Das Jiddische und die Herkunft der Baiern

von unserem Gastautor Dr. Horst Friedrich (1992)

Eines der anregendsten Geschichtswerke der letzten Jahre ist dem Verfasser stets die von Arthur Koestler 1976 vorgelegte Rekonstruktion der Geschichte der osteuropäischen Juden, der Aschkenasim, gewesen. Er kann dieses Buch jedem, dem die Aufhellung bislang dunkel-nebulös bleibender Flecken im üblicherweise präsentierten Gemälde des europäischen Frühmittelalters am Herzen liegt, nur wärmstens empfehlen.

Koestlers Szenario enthüllt schlaglichtartig mit einem Male Teile eines Netzwerks aufschlußreichster frühmittelalterlicher Verflechtungen zwischen dem nordpontischen Raum und dem weit im Westen entstehenden baierischen Stammesherzogtum, wobei die Magyaren und die mit diesen eng verbundenen Chasaren das wichtigste Bindeglied darstellen.

Nachdenklich macht aber, daß trotz Koestler noch immer nicht das ganze frühmittelalterliche Verflechtungsnetz zwischen Lech und Kaukasus in seiner Gesamtheit wirklich überzeugend aus dem Dunkel tritt. Unter solchen Umständen liegt der Verdacht nahe, ob nicht vielleicht die von H. Illig (1991a, b) vorgetragene These einer geschlchtsverfälschend gedehnten frühmittelalterlichen Chronologie der Hauptschlüssel sein könnte, der uns noch fehlte, um das, was trotz Koestler noch im Dunkeln bleibt, aufzuhellen.

Der Verfasser hat andernorts (Friedrich 1991) darauf hingewiesen, daß unser derzeitiges "Wissen" über die frühmittelalterliche Ethnogenese jener "Baiern" (Sueben, Skiren, Heruler, Goten- und Hunnen-Reste etc.), die letztendlich aus einem slowakisch-nordungarischen Baiwaria ins heutige Baiern einwanderten, um 500 in konventioneller Chronologie, ein noch überaus dürftiges, ein sehr ungesichertes ist. Ihm scheint, daß wir eine versuchsweise Amalgamierung der Szenarien von Koestler und Illig wagen sollten, um zu sehen, ob nicht auf diesem Wege endlich weiter- und einer Lösung des bisher schier unlösbar scheinenden Problems der Herkunft der Baiern näherzukommen ist.

Koestler (172ff.) zitiert die grundlegende Arbeit von M. Mieses (1924) über die Entstehung des Jiddischen, wonach - dem linguistischen Befund zufolge - die osteuropäischen Juden keineswegs, wie meist unbesehen unterstellt, aus dem mehr westlichen, d.h. ehemals römischen Europa durch Deutschland hindurch nach Osteuropa eingewandert sind.

Koestler/Mieses zufolge stellen die osteuropäischen Juden letztlich die zur Diaspora gewordene Bevölkerung des frühmittelalterlichen Chasaren-Reiches - nördlich von Schwarzem Meer und Kaukasus - dar, die unter dem Druck nachdrängender Völker allmählich über das Gebiet des hochmittelalterlichen, bis zum Schwarzen Meer reichenden Polen-Litauen auch in Deutschland einsickerte. Die "turko-skythlschen" Chasaren hatten einst, wohl um ihren "Dritte-Macht"-Status gegenüber Byzanz und Kalifat zu demonstrieren, zunächst offenbar einen jüdisch-fundamentalistischen, später den orthodox-rabbinischen talmudischen Glauben angenommen. Nun wurde ihre Diaspora, in zwangsläufiger Metamorphose, zur neuen Heimat der osteuropäischen Juden, den Aschkenasim, die demnach ethnisch gänzlich anderer Herkunft sind als die mediterranen Juden, die Sephardim (von "Sefarad", dem hebräischen Wort für die iberische Halbinsel).

Nach Mieses (204-209. 224) ist das Jiddische, die Umgangssprache der osteuropäischen Juden, im Kern ein sehr alter, mit Slawismen und Hebräismen angereicherter deutscher Dialekt, der in engster Verwandtschaft zum Altbaierischen steht. Es ist dies ein unbestreitbares Schlüssel-Faktum!

Mieses schreibt: "Die jiddische Sprache in ihren germanischen Bestandteilen fällt durch ihren altertümlichen Charakter auf. Eine große Anzahl von Worten mutet sofort auf den ersten Anblick archaistisch an" (ebd., 197). Zum altbaierischen Wortgut im Jiddischen sagt er: "Das Jiddische besitzt noch zahlreiche andere eigentümliche Worte deutschen Ursprungs, die nicht in den Sprachschatz des Mittelhochdeutschen hineingehören. Diese lassen sich fast sämtlich in der bayerischen Mundart im weiteren Sinne feststellen" (204). Hierhin gehört auch die versuchsweise These von A.N. Pollak (1951, zitiert bei Koestler 177f.), wonach das Jiddische in jenen Teilen der chasarischen Krim entstanden sei, in denen einst ein dem Mittelhochdeutschen sehr nahestehendes "Gotisch" gesprochen wurde. Aber auch zu den Krim-Goten ist das letzte ethno-linguistische Wort noch keineswegs gesprochen. wie die grundlegende Monographie von A.A. Vasiliev (1936) zeigt. Vasiliev zitiert (16, 54) eine Arbeit von R. Loewe (1896), wonach auch Heruler und Kaukasus-Germanen einst als "Goten" bezeichnet wurden.

Man mag die Sache drehen und wenden wie man will, das Jiddische kann nur im noch bestehenden Chasaren-Reich entstanden sein, und zwar in einer Region ethnisch-linguistischer Durchdringung, in der, neben Angehörigen des Chasarentums im weitesten Sinne, auch Menschen lebten, die eine Form des Altbaierischen sprachen, oder vielleicht teilweise auch eine altbaierisch-gotische Mischsprache. Der sonst so scharfsinnige Koestler (173-177) bietet lahm - weil er im gleichen Atemzug auch Pollaks These als beachtenswert bezeichnet - sein Szenario an, wonach die chasarisch-aschkenasische Diaspora ihr Jiddisch im Kontakt mit der deutschen Mittelschicht in den Städten Polen-Litauens erworben habe. Aber dies scheitert am archaisch-baierischen Wortgut im Jiddischen.

Kann es sich bei diesem eine altbaierische Mundart sprechenden Element um Heruler und Skiren gehandelt haben, die - zusammen mit Gotenresten - von der frühen Völkerwanderungszeit her noch am Schwarzen Meer sitzen geblieben waren, ehe sie später nach Westen abzogen und als Bestandteil der Baiwaria-"Baiern" in das heutige Bayern gelangten? [1]

Nach der konventionellen frühmittelalterlichen Chronologie wäre solch ein Szenario perfekter Unsinn, denn die bairische Einwanderung soll um 600 abgeschlossen gewesen sein, während die Chasaren erst um 450, zunächst als abhängige Verbündete der Hunnen, am Schwarzen Meer aufgetaucht sein sollen. Ganz anders würde sich die Sache freilich ausnehmen, wenn sich herausstellen sollte, daß Illig seine Forderung nach einer Verkürzung unserer frühmittelalterlichen Zeitrechnung zu Recht erhoben hat.

Es scheint vordringlich, zunächst unter versuchsweiser Zugrundelegung dieser Illigschen These eine kritische Untersuchung darüber anzustellen, ob es sich bei den Hunnen, Awaren und Madjaren wirklich um getrennte Völkerpersönlichkeiten gehandelt hat, oder ob die einen nur - uns durch eine geschichtsverfälschend gedehnte Chronologie vorgespiegelte - Alter egos der anderen sind.

Das Rätsel bliebe allerdings, seIbst wenn sich ein höchst versuchsweises Szenario wie eben beschrieben konstruieren ließe, warum die dominierenden, einen türkischen Dialekt als Lingua franca gebrauchenden Chasaren den altdeutschen Dialekt einer etwa skirisch-herulischen Minderheit als neue Umgangssprache angenommen haben sollten.

Unter Zugrundelegung der Illigschen These darf aber auch die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden, daß das gotische Ermanerich-Reich, von dem Heruler ein prominenter Bestandteil waren. in gewisser Weise, nach Ankunft der "turko-skythischen" Chasaren - die vielleicht nur eine neue, überlagernde Oberschicht darstellten - als das Chasaren-Reich weiterlebte. Am Ende war die hunnische Oberherrschaft unter Attila nur eine kurze Zwischenepisode.

Daß zur Zeit des Chasaren-Reiches Heruler- oder Gotenreste nicht mehr erwähnt werden, brauchte nicht zu verwundern. Für die byzantinischen Chronisten waren ja alle diese Völker meist "Skythen". So wird etwa der Skirenfürst Edika, der Vater Odoakers, der am Hofe Attilas eine bedeutende Rolle spielte, als "Skythe" bezeichnet (Mitscha-Märheim 1960, 230f.). Die skirisch-hunnische Verbindung und die Rolle Edikas verleiten im übrigen zu der Spekulation, ob nicht am Hofe Attilas der quasi "altbaierische" Dialekt der Skiren die von vielen benutzte zweite Umgangssprache war.

Schließlich ist, alle Möglichkelten abwägend, auch noch eine für verschiedene althergebrachte Lehrmeinungen geradezu häretische Überlegung anzustellen: Gab es vielleicht unter den Chasaren, die zweifellos ein ethno-linguistisches Mixtum compositum waren, bereits bevor sie aus Innerasien zum Schwarzen Meer zogen, derartige Volksbestandteile. die deutsch-baierisch-gotische Dialekte sprachen? Eine Klärung dieser Frage wäre von der allergrößten Bedeutung nicht nur für die Entwirrung der baierischen Ethnogenese, sondern auch für die Ethnogenese- und Herkunftsproblematik bei den deutschsprachigen Volksstämmen in ihrer Gesamtheit, letztlich vielleicht sogar für die ganze "Indogermanen"-Frage. [2]

In der Tat liegt der Gedanke nahe, daß unter den Chasaren Volksbestandtelle waren, bei denen es sich um Überreste einstiger innerasiatischer, indogermanischer Völker (Alanen, Parther, Saken, Tocharer) handelte, deren Mundarten den altdeutsch-germanischen Dialekten möglicherweise noch so nahestanden, daß man einander zur Not auch ohne Dolmetscher verstand. Als "Turkvolk" werden die Chasaren nur deswegen bezeichnet, well diese ethno-linguistische Mixtur, als sie am Schwarzen Meer auftauchte, eine der türkischen Sprachfamilie zuzurechnenden Lingua franca verwendet zu haben scheint. Die innere, wahrscheinlich recht heterogene ethno-linguistische Zusammensetzung des Völkergemenges bleibt im Dunkel.

Die endgültige Entwirrung des hier von einigen Seiten beleuchteten Schlüssel-Problemkomplexes in den angedeuteten Richtungen muß zukünftiger Forschung vorbehalten bleiben. Der vorliegende kleine Beitrag will nur Anregung sein, die ausgefahrenen Geleise der Baiern-Ethnogeneseforschung endlich zu verlassen und den Horizont zu weiten, den Kopf nicht länger in den Sand zu stecken vor dem Schlüssel-Faktum der engen Verwandtschaft des Altbaierischen mit dem Jiddischen und auch die Illigsche These einer geschichtsverfälschend gedehnten frühmittelalterlichen Chronologie versuchswelse mit ins Kalkül zu ziehen.

In den Zusammenhang unserer Betrachtungen gehört auch die bei Mitscha-Märheim (1950, Vorwort) erwähnte These K. Oettingers, zu der sich dieser durch charakteristische Eigentümlichkeiten des bairischen Kunstschaffens gedrängt fühlte, daß nämlich bei der Bildung des bairischen Volksstammes unbedingt ein asiatisches, wohl "hunnisches" Substrat beteiligt gewesen sein müsse. Auch wenn "hunnisch", wie "skythisch", zu jenen chamäleonhaften Begriffen gehört, welche die tatsächlichen Verhältnisse fast so stark verdunkeln, wie sie diese dunkel ahnen lassen, ist damit jedoch die Richtung von Oettingers Vermutung angedeutet. Die Forschungsergebnisse von Zöllner (1960) über "awarisches" Namensgut im altbaierisch-österreichischen Raum zeigen in die gleiche Richtung.

Ein Wort der Beruhigung für jene - falls heute noch vorhandenen - Leser altbaierischer Herkunft, die Angst haben, man wolle sie zumindest teilweise von einer "fremden Rasse" abstammen lassen. Die Chasaren und Hunnen dürften in ihrem äußerlichen Erscheinungsbild wohl, ähnlich wie die noch heute auf chinesischem und russischem Staatsgebiet lebenden Uiguren, die wegen ihrer Sprache auch als "Turkvolk" bezeichnet werden, kaum von den frühmittelalterlichen Mitteleuropäern zu unterscheiden gewesen sein, mit Ausnahme an Tibet oder die Mongolei erinnernder Einsprengsel.

Der Verfasser konnte sich durch ausgedehnte Studien davon überzeugen, daß die der westlichen Kultur in der Neuzelt oktroyierte Idee von angeblich existierenden "Rassen" der Menschheit, von proteushafter Nebulosität und ohne richtig greifbare Entsprechung in der Außenwelt, ein Denkmuster ist, das sich bei kritischer Betrachtung auflöst. [3] Wenn Kutschera (1909) in seiner sonst verdienstvollen Studie über die Chasaren es viel mit den "Turaniern" hat, die offenbar etwas ganz anderes als die "Semiten" und "Arier" sein sollen, so vermengt er linguistische mit ethnischen Kriterien und wird unwissenschaftlich.

Ein letztes Wort zu den uns heute noch sehr dunklen Vorgängen bei der Christianisierung der Baiern, die offenbar aus verschiedenen Quellen gespeist wurde, worüber der Verfasser sich andernorts verbreitet hat (Friedrich 1991, 60-61). Bei Koestler (81f.) ist nachzulesen, daß um 864 konventioneller Datierung der von Byzanz abgesandte spätere "Slawen-Apostel" Cyrill erfolglos versucht haben soll, die damals schon dem orthodox-talmudischen Glauben zugehörenden Chasaren zum orthodoxen Christentum zu bekehren.

Koestler (170ff.) erwähnt die zunächst phantastisch klingende, hochmittelalterliche Überlieferung. daß in Österreich in vorchristlicher Zeit 22 jüdische Herrscher mit ural-altailsch klingenden Namen regiert hätten, was auf eine Verbindung mit dem Chasaren-Reich deuten könnte. Es wäre nun interessant, die von Bauerreiß (1924) begonnenen Forschungen über die multiplen Quellen, aus denen die Christianisierung der Baiern gespeist wurde, auch auf die missionarischen Bemühungen Cyrills im Chasaren-Reich auszudehnen und zu sehen, ob sich davon, nach ihrer Christianisierung, auch unter den Baiern Spuren finden lassen.


Bibliographie

Altheim, Franz (1959): Geschichte der Hunnen; 1. Band, Berlin

Bauerreiß, Romuald (1924): Irische Frühmissionare in Südbayern; München

Cassel, Selig (1848): Magyarische Alterthümer; Berlin

Dunlop, D.M. (1954): The History of the Jewish Khazars; Princeton

Friedrich, Horst (1991): Baierns "dunkle Jahrhunderte"; in VFG III (3-4) 56

Illig, Heribert (1991a): Die christliche Zeitrechnung ist zu lang; in VFG III (l) 4

Illig, Heribert (1991b): Halley, Novae, China - Zur Synchronisierung der Alten Welt; in VFG III (2) 33

Koestler, Arthur (1976): The Thirteenth Tribe; London. Auf deutsch (1977): Der dreizehnte Stamm. Das Reich der Khasaren und sein Erbe; Wien-München

Kutschera, Hugo von (1909): Die Chasaren; Wien

Loewe, R. (1896): Die Reste der Germanen am schwarzen Heer; Halle

Macartney, C.A. (1930): The Magyars in the Ninth Century; Cambridge

Mieses, Matthias (1924): Die Jiddische Sprache; Berlin-Wien

Mitscha-Märheim, Herbert (1950): Die Herkunft der Baiern; in Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien,LXXX (1-2), Horn-Wien

Poliak, A.N. (1951): Khazaria - The History of a Jewish Kingdom in Europe (Text hebräisch); Tel Aviv

Vasiliev, Alexander Alexandrovich (1936): The Goths in the Crimea; Cambridge, Mass.

Velikovsky, Immanuel (1982): Beyond the Mountains of Darkness: The Search for the Ten Lost Tribes; in Kronos VII (4)

Zöllner, Erich (1950): Awarisches Namensgut in Bayern und Österreich; in Mitteliungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, LVIII, Graz


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Dr. Horst Friedrich © wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift VORZEIT-FRÜHZEIT-GEGENWART Nr. 1/92. Bei Atlantisforschung.de erscheint er im Dr. Horst Friedrich Archiv nach der Online Fassung unter: http://alt.geschichte-chronologie.de/l2-wahl/l2-autoren/l3-friedrich/jiddisch.html

  1. Seit König Ludwig I. versteht man unter "Bayern" das nachnapoleonische Staatsgebiet. Mit "Baiern" wird üblicherweise der (alt-)baierische Volksstamm respektive dessen Siedlungsgebiet bezeichnet.
  2. "Indoeuropäer" wäre irreführend, weil etwa Basken, Ungarn, Finnen (und die vor-keltischen Räter, Iberer, Briten, Ligurer etc.) nicht zu diesem Sprachstamm gehören. Es sei hier daran erinnert, daß Sprachfamilien nichts mit angeblichen "Rassen" zu tun haben. Auch die Baiern sind ein Mixtum compositum aus verschiedenen Ethnien, mehrheitlich indogermanischer Herkunft, aber mit "räto-berberischem" Substrat und innerasiatischen Einsprengseln.
  3. Red. Anmerkung: Siehe dazu bei Atlantisforschung.de: Dr. Horst Friedrich, "Der Mythos von den angeblichen »Rassen« der Menschheit"