Die 'Grünen Kinder' von Woolpit (Teil 2)

Einige Interpretations-Versuche zu den 'Grünen Kindern'

Abb. 1 Eine Abbildung der 'grünen Kinder' ziert heute auch das Ortsschild der Gemeinde Woolpit in Suffolk.

(bb) Da diese mysteriöse Geschichte seit Jahrhunderten durch die Literatur geistert, gibt es natürlich bereits eine ganze Reihe von Interpretations-Ansätzen dazu, von denen wir einige charakteristische kurz vorstellen wollen. So wurden (zu Recht) Ähnlichkeiten der Woolpit-Kinder mit den Legenden der Feenwelt bemerkt. Karl P. Shuker stellte dazu (2001) fest: "Die herausragende britische Volkskundlerin Dr. Katharine Briggs bemerkte in >A Dictionary of Fairies< (1976), dass sie eine Reihe von Motiven, wie grüne Farbe, ein Zwielicht-Land, oder unterirdische Welten beinhaltet, die für Feen-Märchen kennzeichnend sind. Könnte es sich bei dieser ganzen Story also um nichts anderes als eine weitere Legende von Elfen oder Märchengestalten Feen handeln, welche die Menschen besuchen?" [1] In diese Richtung gehen auch Interpretationen, welche die Kinder als fiktionale Gestalten betrachten, mithin als "Personifikationen der Natur, vergleichbar etwa dem >Grünen Mann< oder >Jack in the Green<." [2]

Andere Versuche, eine "vernünftige" Erklärung der Geschichte im Rahmen gängiger Interpretations-Muster zu finden, orientierten sich eher an einer Auswertung des Lokal-Kolorits von Suffolk und Norfolk. Eine dieser Thesen besagt: "In den 80er Jahren besuchte der Forscher Paul Harris Woolpit und erfuhr, dass die Bewohner annahmen, die Geschichte gehe auf eine Legende von einem Grafen zurück, der im Mittelalter in Norfolk herrschte und der Vormund von zwei Kindern war. Er versuchte vergebens die Kinder mit Arsen zu vergiften und setzte sie schließlich im 'Wayland Wood' aus. Hier würden sie sicher sterben und er könnte das Anwesen, das sie bei ihrer Volljährigkeit erhalten sollten, übernehmen.

Laut der Bewohner von Woolpit wurden daraus wahrscheinlich die grünen Kinder, die man später krank und verwirrt, jedoch lebend fand. Das Erstaunliche bei dieser Erklärung ist, dass die Haut durch Arsenvergiftungen grün werden kann. Das selbe Phänomen kann auch bei Blutarmut auftreten, die durch Unterernährung entsteht, woran die Kinder wahrscheinlich litten." [3] Harris fasste auch die Möglichkeit ins Auge, es könne sich bei den 'Grünen Kindern' um verirrte Sprösslinge von Immigranten aus dem nördlichen Skandinavien gehandelt haben, wo es weitaus weniger Licht als im sonnigen Suffolk gab.

Haben wir es hier also lediglich mit den üblichen, banalen Verfälschungen und Ausschmückungen zu tun, die sich um den historischen Kern eines sagenhaften oder legendären Ereignisses gerankt haben? Natürlich ist dies möglich, aber bevor wir uns unter "Ockhams Rasiermesser" legen und uns mit einer derartigen '0-8-15'-Antwort zufrieden geben können, sollten wir zunächst ohne 'Scheuklappen' prüfen, ob es keine anderen diskussionswürdigen Erklärungen für das vorliegende Phänomen gibt.

Abb. 2 Kamen die mysterösen Geschwister womöglich aus einer Hohlwelt im Inneren unserer Erde?

Die grenzwissenschaftlichen bis spekulativen oder auch phantastischen Vorschläge zur Lösung des Rätsels der 'Grünen Kinder' sind erstaunlicher Weise recht überschaubar. So nahmen etwa Anhänger einer Hohlwelttheorie an, "dass die Grünen Kinder aus einer verborgenen Welt gekommen seien, die sich im Inneren der Erde befinde". [4] Ausschlaggebend für diese Annahme waren vor allem zwei Aspekte der Legende: Erstens seien die Kinder in der Nähe von Höhlen entdeckt worden, was den Schluss nahelege, sie seien durch unterirdische Gänge in die Grafschaft Suffolk gelangt, und zweitens ließe sich die geschilderte Umwelt von "St. Martins-Land" mit ihrem "Dämmerlicht" durchaus im Kontext eines Hohlwelt-Szenarios interpretieren.

Zwingend, oder auch nur halbwegs überzeugend war und ist diese Vorstellung jedoch nicht. Selbst wenn wir nämlich - um des Arguments willen - eine hypothetische 'Unterwelt' im Erdinneren voraussetzen, so wäre jedoch ein recht ansehnlicher Fußmarsch von dort durch ein ebenso hypothetisches, in Dunkelheit gehülltes Höhlensystem bis zur Oberfläche vorauszusetzen, der weder von den Geschwistern erwähnt wurde, noch von ihnen alleine, ohne Hilfsmittel und Proviant, zu bewältigen war.

Kommen wir zu einer weiteren außenseiterischen Hypothese. Bereits im 19. Jahrhundert war gemutmaßt worden, die 'Grünen Kinder' seien als interplanetare Wanderer vom Mars oder von der Venus gekommen. 1959 hatte dann Harold T. Wilkins in seinem Buch "Mysteries Solved and Unsolved" angenommen, "dass diese Kinder von einer >Welt der vierten Dimension gekommen sind, [die] Seite an Seite mit der unseren< existierte. Er meine zudem, dass die Geschichte >implizieren könnte, dass sie von irgendeiner Welt im All herteleportiert wurden ... wo die Menschen unter der Erde leben." [5] 1997 stellte schließlich der Astronom, Journalist und Buchautor Duncan Lunan (Abb. 3) eine interstellare Hypothese zur Herkunft der 'Grünen Kinder' vor: "Bei einer Rede in London vor der Jahres-Konferenz (UnConvention), die vom populären britischen Magazin Fortean Times, schlug er vor, dass die Grünen Kinder in Wirklichkeit Aliens, die durch die Fehlfunktion eines Materie-Transmitters versehentlich von einem anderen Planeten zur Erde transportiert worden seien.

Abb. 3 War die Fehlfunktion des 'Materie-Transmitters' einer fremden, humanoiden Rasse die Ursache für das plötzliche Auftauchen der 'Grünen Kinder' bei Woolpit? Duncan Lunan (Bild) ging 1997 mit dieser skurrilen Hypothese an die Öffentlichkeit.

Lunan sagte, dies beweise, dass sie aus einem anderen Sonnensystem gekommen seien, wo der Planet in Relation zu seiner Sonne in der selben Position stand [sic!]. Die Chroniken berichteten, wie sich die Farbe der Kinder veränderte, als sie begannen die [in England] gewonnene Nahrung zu essen. Der Junge starb später an Depressionen [sic!], das Mädchen, Agnes Barre, wurde vier Jahre später mit einem hochrangigen Botschafter von Henry II. verheiratet." [6]

Lunan "behauptete, es gebe Anhaltspunkte für eine Vertuschungs-Aktion nach Auffindung der Kinder, möglicherweise um Beweise für den >Materie-Transmitter< zu verbergen, der dazu notwendig gewesen wäre, um sie zur Erde zu transferieren. [...] Er sagte, [in diesem Zusammenhang] sei es auch seltsam, dass Henry II. das 60-Seelen-Dorf >annektiert< habe und seinem Vizekanzler die Kontrolle darüber auftrug. [...] Lunan sagte, die ganze Story sei so seltsam, dass man zum Schluss kommen müsse, dass die Kinder von einem anderen Planeten gewesen seien. >Es ist faszinierend. Wenn Sie den historischen Hintergrund Ernst nehmen, dann müssen Sie auch den Rest ernst nehmen<, sagte er. >Es muss eine Art extra-terrestrischer Kontakt gewesen sein. [...] Diese Menschen haben einen unbewohnten Planeten übernommen und einen Teil davon bewohnbar gemacht. Sie müssen über ein hohes technologisches Level verfügt haben<." [7]

Filtern wir die haltbaren bzw. verwertbaren Ergebnisse von Lunans Überlegungen heraus, so bleibt nicht viel Definitives übrig. Tatsächlich ist das meiste wildeste Spekulation. Weder liefern die Originalberichte auch nur kleinste Anhaltspunkte für einen explizit extraterrestrischen Ursprung, noch finden wir dort Hinweise auf ein "hohes technologisches Level", über das die Kinder verfügt hätten. Immerhin sorgte der kurzfristige Rummel um Lunans Alien-Hypothese für ein unerwartetes Neben-Ergebnis: "Nachdem er seine Behauptungen in einem amerikanischen Magazin veröffentlicht hatte, schickte ein Leser, der in Amerika lebt, seinen Stammbaum an Lunan, der zeigte, dass er ein Nachfahre von [Agnes] Barre war." [8]

Auch wenn der hypothetische Materie-Transmitter, den Lunan voraussetzt, zunächst einmal ebenfalls ein reines Gedanken-Konstrukt darstellt, so zeigt er jedoch an, dass sich der phantasiebegabte schottische Autor mit einem sehr wesentlichen Aspekt der Geschichte von den Zwillingen beschäftigt hat: Der Tatsache nämlich, dass die Reise der Kinder - wenn wir ihre überlieferten Angaben dazu ernst nehmen - in NULLZEIT (jedenfalls ohne relevanten Zeitverlust) erfolgt sein muss. In einem Moment waren sie noch in ihrer grünen, nebelverhangenen Dämmerwelt, um sich gleich darauf im grellen Sonnenlicht Suffolks wiederzufinden.

Abb. 4 Existieren parallele Kontinua neben dem unseren? Sagen und Legenden berichten jedenfalls immer wieder von verborgenen Orten - in tiefen Wäldern oder im Inneren von Bergen -, an denen man unvermittelt in fremdartige und unwirkliche Welten mit seltsamen Bewohnern überwechseln kann.

Allerdings haben wir, wenn wir uns an die Aussagen in den Original-Berichten der beiden mittelalterlichen Chronisten halten, überhaupt keinen Anlass die Verwendung eines solchen hypothetischen Gerätes zu vermuten: Die beiden Geschwister waren ja keineswegs auf Reisen, benutzten also auch kein Transportmittel, und wussten nicht einmal, warum sie sich plötzlich in einer 'anderen Welt' befanden. Auch die übrigen Vermutungen Lunans sind mehr oder weniger unglaubwürdig. Schließlich gibt es, um es abschließend festzuhalten, keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die seltsamen Geschwister einer außerirdischen Spezies angehörten - immerhin scheinen sie mit 'unsereins' genetisch kompatibel gewesen zu sein.

Eine andere Möglichkeit ihrer Identifikation deutet der Grenzwissenschafts-Autor Tom Slemen an, wenn er zur Auffassung gelangt: "Die einzigen glaubhaften Möglichkeiten scheinen die extraterrestrischen oder Parallelwelt-Hypothesen zu sein. Die Grünen Kinder könnten versehentlich von einem anderen Planeten zur Erde teleportiert worden sein, oder sie könnten durch irgendein Naturphänomen unfreiwillig von ihrer Dimension in unsere transportiert worden sein." [9] Damit hat Slemen eine neue Form transdimensionalen Transports ins Spiel gebracht. Nachdem Wilkins mit der interstellaren Teleportation und Lunan mit seinem "Fern-Transmitter" eine (mehr oder weniger ohne Zeitverlust verlaufende) Versetzung der Kinder von einem Ort unseres Universums an einen anderen voraussetzten, kann Slemen sich auch ihr Überwechseln aus einem Parallel-Kontinuum vorstellen.

Letzterer Interpretationsansatz mag aus konformistisch-schulwissenschaftlichem Blickwinkel skurril, abstrus - oder zumindest 'gewöhnungsbedürftig' erscheinen, stellt aus Sicht des Verfassers jedoch einen stringentere Erklärung für das Phänomen der 'grünen Kinder von Woolpit' dar (deren Historizität jedenfalls einigermaßen gesichert erscheint) als die, mit Verlaub, an den Haaren herbeigezogene, krypto-technologische bzw. 'Paläo-SETI'-artige Annahme eines missglückten Transmittertransports durch außerirdische Intelligenzen, und er erscheint ihm allemal seriöser als Ausdeutungen im Kontext der seines Erachtens nach indiskutablen 'Hohlweltlehre'.

Immerhin gehörte die Überzeugung von der Realität einer "autre monde" (Anderswelt) - oder auch mehrerer Paralleluniversen 'neben' unserem eigenen Raumzeit-Kontinuum - nicht nur zum Weltbild vieler alter Kulturen (z.B. der Kelten, sondern erfährt auch eine gewisse Rechtfertigung durch die moderne Naturwissenschaft [10]. Die Hypothese, es könne - zumindest temporäre - 'Pforten' zwischen unserem Kontinuum und 'anderen Welten' geben, die ein gewolltes oder auch unfreiwilliges Überwechseln zwischen ihnen möglich machen, würde jedenfalls eine ganze Reihe paranormaler Phänomäne - vom 'Venusberg-Motiv' in alten Berichten bis hin zum Rätsel des so genannten 'Bermuda-Dreiecks' [11] - aus Vergangenheit und Gegenwart zufriedenstellend erklären.


Anmerkungen und Quellen

Dieser bisher unveröffentlichte Beitrag von Bernhard Beier wurde bereits im Jahr 2004 verfasst und erscheint im April 2015 bei Atlantisforschung.de. Die meisten zu seiner Erstellung verwendeten Internet-Quellen sind inzwischen nicht mehr online.

Fußnoten:

  1. Quelle: Dr. Karl P. N. Shuker, "The Green Children of Woolpit", in: FATE Magazine 2001-05-01, nach LLEWELLYN, New Worlds of Mind and Spirit - fate 175 (nicht mehr online)
  2. Quelle: worldofthestrange.com (nicht mehr online)
  3. Quelle: o.A., "Green Children of Olde England", bei UFO Dimension (nicht mehr online)
  4. Quelle: o.A., "Die grünen Kinder von Woolpit", bei beepworld.de
  5. Quelle: o.A., "Green Children of Olde England", bei UFO Dimension (nicht mehr online)
  6. Quelle: ebd.
  7. Quelle: Dr. Karl P. N. Shuker, "The Green Children of Woolpit", in: FATE Magazine 2001-05-01, nach: LLEWELLYN - New Worlds of Mind and Spirit (nicht mehr online)
  8. Quelle: "An Evergreen Story 'Green Children' Fact Or Fiction? (1999-4-19)" (nicht mehr online), bei worldofthestrange.com
  9. Quelle: Tom Slemen, "The Strange Tale of the Green Children" (nicht mehr online)
  10. Siehe dazu einführend z.B.: Peter Byrne, "Die Parallelwelten des Hugh Everett", in: Spektrum der Wissenschaft. 2008, Heft 4
  11. Siehe dazu bei Atlantisforschung.de auch: "Das Bermuda-Dreieck und Atlantis" von Charles Berlitz

Bild-Quellen:

1) Rod Bacon (TL9762: The "green children" of Woolpit on the village sign bei geograph.org.uk), via Wikimedia Commons, unter: File:WoolpitSign.jpg
2) http://www.hsound.de/Arianni/index2.html (nicht mehr online)
3) McMarcoP bei Wikimedia Commons, unter: File:LunanChildrSky.JPG
4) Spectrum Wellbeing New Age and Unusual Items (Bild-URL)