Señor Kon-Tiki - Teil 1

Auferstehung der Osterinsel

von Andreas Delor

Abb. 1 Polyethnisch und multikulturell: Die Crew von Thor Heyerdahls Rietboot »Tigris« im Jahr 1978

Das Bedeutendste, was Señor Kon-Tiki geleistet hat, ist sicherlich sein Wiederaufleben-Lassen bzw. Neu-Beleben alter Kulturen inmitten der modernen Zivilisation: seine Ozeanüberquerungen auf „primitiven” Fahrzeugen („Einweihungsfahrten”), das Heraushauen, Transportieren und Aufrichten von Osterinsel-Steinriesen [1], das Wieder-Herstellen der alten Schilfboote, das Nachspielen des „Vogelmenschen“-Kultes und vieles andere mehr.

Damit begründet er nicht nur die experimentelle Archäologie, sondern auch eine „experimentelle Ethnologie“ – vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Und wirkt als Katalysator eines bis in die Gegenwart anschwellenden „spirituellen Erwachens“ der Polynesier sowie nord- und südamerikanischer Indianer – sogar bis in die Guanchen-Bewegung auf den Kanarischen Inseln lässt sich diese seine Wirksamkeit verfolgen. Heyerdahl trägt ein Janus-Antlitz: je tiefer er sich in die Vergangenheit eingräbt, desto mehr verändert er merkwürdigerweise die Gegenwart und Zukunft. Angesichts dessen muss ich gestehen, dass mir z.B. für den folgenden Text, der nur ein Beispiel von vielen ist, jegliches Verständnis fehlt:

Für Nikolai Grube verbirgt sich hinter dieser Haltung des Norwegers Ethnozentrismus, wenn nicht sogar Rassismus. Heyerdahl unterstellt den indigenen Völkern Amerikas – meint der Altamerikanist und Ethnologe – dass sie nicht in der Lage gewesen seien, eigenständig eine Schriftsprache, Kalendersysteme und Städte hervorzubringen. [...] Tatsächlich spricht aus Heyerdahls Büchern wenig Respekt für außereuropäische Völker. Die Polynesier nennt er in seinem Kon-Tiki-Buch [2] oft nur >die Braunen<, Afrikaner sind für ihn noch in den 1980er Jahren >Neger< und sein norwegischer Biograf Snorre Evensberger unterstellt zumindest dem jungen Thor Sympathien für den Nationalsozialismus.[3]

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Abb. 2 Schon fast bis zur Unkenntlichkeit verwittert: eine der großen Pyramiden von Tucumé, um deren Erforschung sich Thor Heyerdahl ganz besondere Verdienste erworben hat

Wer Señor Kon-Tiki kennt, wird wissen, dass man seinen Impuls wohl kaum auf perfidere Art ins Gegenteil verdrehen kann. In Wirklichkeit hat er erstens seine „Braunen“, Indianer und „Neger“ (jeder sprach damals noch von „Negern“; Heyerdahl aber nie auch nur in entfernt diskriminiernder Art!) unendlich geliebt und zur Verbesserung ihrer Lebensumstände beigetragen wie kein einziger seiner Kritiker es auch nur entfernt getan hat. Aus seinen Büchern spricht ein ungeheurer Respekt, ja Bewunderung für außereuropäische Völker, deren Einssein mit der Natur und deren einzigartige künstlerische Leistungen.

Am deutlichsten wird dies bei seinen Grabungen im peruanischen Tucumé [4], wo er, obgleich er tatsächlich unter ihrer Kriminalität zu leiden hat, das Lebensniveau der in elenden Verhältnissen lebenden Indianer spürbar hebt, ihnen eine Schule einrichtet usw. – letztlich tut er Ähnliches überall, wo er auftritt. Auf seinen „Ra“- und „Tigris“-Fahrten (Abb. 1) ist es ihm darum zu tun, eine multikulturelle – und multi-farbige – Gesellschaft im Kleinen an Bord zu haben – handelt so ein Rassist und Verächter außereuropäischer Völker?

Als Rassismus ausgelegt wird ihm vor allem die Erforschung vor-kolumbischer Kontakte zwischen Alter und Neuer Welt, auch zwischen Südamerika und Polynesien. Man unterstellt dem Norweger, er würde Indianern und Polynesiern keine eigene Hochkultur zutrauen; sie seien dazu auf Anstöße aus Europa angewiesen. Wer jedoch seine tiefe Verbundenheit mit letztlich sämtlichen Naturvölkern kennt und sein Entsetzen über das Verhalten seiner eigenen Rasse diesen gegenüber, dem kann deutlich werden, dass es ihm gerade um die Verbundenheit von Indianern und Europäern in früheren Zeiten geht – er selbst hat diese immer dargelebt. Als naiver Jüngling mag er tatsächlich auf die Nazi-Ideologie hereingefallen sein – wer war das nicht in der damaligen Zeit! Angesichts der tiefen Verehrung, die aber auch bereits der junge Thor etlichen polynesischen Eingeborenen-Persönlichkeiten entgegenbringt, ist dennoch schwer vorstellbar, dass er den Rassedünkel der Nazis auch nur entfernt übernommen haben soll. Wenig später beißt er sich durch widrigste Lebensumstände durch, nur um als Kriegsfreiwilliger gegen die Nazis kämpfen zu können. Können eigentlich seine Gegner auch anders als unter der Gürtellinie argumentieren?!

Abb. 3 Thor Heyerdahls erster Lehrmeister: Tei Tetua auf der Insel Fatu Hiva

Heyerdahl gehört zu denen, die fassungslos davorstehen, wie seine eigene Rasse seit Beginn der Neuzeit einen Holocaust sondergleichen an allen farbigen Völkern und gleichzeitig an der Natur verübte, eine Flut von Genoziden, Versklavungen, Folterungen, Vergewaltigungen, welche die abgrundtiefe Entwurzelung und Verelendung der Naturvölker zur Folge haben – und bei alledem den Planeten an den Abgrund brachte. Bis heute geht die Ausrottung indigener Völker ungebrochen weiter. Dass diese Denkungsart, welche die Umweltkatastrophe, zur hundertfachen Welt-Auslöschung fähige Waffensysteme, den weltweiten Siegeszug der Drogenmafia, Kindersoldatentum, neuartige Epidemien und eine Katastrophe nach der anderen, mit denen die Natur auf all das antwortet, hervorbringt, hat Heyerdahl nicht nur sehr scharfsichtig gesehen – er hat vor allem unsagbar darunter gelitten.

Und sucht zu retten, was zu retten ist. Überall auf der Welt, wo er auf „Eingeborene“ trifft, kann er gar nicht anders als indigene Spiritualität aufzufangen und kräftig wieder neu anzukurbeln. So viel wie möglich versucht er von ihnen zu lernen – sein erster Lehrmeister ist Tahitis letzter Oberhäuptling Teriieroo, sein zweiter der frühere Kannibale Tei Tetua (Abb. 3) auf Fatu Hiva, sein dritter Pedro Atan, Bürgermeister und Oberhaupt der „Langohren“ auf der Osterinsel – später (und teils auch früher) sind nord- und südamerikanische Indianer, Afrikaner vom Tschadsee, süd-irakische Sumpfbewohner auf schwimmenden Schilfinseln, Eingeborene der Malediven und kanarische Guanchen (die es offiziell nicht mehr gibt) seine Lehrmeister. Mit alledem ist er dabei, indigene Geistigkeit nachhaltig in die Gegenwart zu holen – eine „Transformation”. Überall, wo sie ihm begegneten, haben ihn die Indigenas dafür verehrt und geliebt.

Abb. 4 Eine Gruppe von Moai bei Rano Raraku auf der Osterinsel

Diese Seite von ihm ist noch kaum gewürdigt worden. Ich möchte einmal die Frage aufwerfen, ob nicht vielleicht, hätte es mehr Thor Heyerdahls, Laurens van der Posts und Frank Waters' gegeben, die sich im direkten Kontakt intensiv um die ureigene Spiritualität der Indigenas kümmerten, ob es dann, wäre soetwas z.B. gegenüber ISLAMISCHEN Völkern geschehen, in der Gegenwart zu dem bluttriefenden Versuch islamistischer Terroristen gekommen wäre, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Bedenkt man, dass z.B. Mahatma Gandhi – DER Repräsentant einer neuen Spiritualität schlechthin – nur deshalb „Gandhi werden konnte“, weil er in seiner Jugend ein westliches Studium durchgemacht und gelernt hat, auch wie ein Europäer zu denken, so mag ahnbar werden, dass vielleicht beide Elemente – uralte Spiritualität und moderne Wissenschaft – zusammenkommen müssen, damit etwas Neues entstehen kann. Ansonsten bleibt vielleicht nur noch die Alternative, ob die Welt durch die Selbstzerstörungskräfte moderner Zivilisation oder durch solche Versuche, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, zugrunde geht – es sieht ja ganz danach aus.

Ganz instinktiv hat Heyerdahl diese beiden Elemente zusammengebracht. Sicherlich bleibt er damit in gewisser Weise auf halbem Wege stecken, indem er gerade auf der Osterinsel den lebendigsten Rest der alten Kultur, die ihm begegnenden Phänomene der Magie und Hellsichtigkeit als Aberglauben abtut, statt sie wissenschaftlich zu untersuchen – dies ist das Einzige, was ich ihm vorzuwerfen habe.

Dennoch hat die Weltöffentlichkeit intuitiv die Mission Señor Kon-Tikis, als moderner Wissenschaftler uralte Spiritualität in die Gegenwart zu holen, durchaus begriffen, das hat z.B. seinem Buch „Aku-Aku“ die ungeheure Popularität verschafft (ebenso allerdings auch die eisige Ablehnung aller Fachkollegen). Wie schon eingangs bemerkt: Heyerdahl trägt ein Janus-Antlitz: je tiefer er sich in die Vergangenheit eingräbt, desto mehr verändert er die Gegenwart und Zukunft.



Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Red. Anmerkung: Siehe dazu online bei Osterinsel.de die Beiträge "Moai - Die Thor Heyerdahl Experimente" und "Der erste wiederaufgestellte Moai".
  2. Siehe: Thor Heyerdahl, "Kon-Tiki. Ein Floß treibt über den Pazifik, z.B.: Ullstein-Taschenbuch-Verlag, 2000
  3. Quelle: Udo Zindel, „Held der Meere und der Medien“ in „Abenteuer Archäologie“ 4/2007)
  4. Siehe: Thor Heyerdahl, "Die Pyramiden von Tucumé", München, 1995 und 2008

Bild-Quellen:

1) Helt bei Wikimedia Commons, unter: File:Tigris crew.jpg
2) Lourdes_Cardenal bei Wikimedia Commons, unter: File:PirámidesTúcume lou.jpg (Bildbearbeitung durch Atlantisforschung.de)
3) Oleg Prikhodko, Thor Heyerdahl. Fatu Hiva island
4) Kahusi und Anetode bei Wikimedia Commons, unter: File:Moai Rano raraku.jpg