Der klassische Diffusionismus

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Eine kleine Geschichte des Diffusionismus, Teil III

Abb. 1 Friedrich Ratzel (1844-1904) gilt als der Begründer des klassischen Diffusionismus.

(bb) In Form konkreter Ideengebäude entwickelte sich der Diffusionismus etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf den - bzw. als Gegenströmung zum - (klassischen) Evolutionismus, einer Schule oder Richtung der Ethnologie und anderer Sozialwissenschaften, deren Anhänger eine gesetzmäßige, quasi 'organische' Höherentwicklung menschlicher Gesellschaften in verschiedenen, deutlich untereinander abgrenzbaren Entwicklungsstufen behaupteten. [1]

Der Diffusionismus beherrschte dann - zumindest im deutschsprachigen Raum - zwischen 1910 und 1925 die ethnologische Diskussion [2] und spielte bis in die 1940er Jahre hinein als bedeutender Theoriestrang der Sozial- und Kulturanthropologie [3] eine wichtige Rolle in der deutschsprachigen Völkerkunde. Im angelsächsischen Sprachraum wurde dieser Theorieansatz auch als German School bezeichnet. [4] Im Zentrum des Interesses diffusionistischer Ansätze stand die Rekonstruktion der konkreten Herkunft bestimmter Kulturelemente, wobei eine Prämisse darin bestand, jede Kultur als einer ethnischen Einheit zugehörig zu betrachten. "Da seine Vertreter jedoch kaum Reinformen einer Kultur vorfanden, sahen sie ihre Aufgabe darin, Diffusionsmuster auszumachen und Kulturelemente, die sich durch Migration oder durch Entlehnungen durchmischt hatten, zu sondieren." [5]

Abb. 2 FitzRoy Somerset, der 4. Baron von Raglan, vertrat einen rigiden, monozentrisch orientierten Diffusionismus.

Als Begründer dieser Sichtweise gilt der Zoologe und Geograph Friedrich Ratzel (Abb. 1) (1844-1904) [6], der auch die Anthropogeographie und Politische Geographie ins Leben rief. Ein weiterer wichtiger Vertreter des klassischen Diffusionismus war der Afrikaforscher und Atlantologe Leo Frobenius (1873-1938), der Begründer der Kulturkreislehre (ab 1898). Zudem ist vor allem die sich in den 1920er Jahren entwickelnde 'Wiener Schule der Völkerkunde' mit Wilhelm Schmidt (1868-1954) und seinem Schüler Wilhelm Koppers (1886-1961) als wesentlichen Protagonisten zu nennen. Wie diese entwickelten auch die Museumsethnologen Bernhard Ankermann (1859-1943), Fritz Graebner (1877-1934) [7] und - in den USA - Clark Wissler (1870-1947) Frobenius´ Kulturkreislehre mit unterschiedlichen Schwerpunkten weiter. Die Vertreter der 'Wiener Schule' verwendeten für ihr Modell verschiedener Kulturstadien die Begriffe 'Urkultur', „Primärkultur“ und „Sekundärkultur“, wobei die 'Urkultur' als wertvollstes Stadium betrachtet wurde. Die später in Erscheinung tretenden 'Kulturvölker' waren aus ihrer Sicht dagegen als 'degeneriert' anzusehen.

Der aus Australien stammende Anthropologe und Ägyptologe Grafton Elliot Smith (1871-1937) sowie der Kulturanthropologe William James Perry (1887–1949) vertraten gemeinsam einen strikt monozentrischen bzw. 'heliozentrischen Diffusionismus', der das alte Ägypten als Wiege der menschlichen Kultur sah, und heute allgemein als 'British school of diffusionism' bezeichnet wird. Andere britische Diffusionisten, wie Lord Raglan (Abb. 2) (1885–1964), waren stattdessen der Meinung, dass Mesopotamien der Ursprungsort aller Kultur und Zivilisation gewesen sei. [8] Etwa zur selben Zeit waren in Deutschland die Altorientalisten und Religionshistoriker Hugo Winckler (1863-1913) und Alfred Jeremias (1864-1935) bemüht, "den Nachweis dafür zu erbringen, dass die >astrale Weltanschauung< der alten Sumerer allen Kulturen und Religionen der Welt ihr Gepräge gegeben hätte" [9], ein Modell, für das Winckler auch die Bezeichnung 'Panbabylonismus' prägte. Diese und ähnliche Theorien, die davon ausgehen, dass sich alle kulturellen und technischen Innovationen von einem einzigen Ausgangspunkt herleiten lassen (Monozentrismus), werden heute bisweilen auch als 'Hyperdiffusionismus' bezeichnet. Überwiegend setzten Diffusionisten jedoch schon damals keine singuläre Initialkultur, sondern lediglich eine begrenzte Anzahl von Kultur-Zentren voraus. [10]

Da kulturelle Innovation als ein relativ seltenes Phänomen angesehen wurde, ging man im Diffusionismus damals grundsätzlich von einer langfristigen Konstanz kultureller Phänomene aus. Die Erfindungskraft des Menschen und der Einfluss von Umweltfaktoren auf kulturelle Praktiken wurden seinerzeit noch als eher gering eingeschätzt. Zur Rekonstruktion der Menschheits- und Zivilisationsgeschichte wesentlich waren für Diffusionisten zunächst vor allem räumliche Komponenten: „Aus der Verbreitung von Kulturelementen im Raum erhoffte man sich [11] Rückschlüsse auf die geographischen Bewegungen in der Zeit und so auf die Geschichte der Völker.[12] Das Augenmerk der frühen Diffusionisten war also zunächst fokussiert auf die Übertragungwege und -formen kultureller Elemente durch Völkerwanderungen, Handels- und Explorationsreisen, Missionierungfahrten oder Eroberungszüge.


Fortsetzung:


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Anmerkung: Die wesentlichen Repräsentanten des Evolutionismus, wie Lewis Henry Morgan (1818–1881), Herbert Spencer (1820–1903) und Edward Tylor (1832–1917), gingen - beeinflusst von Charles Darwins Lehre - davon aus, dass menschliche Gesellschaften ebenso wie biologische Arten einem kontinuiertlichen, gleichförmigen Evolutionsprozess unterliegen. Siehe dazu etwa: Elke Mader, Wolfgang Kraus, Philipp Budka und Matthias Reitter, Einführung und Propädeutikum Kultur- und Sozialanthropologie, 2 Theoriengeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie, unter: Wolfgang Kraus und Matthias Reitter, 2.1 Der klassische Evolutionismus, bei: Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Wien (abgerufen: 10.03.2014)
  2. Siehe: Marie-France Chevron, "Anpassung und Entwicklung in Evolution und Kulturwandel: "Erkenntnisse aus der Wissenschaftsgeschichte für die Forschung der Gegenwart und eine Erinnerung an das Werk A. Bastians", Münster (LIT Verlag), S. 198, Fußnote 69
  3. Siehe: Tamara Neubauer, "Welche Rolle spielen kulturelle Differenzen in der Sozial- & Kulturanthropologie", Arbeit zur Vorlesung interkulturelle Philosophie: Einführung: Ao. Univ.-Prof. Dr. Franz Martin Wimmer, WS 2003/04 (PDF-Datei, KB; abgerufen: 06.02.2014; 217 kB)
  4. Siehe: Frank Heidemann, "Ethnologie - Eine Einführung", Göttingen, 2011, S. 56
  5. Ute Röschenthaler, "Der Weg der Bünde - Transethnische Forschung im Cross River-Gebiet", S. 428, in: Afrika Spectrum, 39 (2004) 3. 427-448 (PDF-Datei, 83,69 KB; abgerufen: 21.06.2011); Röschenthaler verweist auf: Bernhard Streck "Diffusion", in: B. Streck (Hrsg.), "Wörterbuch der Ethnologie", Köln (Dumont), 1987, S. 33-37
  6. Siehe: Ute Röschenthaler, op. cit.; als Primärquellen siehe: Friedrich Ratzel (1882): "Anthropogeographie. Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte". Stuttgart (Bibliothek Geographischer Handbücher), 1882; sowie: Ders., "Anthropogeographie. Teil 2: Die geographische Verbreitung des Menschen", Stuttgart (Bibliothek Geographischer Handbücher), 1891
  7. Anmerkung: Graebner, Ankermann und ihr Umfeld werden auch als 'Kölner Schule' des (klassischen) Diffusionismus bezeichnet. Siehe dazu etwa: Dieter Haller, "Die Suche nach dem Fremden: Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945-1990", Campus Verlag, 2012, S. 52
  8. Siehe: Baron Raglan (FitzRoy Richard Somerset), "How Came Civilization?", Methuen & co. ltd., 1939 (freier Download bei Internet Archive; abgerufen: 16.06.2013)
  9. Quelle: Karl-Heinz Kohl, "Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden: Eine Einführung", 3. Das Problem der Einheit der Kultur; 3.1 Auf der Suche nach der Urkultur, C.H.Beck, 2012 (zit. nach den Auszügen ohne Seitenangabe bei Google Books)
  10. Siehe: Michael Goldstein, Gail King und Meghan Wright, "Diffusionism and Acculturation", bei: Department of Anthropology, University of Alabama (abgerufen: 12.03.2014)
  11. Anmerkung des Verfassers (bb): ... keineswegs ganz zu Unrecht, um dies angesichts des Untertons in diesem Zitat hinzuzufügen ...
  12. Quelle: Wilhelm Pratscher und Robert Schelander (Hrsg.), "Wiener Jahrbuch für Theologie 2012", V&R unipress GmbH, 2012, S. 146

Bild-Quellen:

1) BArchBot bei Wikimedia Commons, unter: File:Bundesarchiv Bild 183-R35179, Prof. Friedrich Ratzel.jpg (Bildbearbeitung durch Atlantisforschung.de)
2) EvelinaB bei Wikipedia - The Free Encyclopedia, unter: File:Raglanlarge.jpg (Bildbearbeitung durch Atlantisforschung.de)