Señor Kon-Tiki - Teil 12

„Aku-Aku“

von Andreas Delor

Abb. 1 Thor Heyerdahl auf der Osterinsel bei der Besichtigung
eines der plötzlich aufgegebenen Statuen-Steinbruche

Nach einer Forschungsreise auf die Galapagos-Inseln, wo er südamerikanische Tonscherben findet, nach dem Bau eines zweiten, kleinen Balsafloßes, auf welchem er mit Indianer-Hilfe das Navigieren mit Guaras, Steckschwertern, lernt, und vor allem nach einem gründlichen persönlichen Aufsuchen und Studium aller wichtigen Ausgrabungsstätten Perus und Mexikos vor Ort ist sein nächster wichtiger Coup eine Expedition, die zum ersten Mal systematische Ausgrabungen auf der Osterinsel vornimmt.

Das Kapitel „Aku-Aku“ in seinem Leben gehört zwar als eine Art Unterkapitel in die „Kon-Tiki“-Thematik, nimmt aber ein solches Eigengewicht ein und ist zudem unbestreitbar trotz Kon-Tiki der Höhepunkt seines ganzen Schaffens, dass es hier einen eigenen Abschnitt bekommen muss. Heyerdahl hat sich schicksalsmäßig die Osterinsel ausgesucht; von hier aus wirft er seine Angel immer tiefer in die Vergangenheit aus und holt atemberaubende weltweite Zusammenhänge ans Licht.

Abb. 2 Zeichnung eines typischen 'Langohrs' aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Zunächst trifft er auf dem „Nabel der Welt“ auf Spuren eines furchtbaren Kannibalismus, der hier noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts geherrscht hat. („Überall das gleiche Inventar“ sagte Bill und kratzte ein paar Backenzähne aus der Erde. „Da haben die alten Schweine gesessen, haben einander aufgefressen und die Zähne auf den Boden gespuckt.“; aus Heyerdahl: „Aku-Aku“, 1957). Hier zeigt sich, dass Heyerdahl solchen Erscheinungen – auch der drückenden Geisterfurcht auf dieser Insel – nicht mehr als „Zurück-zur-Natur-Hippie“, sondern als Wissenschaftler und aufgeklärter Vertreter der Zivilisation entgegentritt („vorwärts zur Natur“)!

Auch die Osterinsulaner bewahren die Überlieferung von zwei Völkern: den weißen, rothaarigen „Langohren“ (sie verlängerten sich künstlich die Ohrläppchen, wie das auch in weiten Teilen Perus und Mexikos üblich war), welche die rätselhaften großen Statuen schufen, und den polynesischen „Kurzohren“, die schließlich um 1680 die Langohren fast ausrotteten, nur 40 Jahre vor Ankunft der Europäer auf der Insel. Heyerdahl findet schließlich sogar den Feuergraben, in welchem die letzten Langohren verbrannt worden waren. Der beeindruckende Statuen-Steinbruch wurde fluchtartig Hals über Kopf verlassen, die Statuen in allen Stadien des Werdens aufgegeben, selbst die Steinbeile liegen zu Tausenden noch überall herum!

Abb. 3 Diese Zeichnung aus dem frühen 19. Jahrhundert zeigt einen der später zerstörten Rundtürme der Osterinsel.

Drei Phasen kann er in der Geschichte der Osterinsel unterscheiden: eine „archaische“ Zeit, deren Beginn im Dunkeln bleibt, wo die Erstbesiedler mörtel- und fugenlose „Zyklopenmauern“ [1] und Kolossalskulpturen völlig südamerikanischen Stils erschaffen, dann die „klassische“ Phase etwa ab 1100 n. Chr., in der, angestoßen durch neue Eroberer aus Südamerika, aus der Vermischng der beiden Elemente ein lokaler Stil entsteht und die bekannten Osterinsel-Riesen in großer Menge gefertigt und auf Plattformen aus der archaischen Zeit rund um die Küste aufgestellt werden – mit dem Blick nach innen, dem Meer abgewandt. In diese klassische Zeit fällt nach seiner Auffassung auch die Ankunft der „Kurzohren“ (heutige Polynesier), die aber von den Langohren zunächst in ihren Dienst gestellt werden, daran zu erkennen, dass die Kurzohren ihre polynesische Religion, Gebräuche, und Lebensweise völlig aufgeben, teilweise sogar ihre Sprache. Und die dritte Phase beginnt mit der Vernichtung der Langohren als eine Zeit der Bürgerkriege und des Kannibalismus, während der die Insel gleichzeitig sporadische und manchmal verheerende Besuche von Europäern bekommt.

Datierbare Holzkohle ergibt, dass die ersten Menschen spätestens um 380 n. Chr. die Osterinsel besiedelt haben (heute wird diese Datierung wegen ihrer Singularität angezweifelt). Unter den Eingeborenen gibt es noch einige wenige Nachfahren des letzten überlebenden Langohrs Ororoina, darunter einige, die so weiß sind, dass sie in jeder europäischen Stadt herumlaufen könnten ohne durch etwas anderes aufzufallen als ihre dunkelroten Haare. Nachgewiesenermaßen floss, als Señor Kon-Tiki die Insel besuchte, in den Adern dieser Langohren kein Tropfen 'Europäerblut'.

Abb. 4 Eine Gruppe von Osterinsulanern richtet eine der vielen umgestürzten Statuen nach ihrer alten Methode des Steine-Unterschiebens wieder auf.

Es zeigt sich, dass einige Insulaner, gerade die Nachfahren der „Langohren“, noch im Besitz geheimen Wissens ihrer Vorväter sind. Heyerdahl bringt sie dazu, unter Vollzug uralter heiliger Riten eine der vielen umgestürzten Osterinsel-Statuen nach ihrer alten Methode des Steine-Unterschiebens aufzurichten (Abb. 4), eine andere zu transportieren und sogar eine Statue anfänglich aus dem Felsen zu hauen. Allerdings müssen die Langohren-Nachkommen, obgleich sie wie ihre Vorväter den Felsen im Takt ihrer Gesänge mit den alten Steinbeilen bearbeiten, diesen letzteren Versuch mangels Übung nach drei Tagen abbrechen.

Für Heyerdahls späteres Leben entscheidend wird, was sie ihm von den Fahrzeugen der Osterinsel berichten: von Booten und großen, dreimastigen Schiffen aus Totora-Schilf (Abb. 5), das in den dortigen Kraterseen wächst und aus Südamerika kommt. Auf solchen Schilfflößen hatten die Langohren sogar ihre tonnenschweren Statuen transportiert. Ein kleines Modell wird von alten Fischern nachgebaut. Schilfschiffe – die ihn nicht nur auf das alte Peru und Mexiko, sondern vor allem auf das Mittelmeergebiet zur Zeit der Begründung der Hochkulturen verweisen – werden Thor Heyerdahl von da an nie mehr loslassen. Schließlich öffnen einige Insulaner ihm sogar ihre heiligen Familienhöhlen voller rätselhafter, nie gesehener Lava-Skulpturen – bis dahin noch im magischen Gebrauch ihrer Besitzer –, die er mit nach Norwegen ins Kon-Tiki-Museum nehmen darf.

Abb. 5 Totora-Schilf (Scirpus californicus) im Rano Kao Krater auf der Osterinsel

Es ist eine Mysterien-Übergabe eigener Art, die sich hier (durch sein Buch „Aku-Aku“ quasi vor den Augen der Weltöffentlichkeit) vollzieht. Er holt die Vergangenheit nicht für die verstaubenden Aktenordner der Wissenschaft hoch, sondern stellt sie durch seine Wiederbelebungs-Experimente mitten in die moderne Welt; ein Prozess, vergleichbar mit der Umschmelzung der „Kunst der Primitiven“, wie ihn viele avantgardistische Künstler vollzogen haben.

Die Eingeborenen sind felsenfest davon überzeugt, dass „Señor Kon-Tiki“ nicht nur über überirdische Kräfte verfügt, sondern auch aus einer Familie stammt, die früher einmal von der Osterinsel ausgewandert ist. (Nicht anders ergeht es ihm später auch in der Gegend von Tiahuanaco: „Du bist ein Viracocha“ sagt einmal ein alter Aymara-Indianer am Titicacasee zu ihm.) Die Bewohner des „Nabels der Welt“, den Thor Heyerdahl sein ganzes Leben lang immer wieder besucht, spüren, was er für ihre Insel bedeutet und wie schicksalsmäßig verbunden er ihr ist.

Abb. 6 Eines der großen wissenschaftlichen Werke Heyerdahls: Archaeology of Easter Island (1961)

Allerdings kann auch Thor Heyerdahl die Reste der Spiritualität, die ihm auf der Osterinsel (und anderswo) entgegenkommt, nicht wirklich ernstnehmen (was bislang kaum ein Archäologe schafft). Er kann die spirituelle Dimension der Langohren-Kultur, nach welcher er mit allen Fasern und Fibern seines Wesens sucht, im „Oberstübchen“ nur als Aberglauben auffassen – dabei begegnen ihm auf der Insel, wie sein Buch „Aku-Aku“ verrät, auf Schritt und Tritt Reste übersinnlicher Fähigkeiten. Dies ist der Grund, warum er den letzten Langohren nicht noch wesentlich tiefere Geheimnisse entlocken kann. Er spiegelt ihnen nur vor, er nähme ihre spirituellen Fähigkeiten ernst. Dadurch kommt durchaus eine gewisse Lüge in seine ganze Arbeit hinein – die Frucht seiner Arbeit auf der Osterinsel wird dadurch letztlich infrage gestellt. Ratlos schaut Heyerdahl zu, wie er selber die Reste der Langohren-Kultur zerstört („zweiter Sündenfall“).

1957, Heyerdahl ist gerade Jahr von der Insel, erscheint sein hinreißend geschriebenes Buch „Aku-Aku“, wieder ein Weltbestseller, der eine erstaunte Öffentlichkeit erstmalig auf das Mysterium der Osterinsel aufmerksam macht. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Insel selbst, löst z. B. die Touristen-Ströme aus, welche die eingeborene Bevölkerung einerseits ins 20. Jahrhundert führen – eine durchaus zwiespältige Gabe – und andrerseits durch die von dem Buch angestoßene Erwartungshaltung die Osterinsulaner wenige Jahrzehnte später dazu bringen, sich selbst wissenschaftlich mit ihrem Erbe zu beschäftigen sowie den Versuch zu machen, es in moderner Weise in ihrem Tapati-Festival wiederzubeleben.

1961 kommt ein wissenschaftliches Werk von Thor Heyerdahl heraus, welches wieder als die bis dahin gründlichste Studie über Ozeanien bezeichnet wird: „Archeology of Easter-Island“. Im selben Jahr wird seine Arbeit auf dem 10. internationalen Pazifik-Kongress in Honolulu, an welchem ca. 3000 führende Fachgelehrte aus aller Welt teilnehmen, ausdrücklich gewürdigt und folgende Resolution einstimmig verabschiedet: „Südostasien mit den angrenzenden Inseln stellt ein wichtiges Ursprungsgebiet der Völker und Kulturen der Inseln des Stillen Ozeans dar. Dasselbe gilt für Südamerika auf der anderen Seite des Pazifiks, wo die Forschung bereits weiter vorangeschritten ist.

Von der schwedischen „Gesellschaft für Anthropologie und Geographie“ wird Heyerdahl 1962 die Vegamedaille verliehen – die höchste Auszeichnung, die einem Gelehrten seines Fachs in Skandinavien zuteil werden kann –, und zwar mit den Worten:

Obwohl wir alle tief beeindruckt sind von Thor Heyerdahls Willensstärke, seinem Mut, seiner Erzählkunst und dem ungewöhnlichem Kampfgeist, den er bei der Kon-Tiki-Fahrt und späteren Expeditionen bewiesen hat, ist es an diesem Ort doch angebracht, festzustellen, dass nicht seine Heldentaten und Abenteuer uns bewogen haben, ihm die Vegamedaille zu verleihen. Seine Ansichten, seine Ideen wurden anfangs für so radikal und kühn angesehen, dass er bei älteren Gelehrten in verschiedenen Ländern auf Kritik und Einwände stieß. Seine Theorien haben indessen neue Wege eröffnet, seine frischen Gedanken strömen durch Kanäle, die allzu lange verstopft gewesen waren. Heute können wir feststellen, dass die Einwände immer leiser und zurückhaltender werden. Die Leitung der Gesellschaft ist einmütig der Ansicht, dass die Vegamedaille einem hochverdienten Forscher verliehen wird, der immer tiefer eingedrungen und zu dem Manne gereift ist, der heute in der Archäologie des pazifischen Raumes eine zentrale Stellung einnimmt.[2]

Thor Heyerdahl steht nun im Zenit seines Ruhmes und seiner Anerkennung. Um dem nervenaufreibenden Öffentlichkeits-Rummel zu entgehen, zieht er sich mit seiner (mittlerweile zweiten) Familie nach Colla Micheri, einem verschlafenen Nest in Italien zurück.


Fortsetzung: „Ra“ (Señor Kon-Tiki - Teil 13)

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Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Siehe zu diesen auch das Video: Brien Foerster, Easter Island: Wall Construction Similar To The Inca Of Peru (Englisch, 5.00 Min.)
  2. Quelle: Arnold Jacoby, „Senor Kon-Tiki

Bild-Quellen

1) Thor Heyerdahl, "Aku-Aku" (© Kon-Tiki Museum)
2) Zeichnung von William Hodges aus der Mannschaft von Captain Cook (Bildarchiv Andreas Delor)
3) Frank Joseph, "The Lost Civilization of Lemuria - The Rise and Fall of the World´s Oldest Culture", Inner Traditions / Bear & Company 2006
4) Thor Heyerdahl, "Aku-Aku" (© Kon-Tiki Museum)
5) Penarc und Lychee bei Wikimedia Commons, unter: File:Totora Schilf.JPG
6) Bildarchiv Atlantisforschung.de