B. G. Tilak, W. F. Warren und ihr nordpolares Inselreich der Vorzeit
Als Mahatma Ghandi 1922 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt werden sollte, sagte er zum Richter: "Da Sie mir die Ehre erwiesen haben, den Prozeß des verstorbenen Lakayama Gangadhar Tilak anzuführen, möchte ich nur sagen, daß ich es als höchstes Vorrecht und große Ehre ansehe, mit seinem Namen in Verbindung gebracht zu werden". [1]
Bal Gangadhar Tilak hatte sich die Taktik des passiven Widerstandes ausgedacht, um die britische Herrschaft in Indien abzuschütteln. Er stand in so hohem Ansehen, daß Ghandi von ihm stets als vom "Lakayama" ("geliebter Führer des Volkes") sprach. Diesen Titel erhielt Tilak, als er 1897 wegen des Verfassens aufrührerischer Schriften im Gefängnis saß. Die Briten hofften, sie könnten auf diese Weise seine wachsende Bedeutung für den aufkeimenden indischen Nationalismus zurückdrängen.
Die schlimmen Bedingungen in seiner Zelle in Bombay forderten ihren Tribut, Tilaks Gesundheit verschlechterte sich. Aus Angst, sein Tod während der Haft könne einen allgemeinen Aufstand auslösen, brachten die Briten den "geliebten Führer des Volkes" nach Poona in ein sichereres Gefängnis. Mit Hilfe von Obst und Gemüse, das seine Anhänger ihm schenkten, konnte Tilak seine Gesundheit teilweise wiederherstellen. Bald aber befiel ihn ein neuer Hunger - das Bedürfnis nach geistiger Anregung. Die Linderung kam aus einer unerwarteten Richtung: aus England.
Tilak hatte ein vielbeachtetes Werk über die Weden verfaßt, die ältesten Texte Indiens, und die Sanskritgelehrten in Oxford und Cambridge waren erzürnt darüber, daß man ihn gefangengenommen hatte und schlecht behandelte. Professor F. Max Muller, der weltweit führende Fachmann für die Weden, konnte erreichen, daß Königin Victoria sich persönlich um den Fall Tilak kümmerte. Sie sorgte für eine Verkürzung der Haftzeit und verschaffte eine Leselampe für seine Zelle. Da man Tilak den Zugang zu Zeitungen und anderen aktuellen Druckerzeugnissen verweigerte, nutzte er sein "Privileg", um sein Studium der Weden fortzusetzen.
Nach seiner Entlassung zog sich Tilak ins Gebirge zurück, um sich auf dem Lieblingslandsitz seiner Familie zu erholen. Im Jahr 1903 erschien sein großes Werk The Arctic Home in the Vedas. Darin behauptete er, man könne am Boden des Nordpolarmeers die Überreste eines Inselparadieses finden: "Die beginnende Eiszeit zerstörte das milde Klima der ursprünglichen Heimat und machte sie zu einem eisbedeckten Land, das sich nicht für die Besiedlung von Menschen eignete." [2]
Eine entsprechende Passage aus dem Zend-Avesta, der ältesten persischen Sage, faßte Tilak so zusammen: "Ahura Masda warnt Yima, den ersten König der Menschen, vor einem nahenden schrecklichen Winter, der alle Lebewesen zerstören wird, weil er das Land mit einem dicken Eismantel überzieht, und rät Yima, ein Vara zu bauen, ein geschlossenes Gebäude, in dem die Samen aller Tier- und Pflanzenarten aufbewahrt werden sollen. Das Treffen soll im Airyana Vaêjo stattgefunden haben, dem Paradies der Perser". [3]
Den nördlichen Polarkreis wählte Tilak als Ort für den verlorenen Kontinent von Airyana Vaêjo, nachdem er das Buch Paradise Found: The Cradle of the Human Race and the North Pole gelesen hatte. Der Verfasser des 1885 erschienenen Werkes war Dr. William Fairfield Warren, der Gründer der Universität von Boston. Warren war aufgefallen, wie oft man auf die Geschichte von einem herabfallenden Himmel und einer großen Flut in Verbindung mit Berichten über ein verlorenes Inselparadies trifft. Außerdem erkannte er, daß das verlorene Land viele Eigenschaften eines Polargebietes besaß. In Warrens Augen ließ die Tatsache, daß es solche Beschreibungen auf der ganzen Welt gab, auf eine gemeinsame reale Grundlage schließen. Ein Teil seiner Antwort ergab sich aus der reizvollen neuen Idee von den Eiszeiten:
"Wenn nun die Überlebenden der Flut während der Überschwemmung oder später in Folge der nahenden Eiszeit aus ihrer vordiluvianischen Heimat in die große zentralasiatische >Hochebene von Pamir< vertrieben wurden, die vermutlich nach dem Diluvium der Ausgangspunkt der Menschheit war, dann hätte der Himmel in dieser neuen geographischen Breite genau den gleichen Anblick geboten, als ob sich das Firmament selbst bei der großen Zuckung der Erde verschoben hätte. Die Polarkuppel wäre um mehr als ein Drittel der Strecke vom Zenit zum Horizont geneigt worden. Mit ihrem astronomischen Wissen waren diese Überlebenden wahrscheinlich in der Lage, den wahren Grund des veränderten Anblicks zu erkennen, aber ihre unzivilisierten Nachfahren, die nicht mit den Schätzen der vordiluvianischen Wissenschaft gesegnet waren und in ihrer neuen, unwirtlichen Heimat in ein Leben als Wilde oder Nomaden hineingeboren wurden, könnten die Erklärung ohne weiteres vergessen haben. Im Laufe der Zeit könnten diese Kindeskinder sich leicht die seltsame Geschichte zu eigen gemacht haben, in der von den ursprünglichen Tatsachen nichts mehr vorhanden war außer einem rätselhaften Bericht über eine geheimnisvolle Verschiebung des Himmels, die sich angeblich in ferner Vergangenheit in Verbindung mit einer schrecklichen Natur- oder Weltkatastrophe ereignet haben soll." [4]
Warren vermutete, die Mythen vom Inselparadies mit ihren dramatischen Berichten von einem herabfallenden Himmel und einer weltweiten Überschwemmung gehörten zur tatsächlichen Geschichte der zutiefst verunsicherten Völker, die durch geologische Umwälzungen ihre Heimat verloren hatten. In den allerältesten Aufzeichnungen fand Warren immer wieder Hinweise, daß das verlorene Land sich in der Nähe eines Poles befunden hatte.
Im Jahr 681 n. Chr. beispielsweise befahl der japanische Kaiser Temnu dem Mann mit dem besten Gedächtnis im Land - sein Name war Hieda no Are -, sich zu einem Schreiber zu begeben. Hieda no Are war der angesehenste Vertreter aus der "Gilde der Erzähler" (Kataribe), und er nahm seine Aufgabe sehr ernst. O no Yasumaro, der Schreiber, zeichnete Hieda no Ares Worte orginalgetreu auf. Die Sammlung wurde unter dem Namen Kojiki ("Berichte über alte Begebenheiten") bekannt und erschien 712. Nach Warrens Überzeugung enthielt der erste Teil des Buches die Vorstellung einer ursprünglichen Inselheimat in der Nähe der Erdachse. [5] Das Kojiki beginnt mit den "Sieben Generationen im Zeitalter der Götter", jede dieser "Generationen" bestand aus einem Bruder und einer Schwester.
Nachdem alle sieben Geschwistergenerationen erschaffen waren, entstanden noch weitere Götter, nämlich Izanagi und seine Frau und Schwester Izanami. Die beiden wurden mit der Aufgabe betraut, aus dem breiähnlichen Durcheinander der Urerde eine geordnete Welt zu schaffen. Den Augenblick, als die beiden himmlischen Gottheiten die erste Welt entstehen ließen, beschreibt Warren so:
"... Sie standen auf der Brücke des Himmels, steckten einen Speer in die grüne Fläche des Meeres und rührten immer wieder um. Als sie ihn herauszogen, verfestigte sich jeder Tropfen, der von der Spitze herabfiel, zu einer Insel. Das sonnengeborene Paar stieg auf die Insel herab, stieß die Spitze eines Speeres in die Erde und baute einen Palast darum herum, dem der Speer als mittlerer Dachpfeiler diente. Der Speer wurde zur Erdachse, die sich durch das Rühren ständig drehen muß." [6]
Warren zog daraus den Schluß, Onogorojima (die "Insel des festgewordenen Tropfens" müsse irgendwo in der Nähe eines Pols gelegen haben. Auf der Insel wurde ein großer Palast gebaut, ein Motiv, das in der Sage von Atlantis ebenfalls auftaucht. (Später schuf Izanagi noch andere Inseln, darunter die acht Hauptinseln Japans.)
Aber warum sollten diese Menschen ihre Heimat an einen unwirtlichen Pol verlegt haben? Darauf antwortet Warren: Die Erde war damals viel wärmer und hat erst in jüngerer Zeit abgekühlt. Hitze aus dem Erdinneren ließ im Zusammenhang mit den Oberflächentemperaturen in tropischen und sogar gemäßigten Breiten ein Klima entstehen, das für Lebewesen viel zu heiß war. Nur in den Polargebieten war es zu jener Zeit so kühl, daß sie sich für die Besiedlung durch Menschen eigneten.
Nach Warrens Ansicht wurde dieses Polparadies zerstört, als ein entscheidender Temperatursturz zu weltweiten geologischen Umwandlungen führte. Im Erdinneren stürzten große Massen nach innen zusammen, und dabei rissen sie Teile der Erdkruste mit. In die eingesunkenen Gebiete brach das Meer ein. Anschließend kühlte sich die Erde ab - und das frühere Inselparadies erstickte unter Schnee und Eis.
Da Warren glaubte, die gesamte Insel sei in einem Polarmeer verschwunden, lehnte er den Südpol als möglichen Ort für ihre Lage ab, denn die Antarktis ist noch heute eine Landmasse. Statt dessen konzentrierte er sich auf das Nordpolarmeer, das in seinen Augen den "Nabel der Welt" darstellte: "Jeder, der sich mit der Antike beschäftigt, muß sich schon oft darüber gewundert haben, daß man in den alten Schriften fast immer den seltsamen Ausdruck "Nabel der Erde" trifft. Und noch unerklärlicher muß die Feststellung erschienen sein, daß die alte Mythologie vielfach einen Zusammenhang zwischen diesem Nabel und dem Ursprung der Menschheit herstellt. Die Vertreter der verschiedenen Ansichten über die Lage von Eden haben kaum einmal der Tatsache Beachtung geschenkt, daß man keine Hypothese zu diesem Thema als glaubwürdig ansehen kann, die nicht diese seltsame Annahme über die Urheimat der Menschen mit irgendeinem natürlichen Zentrum der Erde gleichsetzt." [7] (...)
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Anmerkungen und Quellen
Dieser Beitrag von Rose und Rand Flem-Ath wurde mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen der deutschsprachigen Ausgabe ihres Buches When the sky Fell (1995) entnommen, die 1996 in der Übersetzung von Sebastian Vogel unter dem Titel "Atlantis - der versunkene Kontinent unter dem ewigen Eis" im Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, erschienen ist.
Fußnoten:
- ↑ Quelle: William S. Shirer, "Ghandi: A Memoir", New York, Washington Square Press, 1979, S. 85
- ↑ Quelle: Bal Gangadhar Tilak, "The Arctic Home in the Vedas: Being also a new key to the interpretation of many Vedic legends", Poona City, Indien, Kesari, 1903, S. 419
- ↑ Quelle: ebd., S. 72
- ↑ Quelle: William Fairfield Warren, "Paradise Found: The Cradle of the Human Race and the North Pole; A Study of the Prehistoric World", Boston, Houghton, Mifflin & Co., 1885, S. 193 - 196
- ↑ Quelle: ebd., S. 140
- ↑ Quelle: ebd., S. 140 f.
- ↑ Quelle: ebd., S. 225
Bild-Quellen:
- 2) Bild-Archiv Tony O’Connell / Atlantipedia.ie
- 3) http://www.topweb.gsfc.nasa.gov/antarctica_imagegal/ice_cutter.html (nicht mehr online)
- 4) http://www.uni-mainz.de/~dielk000/MAERCHEN/mythen.htm (nicht mehr online)
- 5) http://www.schepart.ch/mho/Weltreise/Arktis.jpg (nicht mehr online)
Hinweis:
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