; Hennig 1925; Hennig 1927; Schulten 1927; Schulten 1939.
  23. Kluge 1910; Rudberg 1917; Robert 1917; Herter 1928; Taylor 1928; Taylor 1929; Heidel 1933; Herter 1944; Hackforth 1944; Pallottino 1952; Corbato 1953; Rosenmeyer 1956; Vidal-Naquet 1964; Schott 1967; Vitaliano 1971; Rexine 1975; Gill 1977; Remage 1978; Gill 1979; Forsyth 1980; Dombrowski 1981; Dusanic 1982; Giovannini 1985; Szlezak 1993.
  24. Taylor 1928; Pallottino 1952.
  25. Rudberg 1917; Corbato 1953.
  26. Pallottino 1952; Corbato 1953.
  27. Vidal-Naquet 1964; Dusanic 1982.
  28. Taylor 1928; Herter 1944; Giovannini 1985.
  29. Forsyth 1980.
  30. Leaf 1915.
  31. Kluge 1910; Vidal-Naquet 1964; Gill 1979.
  32. Schott 1967.
  33. Harrison 1971; Tarling 1978; McKusick 1980; Smith 1985.

Bild-Quellen:

1) A. Petermann, Mittheilungen aus Justus Perthes' Geographischer Anstalt, Folge 73
2) A.L. Herrmann, "Unsere Ahnen und Atlantis" (1934); nach: Atlantis - onderzoek naar mogelijke locaties, unter: Atlantis in Afrika (Bild-Adresse)