Meine Arbeit an der „Sozialen Skulptur“ (nach Joseph Beuys) - Ethnologie der anderen Art.

Version vom 30. Juli 2009, 14:01 Uhr von Bb (Diskussion | Beiträge)
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von Dr. Renate Schukies

Die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts waren geprägt von einem freien, experimentellen Zeitgeist, der auch vor dem Hamburger Institut für Ethnologie nicht Halt machte. Mit der Gründung der studentischen „Castaneda-Arbeitsgruppe“, die instituts- und fächerübergreifend einen gewissen Kultstatus erreichte, sprengten wir die inhaltlichen Begrenzungen konventioneller Seminare und Vorlesungen. Neue Ideen, neue theoretische und methodische Ansätze, hier wurden sie diskutiert. Wir wollten die Welt für uns neu entdecken, wollten mit Schamanen durch geistige Welten reisen, - in das Museum für Völkerkunde führte der Weg allerdings nur selten. Warum auch? Betrachtete man das ethnologische Institut als „wissenschaftlich verkrustet“, befand sich das Museum in einer Art „Totenstarre“, - ein wissenschaftlicher Elfenbeinturm.

In der ethnologischen Ausbildung spezialisierte ich mich auf die Kulturen Nordamerikas. Es war die Zeit des Erstarkens des Indianischen Widerstandes, des American Indian Movement (AIM) und des Longest Walk. Wir bezogen politisch Stellung auf Seiten der Unterdrückten. Mit Claus Biegert verfasste ich das Buch survival schools, von dem ein Exemplar, wie ich jetzt erfuhr, in die DDR geschmuggelt wurde und dort jahrelang kursierte. Während meines zweijährigen Feldforschungsaufenthaltes bei den Südlichen Cheyenne in Oklahoma, gehörte der Schutz ihres heiligen Berges und die Unterstützung ihres spirituellen Führers bei der Implementierung des American Indian Religious Freedom Act (1978/79) zu den wichtigsten Aufgaben. Unter Leitung des Cheyenne Arrow Keeper Edward Red Hat und Prof. Karl Schlesier arbeiteten wir nach den Grundsätzen der action anthropology.

Ich hatte den engen akademischen Rahmen verlassen und nicht nur geografisches, sondern auch wissenschaftliches Neuland betreten. Die Weiten von Plains und Prärie, der Kontakt mit den Cheyenne und die Zusammenarbeit mit einem so engagierten Professor wie Karl Schlesier bildeten eine einmalige und äußerst privilegierte Lernsituation. Ab 1981, zurück in Hamburg, intensivierte ich meine Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst, damals noch freie Kunst genannt. Wieder betrat ich Neuland: Malerei, Skulptur, Film, Performance, Design, Innenarchitektur. Es folgten viele Ausstellungen und andere große Projekte. Am Hamburger Institut herrschte noch immer derselbe alte Geist. Erst ein Jahrzehnt später, mit neuer Professorin, konnte ich endlich meine Dissertation so verfassen, wie sie meinen eigenen Erfahrungen und eigenem Denken entsprach (1993).

Fasziniert von den umstrittenen Theorien Immanuel Velikovskys, von denen ich 1978 zum ersten Mal in den U.S.A. hörte, begann ich zu diesem interdisziplinären und komplexen Thema zu forschen. In den 90er Jahren spezialisierte ich mich auf Zeichen und Symbole. Ich hielt diverse Vorträge vor Fachkollegen, nur um immer wieder erkennen zu müssen, wie begrenzt doch das konventionelle akademische Denken ist. Das ich die Ergebnisse meiner Forschung 1995 in New York auf dem Velikovsky Centennial Celebration Symposium vorstellen konnte, empfand ich als große Ehre. Im selben Jahr wurde ich gebeten, mich als Professorin für die Leitung des Institutes für Sakrale Kunst an der Kunstakademie Wien zu bewerben, im Gremium Peter Sloterdjik. Ich war bereit für das ganz Große, und fand mich ein Jahr später - bei den ganz Kleinen!

Das Museum für Völkerkunde Hamburg suchte Mitarbeiter, um Kinder durch die neue Sonderausstellung „Indianer der Plains und Prärie“ zu führen. Zum ersten Mal hörte ich vom Museumsdienst. Wieder durch Friderike Seithel, die bereits den Kontakt zum Cheyenne Projekt vermittelt hatte. Da ich am Anfang meiner beruflichen Laufbahn Sozialarbeit und Sozialpädagogik studiert hatte und auch über praktische Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verfügte, schien diese Anfrage fast schicksalhaft. Mit der Kombination meiner Ausbildungen hielt ich mich zwar für die Aufgabe geeignet, war mir trotzdem nicht sicher, ob ich sie würde erfüllen können. Ich bewarb mich 1996 für die einjährige Dauer der Sonderausstellung um die freiberufliche Tätigkeit beim Museumsdienst Hamburg am Museum für Völkerkunde Hamburg.

Das gelungene Konzept der Ausstellung, das Ausstellungsdesign und die vorhandenen Objekte auf großer Ausstellungsfläche, boten eine wunderbare Grundlage, um das Thema Indianer der Plains und Prärie unter allen Aspekten zu beleuchten und zu vermitteln. Was mich besonders erfreute, ich hatte jegliche Freiheit bei der inhaltlichen Gestaltung meines Vortrages. Leitfaden war dabei für mich nicht das Alter der zu führenden Besucher, sondern das, was ich selbst über die fremde Kultur gelernt hatte und was mir interessant erschien, weiter zu vermitteln. Ich versuchte, die ausgestellten Objekte durch spannende Erzählungen aus dem eigenen Erfahrungsbereich zu beleben. Von Anfang an erwies sich diese Authentizität als ein unschätzbarer Vorteil bei der Wissensvermittlung an kleine und große Besucher. Nach einer gewissen Anzahl von Führungen hatte ich mich frei gesprochen. Die positiven Rückmeldungen inspirierten mich wiederum, meinen Vortrag immer weiter zu verfeinern.

Offensichtlich hatte ich eine gewisse Fähigkeit zum Erzählen. Kinder bedankten sich, „sie hätten alles verstanden“. Gerade der Vermittlungsprozess an Kinder erfordert die Komprimierung von komplexen Sachverhalten in eine verständliche Sprache. Und ich hatte überraschenderweise auch Spaß an dieser sehr direkten Art des Kontakts. Nach der langen Zeit des einsamen Forschens und der Stunden vor der Staffelei genoss ich die Begegnung mit den vielen unterschiedlichen Menschen. Oft wird die verständliche Vermittlung von Wissenschaft an die Öffentlichkeit mit einem negativen Unterton als „populärwissenschaftlich“ bezeichnet. Forschung und Wissenschaft sind jedoch kein Selbstzweck, sondern sollten dem Wohle der Gesellschaft dienen und den Menschen helfen bei der „Vermehrung gewonnener Einsichten“.

Der Strom der Schulklassen schwoll an und wollte nicht enden. Die Führungszeit pro Schulklasse wurde auf eine Stunde reduziert. Jeden Tag, über die gesamte Ausstellungszeit hindurch, führte ich zwischen 10 Uhr und 13 Uhr drei Schulklassen jeder Altersstufe durch die Ausstellung. Hinzu kamen viele Führungen mit Erwachsenen und Sonderaktionen. Eine unglaubliche körperliche und geistige Anstrengung. Zu den vorhandenen drei Mitarbeitern wurden zwei weitere engagiert, die einiges aus meinem Vortrag für den eigenen übernahmen. Oft bewegten wir uns mit mehreren Führungen gleichzeitig durch die Räumlichkeiten. Dass die Vermittlung von Wissen auch gesundheitsgefährdend sein kann, musste ich dann leider auch erfahren. Viele Besucher verbreiten entsprechend viele Bakterien und Viren, im Zustand körperlicher Erschöpfung versagt dann das beste Immunsystem.

Das Hamburger Museum hatte sich verändert. Im Zuge der Zeit und unter neuer Leitung von Prof. Dr. Wulf Köpke herrschte ein experimentierfreudiger Geist. Von den 1997 neu erarbeiteten Leitbildaussagen seien hier einige genannt: „Wir haben Respekt vor allen Kulturen. Wir verschaffen allen Kulturen Respekt. Wir sind ein lebendiges Museum, das mit vielfältigen Aktivitäten alle Sinne anspricht. Wir bieten ein Forum für den partnerschaftlichen Austausch zwischen Menschen aller Kulturen. Wir bieten wissenschaftlich fundierte, verständliche Informationen unter Einbeziehung der Eigensicht der jeweiligen Kultur. Mit einem attraktiven, breitgefächerten Ausstellungs- und Veranstaltungsangebot wenden wir uns an unterschiedlichste Zielgruppen. Bei unseren vielfältigen Aktivitäten fühlen wir uns dem Bezug zur Aktualität verpflichtet. Wir sorgen dafür, dass unsere Besucher sich bei uns wohlfühlen und die Nutzer mit uns zufrieden sind.“ Das Museum hatte den akademischen Elfenbeinturm verlassen. Neues war möglich und Kreativität gefordert.

Bereits zu Beginn der Ausstellung wurde eine Idee aus England, Übernachten im Museum, zur Diskussion gestellt. Ich war sofort begeistert. Letztendlich wurden mein Kollege Paul Röllke, Archäologe, Steinzeitspezialist und langjähriger Mitarbeiter beim Museumsdienst, und ich beauftragt, das Konzept für eine solche „Nacht im Museum“ zu entwickeln. Wir hatten den Anspruch, mehr zu bieten als nur einen ungewöhnlichen Schlafplatz, wie in England. Heraus kam das einzigartige Konzept „Eine Nacht im Tipidorf“, auch „Indianernacht“ genannt. Wir planten die Veranstaltung für Kinder im Alter zwischen 8 und 12 Jahren. Ausgerüstet mit Schlafsack, Zahnbürste und Kuscheltier kamen rd. 15 bis 20 Kinder um 18 Uhr ins Museum und erlebten bis in die tiefe Nacht hinein und vom frühen Morgen bis zur Abholzeit um 9.3o Uhr ein umfangreiches, spannendes, alle Sinne ansprechendes, unvergessliches Programm. 10 Jahre später erreichen mich folgende Rückmeldungen: Die Indianernächte gehörten bei einigen der jetzt Zwanzigjährigen zu den schönsten Erlebnissen der Kinderzeit, oder waren sogar unvergessener Höhepunkt.

Für die Realisierung des Projektes waren auf Seiten des Museums relativ hohe finanzielle Investitionen nötig. Glücklicherweise fand sich in Peter Fritz, langjährigen Leiter der Museumspädagogik am Museum, ein kreativer, offener, künstlerisch interessierter Vermittler. Zwei große Tipis wurden angeschafft und im Außenbereich neben dem Museum aufgestellt. Lederbekleidung wurde angefertigt, Federhauben aus Mexiko mitgebracht, spezielle Schlafunterlagen für die Tipis angefertigt, Pfeil und Bogen angeschafft, Prospekte gedruckt. Von den rund 50 Terminen, die wir während der Ausstellungszeit geplant hatten, wurden alle realisiert. Wir waren ausgebucht. Es kamen viele, viele Kinder, Kinder mit ihren Eltern, und Erwachsene ohne Kinder, die unsere Nacht erleben wollten. Neben dem Museumsgebäude loderten die Feuer. Auf dem einem brodelte der Topf mit Bisonfleischsuppe, im anderen glühten die Steine für die nächtliche Schwitzhütte. Wir arbeiteten, spielten und schliefen auch in den Ausstellungsräumen. Wider das gängige Vorurteil, wurde von den Kindern weder etwas beschädigt noch gestohlen.

In den Medien, und in der allgemeinen Öffentlichkeit war die Resonanz auf die Indianernacht sehr groß und sehr positiv. Wir machten damit Schlagzeilen. Und wir sind so anmaßend zu glauben, das die Idee zur „Langen Nacht der Museen“ vor diesem Hintergrund entwickelt wurde. Die Sonderausstellung „Indianer der Plains und Prärie“ wurde zu einer der erfolgreichsten des Museums. Nach herrschender Verfahrensweise wäre mit dem Ende der Sonderausstellung auch das Ende der Indianernächte besiegelt gewesen. Doch Paul und ich sahen neue Möglichkeiten. Wir hatten mit den Indianernächten das beste projektorientierte Lernprogramm zum Thema Indianer der Plains und Prärie entwickelt, das wir uns vorstellen konnten. Unsere Erfahrungen hatten gezeigt, dass der Erfolg der Veranstaltung primär mit den vermittelten Inhalten und Aktivitäten zu tun hatte und nicht so sehr mit den ausgestellten Objekten. Wir wollten die Indianernächte weiterhin anbieten. Neue schwerpunktmäßige Zielgruppe waren Schulklassen.

Mittlerweile war mir klar geworden, dass ich auf den Spaß und die Freude, die diese Arbeit mit den Kindern machte, nicht mehr verzichten wollte. Mein Vertrag wurde um ein weiteres Jahr verlängert. So geht es jetzt seit dreizehn Jahren. Zudem ist es eine sehr ehrenvolle und wichtige Aufgabe, sein Wissen an die nächste Generation weiterzugeben. Es geht dabei nicht so sehr um die Weitergabe von Fakten, sondern darum, bei den Kindern das eigene Denken zu wecken, dies am besten in einer liebevollen und stressfreien Atmosphäre. In den nächsten Jahren sollten Paul und ich noch viele Indianernächte gemeinsam durchführen. Für die Sonderausstellung Mexiko kreierten wir Aztekennächte. In Struktur und Ablauf ähnlich der Indianernacht. Später realisierten andere Kollegen: Afrikanächte, Hexennächte, neuerdings Lesenächte. Bis auf das Völkerkundemuseum Basel, das die Indianernacht im Rahmen einer großen Tabakausstellung buchte, scheiterten unsere Versuche, das Projekt anderen Museen anzudienen, an der vorherrschenden Angst vor „Feuer und Zerstörung“.

Um auch ein Programm im Rahmen der normalen Veranstaltungspalette des Museumsdienstes anbieten zu können, komprimierte ich die Indianernacht auf ein dreistündiges Kindergeburtstagsprogramm: „Bei den Indianern der Plains und Prärie“. Sehr schnell gehörte auch diese Veranstaltung wieder zu den beliebtesten des Museumsdienstes. Es ergaben sich noch viele andere unerwartete Möglichkeiten zur Durchführung dieses Kurzprogramms. Über 5 Jahre waren Paul und ich damit jeden Sommer erfolgreich für die Werkstatt 3 tätig (Globales Lernen, Agenda 21). Der Flughafen Hamburg buchte uns 2005 für das Rahmenprogramm zur Eröffnung des neuen Terminals. 2006 ging ich mit Pfeil und Bogen an Bord der MS Europa auf eine Reise, die mich bis nach Spitzbergen, zum Polarkreis führte. Manchmal nimmt das Leben überraschende Wendungen.

Zu meinen potentiellen Berufswünschen hatte ursprünglich auch die Seefahrt gehört. Nach der Promotion bewarb ich mich mit dem Konzept „action painting“ bei Hapag-Lloyd. Bei dem hohen Durchschnittsalter der Passagiere verwundert es nicht, dass die Zusammenarbeit nicht zustande kam. Fast 10 Jahre später, entdeckt mich eine Mitarbeiterin auf der Suche nach neuen Veranstaltungen auf den Internetseiten des Museums. Auf die Frage, was ich auf einer Reise nach Südamerika in einem Workshop, anbieten könne, antwortete ich spontan: Federn. Wieder ergab sich eine unvorhersehbare und auch unplanbare Verknüpfung: In der Aztekennacht hatten sich die Kinder nach originalen Vorbildern Prunk- und Kampfschilde aus Federn hergestellt. Genau das machten dann auch die Teilnehmer des Workshops auf dem Expeditionsschiff MS Bremen. Nach einigen Reisen hat sich das Angebot erweitert: Federmasken, Federtaschen, Federschmuck. In einem Vortrag für alle Passagiere stelle ich die schönsten ethnologischen Federobjekte aus aller Welt vor, auch aus der Welt der Haute Couture.

So konnte ich die Welt umrunden und für mich selbst entdecken. Wir fuhren die Küsten Südamerikas entlang und überquerten den Südpazifik. In tropischen Gewässern sah ich Tahiti vor mir liegen, wie Cook und seine Männer es gesehen hatten. Auf den Marquesas erwies ich Paul Gauguin die Ehre. Situationen und Gesichter schien ich von seinen Bildern schon zu kennen. Und auch auf diesen vordergründig touristischen Reisen kann ich Entdeckungen machen, die für meine ethnologische Forschung wichtig sind. Ein kreativer Kreis war geschlossen, als ich den ersten Feder-Workshop mit einer Schulklasse am Museum für Völkerkunde durchführte. Doch vor und zwischen diesen Reisen lagen und liegen Jahre und Monate der täglichen Arbeit am Museum.

Nach Ende der Sonderausstellung schrumpfte die Abteilung Plains und Prärie im Ausstellungssaal Amerika zu einem optischen Nichts. Die wenigen Objekte waren verborgen hinter Wänden, deren enge Sehschlitze in Höhen angebracht waren, die Kinder kaum erreichen konnten. Zur Illustration meines Vortrags legte ich deshalb eine Mappe mit rd. 80 laminierten Bildern an. Da die traditionelle indianische Kultur eine Erzählkultur ist, was sich bis heute nicht verändert hat, verzichtete ich bei der Konzeption meiner Schulklassenführung „Mein Leben bei Cheyenne Indianern“ auf den Einsatz technisch aufwendiger Medien. Was mich, angesichts verschwundener und nicht funktionierender Projektoren oder sonstiger Abspielgeräte, vor vielen Panikattacken bewahrte.

Bei der Wissensvermittlung an Kinder geht es nicht nur um Theorie, sondern auch um die Praxis. Dabei kommen mir natürlich meine künstlerischen Erfahrungen und mein ästhetisches Empfinden zugute. Wir entwickelten einen Tipi-Bausatz für kleine Spielzelte aus Leder, die von den Kindern in den Nächten bemalt und aufgebaut werden, Armbänder aus Leder, zum Bemalen mit indianischen Zeichen und Symbolen, ebenso kleine Medizinbeutel. Erst nachdem ich Hunderte und Tausende dieser Tipis, Medizinbeutel und Armbänder mit der Hand geschnitten hatte, beauftragte ich eine Firma mit der Produktion. All dies in Eigeninitiative und Eigenfinanzierung. Von den ersten unbeholfenen Versuchen hat sich diese Unternehmung so weit professionalisiert, das Tipis und Armbänder inzwischen auch im Museumsshop erhältlich sind. Lehrer können die Bausätze für ihre Klassen bei mir bestellen.

In der Amerikaabteilung war die Leitbildaussage „Wohlfühlen“ für Kinder nicht umgesetzt. Auf der Suche nach einem gemütlichen Platz in der Abteilung landeten wir neben der Jurte vor der gemalten Kulisse der „mongolischen Prärie“. Ein für Kinderarbeit vorgesehener Bereich neben der Amerikaabteilung, ausreichend groß, war zugestellt mit Tischen und Stühlen. Man wusste am Abend nicht, was der Morgen an Platten, Leitern und sperrigen Gerätschaften bringen würde. Als sich der Raum endgültig in ein Sperrmülllager verwandelt hatte, wurde den Besuchern dieser Anblick kurzerhand durch einen schwarzen Molton -Vorhang verwehrt. Spätestens da hatte ich die Idee, diesen Bereich in eine Szenerie der Indianer der Plains und Prärie zu verwandeln, in Anlehnung an die künstlerische Gestaltung der vergangenen Sonderausstellung. Von dieser Idee, bis hin zur tatsächlichen Umsetzung, sollten 4 Jahre vergehen.

Wir forderten die Umgestaltung des Raums mit zwei Argumenten. Mein täglicher Einsatz von Dienstag bis Samstag, am Vormittag mit Schulklassen, am Nachmittag mit Kindergeburtstagen, erforderte so etwas wie einen festen Arbeitsplatz. Für die Indianernächte brauchten wir wieder eine ansprechend gestaltete Umgebung im Innenbereich. Zu oft hatte es uns draußen in die Tipis hineingeregnet, oder wir mussten Kinder in ihren Schlafsäcken aus Pfützen ziehen, während Gewitter über uns tobten. Dann musste es plötzlich ganz schnell gehen. Zur Eröffnung der neuen Fotoausstellung „Indianer“ sollte alles fertig sein. In einer „Tag und Nacht Aktion“ bemalte ich mit einer weiteren Künstlerin drei Wände mit indianischen Szenen. Der Fußboden wurde zur grünen Prärie. Eine große, runde Matratze wurde ausgelegt, auf der sich die Kinder, während sie zuhörten, auch lang ausstrecken konnten. Dies auf echten Bären-, Luchs- und Vielfraßfellen. Vom Zoll beschlagnahmte Schmuggelware, die ich auf meine Anfrage speziell für die Arbeit mit Kindern zur Verfügung gestellt bekam. Beim Erzählen saß ich vor einem in Originalgröße gemalten Tipi. Zusätzlich wurde mitten in der Amerikaabteilung ein großes, von einem indianischen Künstler bemaltes Zelt aufgestellt, das bespielt werden durfte. Zusammen erweckte dies optisch durchaus den Eindruck eines Tipidorfs.

Alle Kinder und alle Erwachsenen genossen die neue Situation. Unvergessen die Nächte, in denen es sich die Kinder dort zum Schlafen gemütlich machten. Paul erzählte die Gutenachtgeschichten und in der Dunkelheit durch den leuchtenden Sternenhimmel flog ein leuchtender Adler. Die Effekte, mit denen ich auch in der bildenden Kunst experimentierte, floureszierende und phosphorisierende Farben in Verbindung mit Lumineszenzlicht (Schwarzlicht), hatte ich auch in der Wandmalerei eingesetzt. Während des normalen Museumsbetriebs, bei Tageslicht, war davon nichts zu sehen. Die leuchtenden Sterne der Prärie haben wir uns dann, zur Überraschung aller, einfach „angeknipst“. Manche Kinder wollten am nächsten Morgen nicht nach Hause gehen. Andere wollten noch eine Woche bleiben. Etliche Kinder und Erwachsene kamen mehrere Male. Kurt hat abends zu Hause geweint, weil er die Indianernacht nun nicht mehr erleben konnte. In all den Jahren erreichten uns viele begeisterte Dankesbriefe von Kindern, Eltern und Lehrern. Ein Mädchen meinte, „Ihr seid wie Vater und Mutter“. So werden auch der Cheyenne Pfeilhüter und seine Frau genannt, in deren Familie ich zwei lange Jahre gelebt habe, sie sind Vater und Mutter für den ganzen Stamm. Ein schöneres Kompliment konnte man Paul und mir nicht machen.

Doch die Freude währte nicht lange. Nach nur wenigen Jahren begann die Sanierungs- und Umbauphase des Museums. Es wurde angedacht, die Abteilung Museumspädagogik zu schließen. Aber alle Kollegen wollten ihre Arbeit fortsetzen, egal unter welchen Umständen. Mit viel gutem Willen, Enthusiasmus, Kreativität und starken Nerven haben alle die Situation über mehrere Jahre gemeistert. Meines Wissens ohne nennenswerte Buchungsrückgänge. Die Indianer trommelten und tanzten überall, ob in der Afrikaabteilung, in den Magazinen, neben Baugerüsten, am Maori-Haus, oder in Südostasien. Egal wo, mit der runden, weichen Matratze, den Fellen und einigen anderen Requisiten gelang es immer, eine indianische Atmosphäre zu kreieren. Im Dezember 2008 wurde nun endlich eine neue permanente Amerikaabteilung eröffnet. Der Bereich Indianer der Plains und Prärie ist wieder so gestaltet, dass eine optimale Situation für die museumspädagogische Arbeit gegeben ist.

Vor einem sehr schön gemalten Hintergrund, dem blauen Himmel der Prärie, grasenden Bisonherden und Tipidorf, sind jetzt zwei reale Zelte aufgestellt. Die Szene ist so gestaltet, dass ein perspektivischer Eindruck entsteht. Das kleine Jagdtipi ist szenisch ausgestattet mit Figuren und Objekten. Im großen Familientipi können museumspädagogischen Aktivitäten stattfinden und es ist ansonsten allen Besuchern zugänglich. In der Mitte des Zelts leuchtet ein elektrisches Lagerfeuer, zu beiden Seiten liegen Matratzen und Felle, alle offenen Flächen sind ausgelegt mit Kuhfellen. Oben an den Zeltstangen wurden drei kleine Lämpchen installiert, die für eine gewisse Grundhelligkeit im Zelt sorgen. Während meines Vortrags sitze ich jetzt auf einem indianischen Stuhl, backrest, und bin so ausgeleuchtet, dass ich meine Bildersammlung und andere Requisiten jetzt auch im Zelt zeigen kann. Die Kinder lagern sich bequem auf den Fellen um das Lagerfeuer herum und wollen es am liebsten gar nicht verlassen.

Mit diesen drei kurz vorgestellten Veranstaltungen habe ich in den vergangenen 13 Jahren, über 40 000 Kinder begeistern können. Des öfteren stehen Kinder am Anfang vor mir mit Bemerkungen wie: “Museum ist langweilig“. Einer stand weinend vor dem Museum und wollte nicht rein: “Da muss ich nur die Treppen rauf und runter!“ Nach den Veranstaltungen sagen sie dann: “Museum ist toll!“ Wenn ich meine Geschichten erzähle und die Bilder illustrierend dazu zeige, lauschen alle ganz gebannt, ob es Drei- und Vierjährige sind, Vorschulkinder, Grundschulklassen, Jugendliche oder Erwachsene. Dies ist erst einmal dem Thema geschuldet, von dem alle fasziniert sind. Dann ist es die Authentizität meiner Erzählungen. Und die Mischung der Geschichten und Fakten, die interdisziplinär viele unterschiedliche Themen und Fragen beleuchten. Diese Vielfalt macht es auch möglich, mit dem Vortrag so unterschiedliche Altersgruppen gleichzeitig anzusprechen. Und was besonders wichtig ist, man spürt meine Liebe und mein Engagement für das Volk der Cheyenne. Nach Karl Schlesier ist eine solche Zuneigung eine unabdingbare Grundlage für gute ethnologische Forschung. Aber nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Lehre.

Beim Lernprozess erweist sich die Kombination von Bild und Sprache als sehr erfolgreich. Wenn dann noch das sinnliche Erleben hinzukommt wie bei der Durchführung von unterschiedlichen Ritualen, ist es optimal. In der Indianernacht und bei den Geburtstagsfeiern werden die Kinder u.a. in den Stamm des Morgensterns aufgenommen, der mittlerweile Stammesmitglieder aus vielen verschiedenen Nationen und Ländern hat. Dabei trinken wir Wasser aus einem Gefäß, reinigen uns mit dem Rauch von sweetgrass, mit der Pfeife der Wahrheit beten wir zum Großen Geist. Dies führt natürlich bei allen Beteiligten zu unterschiedlichen Reaktionen, aus denen ich einiges über jedes Kind erfahren kann. Bei der Namensgebung nannte sich z. B. ein kleiner Junge „Bison ohne Kopf“. Er litt unter unerträglichen chronischen Kopfschmerzen. Die Kinder spüren, dass ich sie ernst nehme und öffnen sich sehr leicht. Ich versuche, auf jedes Kind einzugehen, dabei ist grundsätzlich der Augenkontakt mit allen sehr wichtig. Oft werden vor den Indianernächten oder den Geburtstagen Kinder mit allen möglichen Auffälligkeiten angekündigt, von denen in den meisten Fällen dann nichts zum Vorschein kommt.

Bei dieser immensen Anzahl von Veranstaltungen, könnte man fragen, „ob es nicht langweilig wird?“ Nein. Denn immer sitzen andere Kinder mit neuen Fragen, Gedanken, neuen Ideen vor mir, die das Gespräch in nie vorhergesehene Bahnen lenken können. Ich lerne ebenso von Kindern. Es ist, als hätte sich ein morphologisches Feld auf die neue Generation gelegt. Kinder wissen manchmal Fakten, die ich erst im 1. Semester gelernt habe. In den Aztekennächten, als wir über das Sonnensystem diskutierten, kannten viele schon die Planeten, und manche auch noch in der richtigen Reihenfolge. Kinder sind sehr liebevoll allem Lebenden gegenüber, haben ein großes Gerechtigkeitsgefühl, können wagemutig denken. Wenn ich sehe, das es mir gelingt, Interesse für das Thema zu wecken, zu neuen Einsichten zu verhelfen, Misskonzeptionen zu korrigieren und Liebe zu den Menschen einer fremden Kultur zu wecken, bin ich sehr froh, dass ich diese Arbeit am Museum machen kann. Was ich anfänglich eher als „Job zum Geldverdienen“ ansah, ist heute für mich eine Berufung. Auch diese Erkenntnis ein langer persönlicher Entwicklungs- und Lernprozess. Im künstlerischen Sinne ist dies für mich die Arbeit an der „Sozialen Skulptur“ nach Joseph Beuys. Ich verzichte auf das künstlerische Bewegen von tonnenschweren Materialien und arbeite auf geistiger Ebene an der „Sozialen Skulptur“, - an der Gesellschaft.

Diese geistigen Sphären betreten wir auch dann, wenn wir über Medizinmänner, Schutzgeister und Visionen sprechen. Hierin nun liegt das für mich eigentlich Bedeutsame meiner museumspädagogischen ethnologischen Arbeit. Aus dem Versuch heraus, Kindern und Erwachsenen ein Verständnis über die spirituelle indianische Welt zu vermitteln, hat sich für mich ein neues Forschungsthema erschlossen: Haben Kinder Begegnungen, Erfahrungen und Erlebnisse mit Schutzgeistern? Auf die Frage: „Haben wir auch Schutzgeister wie die Indianer?“ bekomme ich zumeist die Antwort; „Ja, Schutzengel!“ Dass dies ein passender Vergleich ist, wurde mir durch Prof. Richard Atleo vom Volk der Nootka in einem persönlichen Gespräch bestätigt. Die Cheyenne hatten mich schon vor langer Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass Kinder mit dieser geistigen Welt noch in sehr guter Verbindung stehen. Und in der Tat, von den vielen Tausenden von mir befragten Kindern verfügt ein sehr hoher Prozentsatz über Erfahrungen mit Schutzgeistern. Ich habe viele wunderliche Geschichten gehört, deren Inhalt und Form sehr unterschiedlich, aber oft auch deckungsgleich, sind. Während Cheyenne Kinder mit ihren Visionen und Träumen auf verständnisvolle Zuhörer treffen, die sie ernst nehmen, stehen die Kinder bei uns vor rat- und hilflosen Eltern, die damit in der Regel nichts anfangen können.

Auf diese Weise wird den Kindern schon sehr früh der Zugang zu dieser geistigen Welt verschlossen. Als sinnsuchender Erwachsener muss dieser Zugang dann mühsam wieder geöffnet werden, - wenn überhaupt. In einer immer materialistischer werdenden Gesellschaft hat gerade die Ethnologie die Aufgabe und die Verpflichtung, die schamanische Welt zu verstehen, sie zu vermitteln, zu helfen, diese zu bewahren und zu schützen. Nicht nur zum Wohle und zum Überleben der kleinen Stammesgesellschaften, sondern auch zum Wohle und Überleben unserer eigenen Gesellschaft. So sehe ich es mittlerweile als meine sehr spezielle Aufgabe an, den Kindern diese geistige Welt und den Umgang damit, so gut ich kann, zu vermitteln und zu erklären. Bei vielen Menschen sind diese Fragestellungen sicherlich auch ein Hauptbeweggrund, gerade das Museum für Völkerkunde zu besuchen. Nachdem ich die Teilnehmer der Konferenz „White-Indian Relations: moving into the 21st Century“, durch die Ausstellung geführt hatte, verabschiedete sich Prof. Atleo, mit den Worten „Now I have hope. I never expected to hear a speech like this at a museum!

Vom ersten empörten Kommentar der Abteilungsleitung Amerika, „was ist denn hier plötzlich für eine Unruhe?“ bis heute hat sich vieles verändert. Das Museum erreicht mit seinen vielfältigen Veranstaltungen nun eine breitere Öffentlichkeit. Die Museumspädagogik bietet dabei ungeahnte Möglichkeiten der Vermittlung von Wissenschaft und Forschung. Das Programm steht oder fällt natürlich mit den Fähigkeiten der Mitarbeiter. Kinder verdienen das Beste. Sie sind unsere Zukunft auch die Zukunft der Museen. Die Mitarbeiter der Museumspädagogik sind dabei für Museen von besonderer Bedeutung. Denn sie erwecken die Ausstellungen zum Leben, und repräsentieren das Museum in ihrer täglichen Arbeit. Stellung und Bewertung der museumspädagogischen Arbeit sind jedoch in der herkömmlichen, hierarchischen Museumsstruktur immer noch eine andere. Dabei sind Museen wunderbare, außerschulische Lernorte mit einmaligen Bedingungen, wahre „Schatzinseln des Wissens und des Lernens“, die es zu entdecken gilt. Es bleibt zu hoffen, dass im Zuge finanzieller Miseren und Pisa-Studien-Ergebnisse nicht wieder am falschen Ende gespart wird. Denn bisher haben Kinder das Museum für Völkerkunde zum beliebtesten Museum Hamburgs gewählt.


Literatur

Biegert, Claus (1979) Indianerschulen. Als Indianer überleben – von Indianern lernen. survival schools, rororo sachbuch

Schlesier, Karl (1984) Die Wölfe des Himmels, Diederichs

Schukies, Renate (1993) Red Hat, Cheyenne Blue Sky Maker and Keeper of the Sacred Arrows, Medizinkulturen im Vergleich, Bd. 10, Lit. (1994) Hüter der Heiligen Pfeile, Red Hat erzählt die Geschichte der Cheyenne, Diederichs. (1995) Hüter der Heiligen Pfeile, Hörbuch, Blindenbibliothek, Hamburg. (2002) Hüter der Heiligen Pfeile, Lamuv Taschenbuch 310

Schukies, Renate (1995) The birth of Venus out of Orion. In: Proceedings of the Immanuel Velikovsky Centennial Celebration 1895-1995, Ivy Press Books, S. 35-88

Schukies, Renate (1996/97) Der Morgenstern. In: Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde Hamburg, Indianer der Plains und Prärien, Neue Folge, Bd. 26/27, S. 9-45

Seithel, Friderike (2000) Von der Kolonialethnologie zur advocacy anthroplogy, Lit.

Dr. Renate Schukies ist Ethnologin und bildende Künstlerin. Sie ist freiberuflich tätig für den Museumsdienst Hamburg am Museum für Völkerkunde Hamburg und reist für mehrere Reedereien um die Welt.