Schulwissenschaft - Parawissenschaft - Pseudowissenschaft

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von unserem Gastautor Dr. Horst Friedrich

Abb. 1 Ist die Alchemie eine Wissenschaft oder 'Pseudowissenschaft? Mit dieser Frage hat sich der Alchemie-Experte und Wissenschaftshistoriker Dr. Horst Friedrich 2003 in einem längeren Essay ausführlich befasst, dem dieser Beitrag entnommen wurde. (Bild: Carl Spitzweg, 'Der Alchemist', ca. 1860)

Es erscheint mir aufschlussreich, zu den Stichwörtern "Wissenschaft" und "Wissen" auch zwei verbreitete Wörterbücher zu befragen: den deutschen Duden [1] und den englischen Collins [2] Nach dem Duden ist

  • Wissenschaft = "argumentativ gestütztes Wissen hervorbringende forschende Tätigkeit in einem bestimmten Bereich".

Man kann der Duden-Redaktion zu dieser ebenso simplen wie genialen Definition nur gratulieren! Sie trifft den Kern der Sache, und ihr ist nichts hinzuzufügen. Man beachte, dass bei dieser Definition nicht von "gesichertem Wissen", sondern lediglich von "argumentativ gestütztem Wissen" die Rede ist. Allzu oft sind ja nämlich Dinge, die uns heute als "wissenschaftlich erwiesene Tatsachen" verkauft werden, genaugenommen nur Spekulationen, These oder "majority opinion".

Beim Collins ist die Lage etwas anders, weil das engliche "science" sowohl das deutsche "Wissenschaft" im Allgemeinen, als auch speziell die Naturwissenschaft bedeuten kann. Wir entnehmen daher dem Collins (übersetzt) folgende zwei Definitionen für "Wissenschaft":

  • A) Das systematische Studium von Natur und Verhalten des materiell-physikalischen Universums, beruhend auf Beobachtung und messendem Experiment, respektive das so erhaltene Wissen;
  • B) jeglicher Korpus auf systematische Weise organisierten Wissens.

Wobei wiederum "Wissen" ("knowledge") vom Collins, nicht unzutreffend als Gelehrtheit ("erudition or informed learning") definiert wird. Gelehrtheit braucht jedoch, wie wir alle wissen, nicht notwendigerweise in "gesichertem Wissen" bestehen. Gelehrte haben sich schon oft geirrt, sind schon oft, sogar über längere Zeit hinweg, einem vermeintlich gesicherten, später als falsch erkannten "Paradigma" [3] nachgelaufen.

Entgegen der von den "Skeptikern" und ihnen nahestehenden Schulwissenschaftlern verbreiteten Meinungen scheint es also, unter Berücksichtigung solcher "Wissens"-Definitionen, sowohl nach dem Duden, als auch nach der Collins-Definition B) durchaus legitim, vermeintliche [...] "Parawissenschaften" wie Homöopathie, Spagyrik und Astrologie als Wissenschaften zu bezeichnen.

Man kann nicht, wie ein Spötter einmal auf die Skeptiker-Organisationen gemünzt, bemerkte, vermeintliche "Pseudowissenschaften mittels Pseudowissenschaft bekämpfen" wollen. Leider ist aber das Gros unserer universitären Wissenschaftler, von den Studenten bis selbst in die Reihen der Professoren hinein, in der "Wissenschaft von der Wissenschaft" nicht gerade sattelfest.

Ein gerüttelt Maß an Kompetenz auf diesem Gebiet ist aber unentbehrlich, will man zum Status einer außeruniversitären Wissenschaft [...] eine ernst zu nehmende Aussage machen können. Allzuoft fühlen sich Schulwissenschaftler gedrängt, Verdammungsurteile auszusprechen und Ausgrenzungen vorzunehmen, zu denen sie nicht die zu fordernden Voraussetzungen besitzen. Mangels Kompetenz kommt ihnen nicht der Gedanke, dass der Vorwurf "pseudowissenschaftlich" nur eine nichtssagende "Killer-Phrase" sein könnte.

Wie der Verfasser andernorts [4] gezeigt hat, ist die simplistische schulwissenschaftliche Vorstellung von "Wissenschaft" und "Pseudowissenschaft" von der Realität weit entfernt. Man verdeutlicht sie am besten, indem man sich zwei nebeneinander im Raum schwebende Planeten vorstellt: auf dem einen leben die Personen, die "Wissenschaft" (= Schulwissenschaft) betreiben, getrennt davon auf dem anderen jene, die sich mit "Pseudowissenschaftlichem" (= Unwissenschaftlichem) befassen. Es handelt sich gewissermaßen um zwei Welten.

Diese Vorstellung übersieht das Faktum, dass es unter den Lehrmeinungen unserer Establishment-Wissenschaften von (aus streng wissenschaftsphilosophischer Sicht) Fragwürdigkeiten und Ungesichertem nur so wimmelt. Es ist von daher also selbstevident, dass diese beiden vermeintlich so unterschiedlichen "Planeten" in Wirklichkeit einander so unähnlich gar nicht sind. Man denke nur an die im Schoße der Establishment-Wissenschaft kreierten, unheilstiftenden Lehrmeinungen von vermeintlich existierenden, streng voneinander getrennten "Rassen" der Menschheit. War das nicht auch pseudowissenschaftlich, oder gar "Scharlatanerie"? Und doch fand das alles im Rahmen der organisierten Schulwissenschaft statt.

Es wurden die Begriffe "Establishment-Wissenschaft" und "Schulwissenschaft" gebraucht. Dazu sind einige erklärende Worte nötig. Mit "Establishment-Wissenschaft" soll hier die etablierte, hierarchisch organisierte Wissenschaft unserer Universitäten und anderer großer Forschungsinstitutionen gemeint sein. Es ist damit dasselbe gemeint, wofür umgangssprachlich und in der Wissenschaftssoziologie, die Bezeichnung "Schulwissenschaft" gebräuchlicher ist.

Die Establishment-Wissenschaft ist sozusagen ein weiter Mantel, unter dem die Vordenker, die einem neuen Paradigma zustreben, ebenso wie die mehr beharrenden oder retardierenden Kräfte ihren Platz haben. Selbstredend werden diese unterschiedlichen Strömungen, oder Segmente, gegenüber vermutlichen "Parawissenschaften" oder "Pseudowissenschaften" unterschiedliche Positionen einnehmen. [...]

Die ablehnende Position [...] werden wir von jener Strömung, oder jenem derzeit noch dominierenden Segment orthodoxer Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen innerhalb der Establishment-Wissenschaft [...] zu erwarten haben, für das des Verfassers Doktorvater (J.O. Fleckenstein) einst, im persönlichen Gespräch, die Bezeichnung einer neuen Scholastik prägte. Der Verfasser bevorzugt es, von "Neo-Scholastik" zu sprechen. Die Bezeichnung soll an die spätmittelalterliche Scholastik erinnern, die um 1600 von der "Scienza Nuova" der Spätrenaissance und des Barockzeitalters verdrängt wurde. Mit Neo-Scholastik soll also einfach das übermäßige lehrmeinungshafte, mehr retardierende Element innerhalb der Etablishment-Wissenschaft gemeint sein.

Wohl aus den Reihen der, den "Skeptikern" nahestehenden, Neo-Scholastik wurde auch die Vorstellung von vermeintlich existierenden "Parawissenschaften" geboren, die dann aber auch von den "devianten" Disziplinen gegenüber aufgeschlossenen Gelehrten [5] übernommen wurde. Schon das Wort ist unglücklich gewählt, auch kann mich die ganze Vorstellung letztlich nicht recht überzeugen. Die [...] "Skeptiker"-Organisation (GWUP) definiert eine "Parawissenschaft", um ein Beispiel zu geben, wie folgt:

  • "Mit diesem Begriff bezeichnet man Aussagesysteme, bei denen der mehr oder minder starke Verdacht besteht, daß es sich um eine Pseudowissenschaft handelt." [6]

Da aber aus wissenschaftsphilosophischer Sicht, wie wir gesehen haben, die Vorstellung von vermeintlich existierenden "Pseudowissenschaften" unhaltbar erscheint, entbehrt auch diese GWUP-Definition von "Parawissenschaft" eines nachvollziehbaren Sinnes. Diese Definition ist für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar wegen ihrer Abhängigkeit von dem verschwommenen Begriff der "Pseudowissenschaften", der nur eine leere "Worthülse" ist.

Im Übrigen kann die Vorsilbe "Para-" alles Mögliche bedeuten. Nach dem Collins erstens "beyond" (= jenseits, über ... hinaus), wie bei Parapsychologie, zweitens aber auch "defective" (= fehlerhaft, unvollkommen). Nach dem Duden kann drittens "Para-" auch "gegen" (Paralogie = Vernunftwidrigkeit), ja viertens sogar auch "neben" (etwa in Paraanthropus, Parasit, Parasympathikus) bedeuten. Soll man unter "Parawissenschaften" also nun Disziplinen verstehen, die a) über die üblichen Wissenschaften hinausgehen, b) quasi unvollkommene Vorformen von Wissenschaft sind [7], c) eine Art "Anti-Wissenschaft" darstellen oder d) die "offizielle" Wissenschaft als "Neben-Wissenschaften" ergänzen (wie paramilitärische Einheiten die regulären Truppen)? Oder alles gleichzeitig?

Man sieht: Für einen wissenschaftlich denkenden Geist sind dergleichen Wortbegriffe letztlich alle unbrauchbar. Die Abgrenzung des einen vom anderen ist viel zu sehr persönlicher Meinung und Willkür, auch der jeweiligen "Weltbild-Ideologie", unterworfen. Es sind keine "harten" Kriterien fassbar.

Die Vorstellung von vermeintlich existierenden "Pseudowissenschaften" und "Parawissenschaften" scheitert nach Ansicht des Verfassers auch am vielbeschworenen, in der wissenschaftlichen Alltagspraxis aber gerne verdrängten grundlegenden Prinzip der Einheit aller Wissenschaften. Die interdisziplinär-querverbindenden Forschungsbereiche, die unsere "Schubfächer"-Einteilung der Wissenschaften immer obsoleter erscheinen lassen, erweisen sich nämlich als mehr oder weniger identisch mit unseren "Pseudowissenschaften" und "Parawissenschaften". Ein typisches Beispiel in dieser Richtung dürfte die Radionik sein. [8]


Anmerkungen und Quellen

Alchemie Cover.jpg
Dieser Beitrag von Dr. Horst Friedrich ist ein Auszug aus seinem Essay "Ist die Alchemie eine Pseudowissenschaft?", das 2003 in der Anthologie "Hermetik & Alchemie: Betrachtungen am Ende des 20. Jahrhunderts" veröffentlicht wurde, die von Karin Figala und Helmut Gebelein herausgegeben wurde, und bei scientia nova - Verlag Neue Wissenschaft (Gaggenau) erschienen ist.

Einzelnachweise:

  1. Siehe: Duden Deutsches Universalwörterbuch. 2. völlig neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe, Mannheim/Wien/Zürich 1989
  2. Siehe: Collins Dictionary of the English Language. London/Glasgow 1985
  3. Anmerkung des Verfassers: Hierzu bestens Thomas S. Kuhn: "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen", Frankfurt am Main 1967. Ein "Paradigma" in Kuhns Sinne ist etwa gleichbedeutend mit einem "General-Dogma" oder einem (für eine gewisse Zeit von der "majority opinion" akzeptierten) Lehrmeinungskomplex.
  4. Siehe: Horst Friedrich, "Pseudowissenschaftlich" und "Parawissenschaften", in: Grenzgebiete der Wissenschaft, 46. Jahrgang, Nr. 4/1997
  5. Siehe etwa: Gerald L. Eberlein, "Schulwissenschaft - Parawissenschaft - Pseudowissenschaft", Stuttgart 1991
  6. Quelle: "GWUP - Wir stellen uns vor" (Broschüre der GWUP), Roßdorf 1996, S. 26
  7. Red. Anmerkung: ...was unwahrscheinlich erscheint, da hierfür der wissenschafts-theoretisch weitaus präzisere Terminus "Protowissenschaft" als allgemein eingeführt gelten darf.
  8. Anmerkung des Verfassers: Eine gute Einführung dazu geben Don Paris und Peter Köhne: "Die vorletzten Geheimnisse - Wo Wissenschaft und Weisheitslehren zusammenfinden", Nieby 1996


Bild-Quelle

Carl Spitzweg, 'Der Alchemist' (ca. 1860), nach: Wikimedia Commons, unter: File:Carl Spitzweg 015.jpg