Nordsibirische Felsbilder an der Eismeerküste

von Prof. Miroslav Ksica und Olga Ksicová M. A., Brno (Tschechische Republik)

Abb. 1 Die Verteilung von 1015 wichtigsten Felsbild-Fundstellen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion: A = Europäischer Teil (33); B = Kaukasus (122); C = Ural (41); D = Zentralasien (206); E = Sibirien (542); F = Ferner Osten, incl. Kurilenarchipel (71).

Immer mehr Felsgravierungen, Zeichnungen und stellenweise auch Malereien werden auf dem riesigen Gebiet Sibiriens, vom Ural bis zur Küste des Stillen Ozeans und des nördlichen Eismeeres, entdeckt. Sie kommen ausnahmslos in der Nähe der gewaltigen sibirischen Ströme und Seen, am Ob, Jenissei, an der Angara, Lena, am Baikalsee und am Amur vor.

Die Tatsache, dass sich die prähistorischen Ansiedlungen vorwiegend an den großen Flüssen bildeten, entspringt nicht allein dem Umstand, dass der Fischfang den Bewohnern einen wesentlichen Teil der Ernährung sicherte. Wichtig war auch, dass in der undurchdringlichen Taiga die Wasserläufe oft die einzige Möglichkeit einer Kommunikation boten. Das wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass es auch heute noch, im 20. Jahrhundert, in Sibirien bei allem technischen Fortschritt, Gebiete gibt, die entweder nur durch die Luft oder über das Wasser per Binnenschiffen, oder im Winter, wenn die starke Vereisung den Lastwagenkolonnen einen verlässlichen Weg gewährt, mit verschiedenen Gütern versorgt werden können.

Bei der Beurteilung der Felsbildkunst Sibiriens, insbesondere bei Erwägungen über ihr Alter, können wir uns nicht an die gebräuchlichen Kriterien halten, denn Sibirien ist eines der großen Länder der Welt, wo sich die einzelnen Epochen, insbesondere die älterer Zeitalter, also Paläolithikum, Mesolithikum und Neolithikum, in ihrer ganzen Ausdehnung überschneiden. In einzelnen Teilen Sibiriens überdauerten diese längst vergangenen Phasen viel länger als anderwärts auf der Erdkugel. Die Gebiete mit den häufigsten Vorkommen der Felsbildkunst bilden in Sibirien ein breites geographisches Band, das den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion gegen die Mongolei und China hin folgt. Der östliche Zipfel Sibiriens, der von der Mündung der Lena bis zur Beringstraße ungefähr 2.600 Kilometer misst, verengt sich gegen Osten allmählich von 1.200 auf knappe fünfzig Kilometer. Dieses am dünnsten besiedelte Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gehört zum überwiegenden Teil zu Jakutien, mit dem kältesten Punkt der Welt bei Werchnojansk und mit den mächtigen Flüssen Jana, Indigirka und Kolyma, von wo wir bisher fast keine Fundorte von Felsbildern kennen, selbst wenn wir voraussetzen, dass die prähistorischen Bewohner Sibiriens auch hier Spuren ihrer Existenz auf den Felsen hinterlassen haben müssen. Zu dieser Annahme berechtigt uns eine Reihe von Fundstätten am Fluss Pegtymel nahe der Eismeerküste im Nationalkreis der Tschukotischen Halbinsel.

Abb. 2 Tiere, Jäger in Booten beim Harpunieren eines Wales, der ein Boot umstürzt, auf welchem ein Mensch steht; ein Eisbär und bei den Händen sich haltende menschliche Gestalten. Ausgepickte Gravierungen, spätes Neolithikum (Sibirien, tschukotischer Nationalkreis, Fluss Pegtymel, E 536)

Zu den interessantesten Entdeckungen vorzeitlicher Kunst gehören die Felsgravierungen am Fluss Pegtymel. Sie wurden im Jahre 1965 von dem Geologen Samorukow auf Schiefersteinwänden, ungefähr fünfzig bis sechzig Kilometer vor der Mündung des Flusses Pegtymel ins Eismeer, gefunden. Es sind die nördlichsten bisher bekannten Felsbilder der Welt. Obwohl der Forscher die Fundstätte (1200 Meter von der Einmündung des Baches Kajkul am Fluss entlang) ziemlich genau präzisiert hatte, gelang es erst im Jahre 1967 dem Leiter des Forschungsinstitutes in Magadan, N. N. Dikow, die Gravierungen wieder aufzufinden. Bei der Suche nach den von Samorukow gesichteten Bildern konnte er noch viele weitere Gravierungen an acht verschiedenen Orten entdecken. Im Jahre 1968 wurden die Forschungen fortgesetzt. Bei dieser Gelegenheit stieß man auf zwei neolitische Siedlungen, auf eine kleine Höhle mit Petroglyphen und, zehn Kilometer davon entfernt, auf eine Reihe ähnlicher Gravierungen, gleichfalls bei einer Siedlung aus dem späteren Neolithikum.

Diese Ausgrabungen ermöglichten eine zeitliche Einreihung der Gravierungen. Die ältesten könnten im -1. Jahrtausend entstanden sein, in welchem hier Kulturen aus dem späten Neolithikum andauerten, obgleich in anderen Teilen Sibiriens die Bronzezeit bereits zu Ende ging und die Eisenzeit begann. Jüngere Schichten von Gravierungen sind mit dem 1. nachchrist-lichen Jahrtausend datiert, stammen demnach aus einer Zeit, in der hier verschiedene ethnische Gruppen, vor allem die Ahnen der heutigen Tschuktschen, siedelten. Sie hält N. N. Dikow (1971) für die Urheber der Gravierungen.

Auf die Richtigkeit dieser Annahme deutet eine Reihe von Motiven von der Jagd auf Walfische und andere Meerestiere hin, sowie auf Tiere der Tundra, vor allem Rentiere. Die Jagden in diesen Gegenden vollzogen sich nicht in der Weise, wie wir sie aus unzähligen Belegen der Felsbildkunst kennen, sondern auf eine Art, wie sie die Tschuktschen bis zum heutigen Tag betreiben. Sie erwarten die Rentiere an Stellen, wo die Tiere gemeinsam über den Fluss schwimmen, und im Wasser werden sie dann mit Speeren oder Keulen erschlagen. Dann werden die toten oder betäuben Rentiere mithilfe der Leder-Kajaks herausgeholt.

Abb. 3 Szene mit einem Jäger, der mit einem Boot im Fluss fährt. Die Hirsche auf der linken Seite stehen auf den Köpfen menschlicher Figuren (Sibirien, tschukotischer Nationalkreis, Fluss Pegtymel, E 538).

Zu ganz einzig dastehenden Abbildungen gehören Gruppen von weiblichen Gestalten, die von vorne mit ausgebreiteten Armen und zwei zur Seite abstehenden Zöpfen dargestellt sind, wie dies etwa durch den Schwung beim Tanzen verursacht wird. Alle weiblichen Gestalten, bis auf eine einzige in einem langen, wallenden Gewand, sind nackt und mit sehr markant hervortretenden Hüften und Brüsten dargestellt; auf dem Kopf haben sie in sechsunddreißig Fällen eigentümliche pilzförmige Verzierungen. Vielleicht symbolisieren diese eine sibirische Art von Fliegenpilzen, die bei den Tschuktschen als Rauschmittel verwendet werden. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass dieser pilzförmige Kopfschmuck Schamaninnen charakterisiert. Sie tanzen wie in Trance, hervorgerufen durch den in der Vorzeit weit verbreiteten Genuss von Fliegenpilz, und weissagen dazu.

Es könnten aber auch Göttinnen gewesen sein, die Urmütter des Wildes, von welchen manche sibirische Sagen und Märchen erzählen. In diese Szene einkomponierte Tiergestalten deuten vielleicht darauf hin, dass die weiblichen überirdischen Gestalten einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Welt der Tiere haben, wie das in Sibirien oft der Fall war. Obwohl an allen diesen Fundstätten Szenen von der Jagd auf Rentiere oder Walfische vorherrschen, kommen hier auch noch andere Motive vor, z.B. Sonnenzeichen oder weidende und sich paarende Tiere. Interessant ist die Abbildung eines Jägers, der mit einem Bären kämpft. Dieses Motiv ist insbesondere aus der plastischen Kunst der Eskimo und Tschuktschen bekannt.

Die Technik der Bilder gleicht der aus dem übrigen Norden, aus Karelien und Skandinavien, und zwar handelt es sich um das Aushauen von Punkten aus der Steinfläche mit irgendeinem steinernen Werkzeug. Auch der Stil der abgebildeten Tiere zeigt viele gemeinsame Merkmale. Die Einmaligkeit der Gravierungen besteht jedoch darin, dass sie die Jagd auf das Wild beim Durchschwimmen der Flüsse derart augenfällig demonstrieren, insbesondere auch darin, dass sie die Einzelheiten von Jagden auf Robben zur Kenntnis bringen, wovon bisher in der Kunst der Vorzeit keinerlei Zeugnisse vorlagen. Daher bedeutet dieser Komplex von Gravierungen, der die nördlichsten Werke der Felsbildkunst überhaupt zeigt, eine Bereicherung unserer Kenntnisse. Insbesondere berechtigen die Funde am Flusse Pegtymel zu der Annahme, dass sein Gebiet nicht der einzige Landstrich an der Küste des Eismeeres ist, wo einst in der Vorzeit die Felsbildkunst gepflegt wurde, und daher sind von dieser Seite noch weitere Überraschungen zu erwarten.


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Prof. Miroslav Ksica und Olga Ksicová M. A., Brno (Tschechische Republik) wurde erstmals veröffentlicht in EFODON-SYNESIS Nr. 16/1996, online unter http://www.efodon.de/html/archiv/vorgeschichte/ksica/sy16.htm


Literatur

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Bild-Quelle:

Abbildungen 1-3, © Miroslav Ksica, online unter http://www.efodon.de/html/archiv/vorgeschichte/ksica/sy16.htm