Wo bleibt die Kreativität in der Wissenschaft?

Bemerkungen zu Wissenschaft und Kunst

von Dr. Renate Schukies (1994)

Abb. 1 Styropor-Skulptur 'Das Schlangennest' von Renate Schukies

Als Ethnologin und bildende Künstlerin (Abb. 1 - 3) erfahre ich an mir selbst, was es bedeutet, Wissenschaftlerin und Künstlerin zugleich zu sein. Von einer Psychologin wurde dieser Zustand so beschrieben: "Die linke und die rechte Gehirnhälfte sind zusammengebracht". Vielleicht ist bei einer solchen psychischen Disposition der Blick besonders geschärft für die Suche nach den inneren Zusammenhängen und nicht nach trennenden Aspekten. Werner Henkel bemerkt zu recht, dass die traditionellen Begriffe von Kunst, Natur und Wissenschaft einem interdisziplinären Denken im Wege stehen.

Der Satz lässt sich noch erweitern: sie stehen auch einem interkulturellen, globalen Denken im Wege. Die Ganzheitlichkeit des menschlichen Lebens bleibt letztendlich auf der Strecke. Wieder stellen wir hier die Frage: "Was ist nun das Verbindende von Wissenschaft und Kunst?" Für mich sind es die Eigenschaften Kreativität, Phantasie und Intuition. Ohne diese wäre auch der menschliche Alltag nicht zu bewältigen - egal in welcher Kultur man ihn auch erlebt. Kreativität entäußert sich in Wissenschaft und Kunst nur auf unterschiedliche Weise, sie nimmt unterschiedliche Gestalt an. Beides sind nur Annäherungen an die Wirklichkeit. Jede Disziplin macht für sich auf ihre Art ein Bild von der Welt - jede verschiebt auf ihre Art die Realitätsbereiche. In beiden gibt es Schnittstellen, Übergänge von einer Wirklichkeit in eine andere oder den Zaun, der eine Realität von der anderen trennt - den man aber überspringen kann: Kernphysiker, Astrophysiker und Mathematiker rechnen sich in Realitätsbereiche hinein, die mit Worten nicht mehr zu beschreiben sind. Wenn sie es dennoch versuchen, verwenden sie dieselben Analogien, die auch asiatische Yogis benutzen, um ihre in der Meditation gewonnenen Erkenntnisse und Bewusstseinszustände zu beschreiben. Bücher von Ethnologen, die als Krähen durch schamanistische Reiche fliegen, beeinflussten das Denken großer Teile einer ganzen Generation.

Abb. 2 'Auf der Jagd nach Erkenntnis' - Gemälde von Renate Schukies

Leider neigt jedes Fach dazu, sich als die Königsdisziplin zu begreifen, egal ob bildende Kunst oder Wissenschaft. Beide sollten sich jedoch vor Augen halten, dass sie am Baum der Erkenntnis nur Zweige sind, von denen es noch andere gibt. Damit meine ich die anderen Kulturen unserer Welt, mit ihren ganz eigenen Ansichten über die Welt. Ich möchte an dieser Stelle aus dem I Ging eine der besten Definitionen von Wissenschaft zitieren, die ich je gehört habe: "Die Wissenschaft soll eine erfrischende und belebende Kraft sein. Das kann sie nur werden im belebenden Verkehr mit gleichgesinnten Freunden, mit denen man sich bespricht und übt in der Anwendung der Lebensweisheiten." Ich meine, dass dieser Satz durchaus auf die bildende Kunst übertragbar ist.

In einem Ausstellungskonzept wurde darauf hingewiesen, dass der Schöpfungs- und Entstehungsprozess natürlicher und künstlerischer Strukturen vergleichbare Züge aufweist. Dies gilt auch für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Nicht nur die Kunst, auch die Wissenschaft basiert auf der Erfahrung, dass die Wirklichkeit von Widersprüchen, Vieldeutigkeiten und Brüchen geprägt ist. Die Naturwissenschaft macht da keine Ausnahme. So wie das Kunstwerk dem Betrachter eine neue Sicht der Welt eröffnet, so verändert jede wissenschaftliche Revolution die geschichtliche Perspektive der Gemeinschaft, die sie erlebt. Auch in den Naturwissenschaften gibt es keine Objektivität, wie schon die großen Physiker vor einigen Jahrzehnten betonten. Jeder Künstler, jeder Wissenschaftler agiert in einem gesellschaftlich-kulturellen und persönlichen Bezugsrahmen, der Handeln und Denken bestimmt und prägt. Dieser Rahmen setzt Künstlern und Wissenschaftlern gleichermaßen Grenzen, die manche überwinden können und manche nicht.

Abb. 3 'Das Erscheinen der Ahnen' - Gemälde von Renate Schukies

Dass sich die Kunst in vielfältiger Weise der Wissenschaft bedient, ist offensichtlich. Technische Entwicklungen beeinflussen Form und Inhalt des künstlerischen Ausdrucks. Forschungsergebnisse und Methoden der Wissenschaft werden in der Kunst zu Arbeitsmaterial und Technik. Welchen Einfluss hat nun die Kunst auf die Wissenschaft?

Vielleicht sollte man besser fragen, welchen Einfluss könnte die Kunst auf die Wissenschaft haben, denn Beispiele wollen mir zunächst einmal keine einfallen. Zur Zeit wird in der hochschulpolitischen Diskussion betont, dass es an Innovationen und neuen Ideen mangelt, dass man im internationalen Vergleich zurückfällt. Betrachtet man aber die wissenschaftliche Ausbildung an den Hochschulen, dann muss leider verallgemeinernd gesagt werden, dass gerade die Innovation, das freie Spekulieren und Denken dort im Grunde unerwünscht sind.

Während die Offenheit des Künstlers für das Überschreiten von Grenzen, für das Verrücken der Realitäten in der Ausbildung gefördert wird, folgt für den Wissenschaftler eher der Bann aus den Heiligen Hallen. Während der Künstler lernt, zu sich selbst und seinen wie auch immer gearteten Ideen und Auswüchsen der Phantasie zu stehen, ist der angehende Wissenschaftler überwiegend mit der Rezeption der Gedanken anderer beschäftigt. Wenn die Wissenschaftler sich entschließen könnten, diesen Mut zur eigenen Kreativität, zum freien Denken und Assoziieren aus der Kunst zu übernehmen und zu fördern, hätten sie für die Zukunft schon viel gewonnen. Fundamentale Neuerungen werden durch die konventionelle Wissenschaft unterdrückt, da diese notwendigerweise ihre Grundpositionen erschüttern. Aber das Phänomen ist ja weit verbreitet. Auch die Kunstgeschichte liefert ja genügend Beispiele dafür, dass es auch da gewisse Grenzen gibt - es sei hier nur an van Gogh erinnert. Die Einführung neuartiger Theorien ruft regelmäßig die gleichen Reaktionen seitens der Mehrzahl der Fachleute hervor, deren spezielles Gebiet betroffen ist. Für sie bedeutet die neue Theorie eine Änderung der Regeln, die bislang die Praxis der normalen Wissenschaft beherrschen. Das möchte ich am Fall Velikovsky (Abb. 4) verdeutlichen.

Abb. 4 Dr. Immanuel Velikovsky (1895-1979)

Immanuel Velikovsky, der 1979 verstarb, war einer der wenigen Universalgelehrten unserer heutigen Zeit. Er wurde 1895 in Russland geboren. Während der russischen Revolution emigrierte die Familie nach Berlin. Velikovsky studierte Medizin, Alte Geschichte und Altphilologie. In den dreißiger Jahren zog er nach Israel, wo er bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der Epilepsieforschung leistete. Eine Forschungsreise führte ihn einige Jahre später nach Amerika, wo er mit seiner Familie in Princeton, New Jersey, bis zu seinem Tode lebte und seine revolutionäre Kosmologie entwickelte. Seine Frau Elisheva kam übrigens aus Hamburg, war Bildhauerin und Musikerin. Velikovsky stand in persönlichem Dialog mit den klügsten Köpfen seiner Zeit, von Freud bis Einstein. Ende der vierziger Jahre entwickelte Velikovsky eine neue Theorie über die Geschichte des Sonnensystems - eine neue Rekonstruktion der Erd- und Menschheitsentwicklung, von der ich annehme, dass nur wenige jemals von ihr gehört haben. Das verdeutlicht schon ein großes Problem der interdisziplinären Arbeit: die Zusammenführung relevanter Informationen. Es ist fraglich, ob unter diesen Bedingungen überhaupt eine disziplinübergreifende Analyse geleistet werden kann.

Im Rahmen meiner ethnologischen Ausbildung lebte ich zwei Jahre bei Cheyenne-Indianern in Oklahoma, in der Familie des Hüters der Heiligen Pfeile, des höchsten spirituellen Mannes der Cheyenne. Für sein Volk ist er auf Erden der Stellvertreter Motseyoefs, des Kulturheros, der den Cheyenne vor etwa 2500 Jahren ihre Kultur brachte, wie sie bis heute überdauert hat. Motseyoef lebte mit den Cheyenne vierhundertvierundvierzig Jahre. Im persönlichen Gespräch erzählen uns die Pfeilmänner der Cheyenne, dass Motseyoef sich dann mit dem Morgenstern - dem Planeten Venus - vereinigte, bzw. zum Morgenstern wurde. Letzteres ist zwar ein bekanntes Motiv aus verschiedenen Mythologien der Welt - auch Quetzalcoatl, der Kulturheros der Maya, verkörpert den Planeten Venus -, war aber für die Cheyenne bis dahin nicht bekannt.

Abb. 5 Wie bei vielen alten Völkern spielt die Venus auch in der Kultur der Cheyenne eine bedeutende Rolle.

Natürlich wirft dieser Sachverhalt viele neue Fragen auf. Warum spielt der am Abend- und Morgenhimmel dahinziehende Planet Venus bei den Cheyenne diese bedeutende und bestimmende Rolle - wie auch bei der Mehrzahl aller großen Völker der antiken Welt? Warum brachte man dem friedlich leuchtenden Planeten sogar Menschenopfer dar? Auf diese Fragen bekam ich bei den Cheyenne keine direkte Antwort. Dies ist der Bereich des Wissens, der den Zeremonialmännern vorbehalten bleibt. Für die Cheyenne ist die Welt voller guter und schlechter Zeichen. Sie sind sich sicher, dass Menschen und Informationen einem jeden begegnen, wenn es sein soll - egal ob auf der Spitze eines Eisberges, in Wichita, Kansas, oder auf irgendeiner Veranstaltung.

In Wichita gab mir 1978 ein Musiker das Buch von Immanuel Velikovsky, "Worlds in Collision" (Abb. 6): "Wenn du das gelesen hast, vergisst du alles über konventionelle Wissenschaft." In den USA war das Buch 1950 erschienen, bereits damals gab es auch eine deutsche Übersetzung. 1978 brachte dann der Umschau-Verlag eine Neuauflage heraus, mit dem Titel "Welten im Zusammenstoß". Es ist heute im Handel nicht mehr erhältlich. [1] In der Universitätsbibliothek Hamburg steht ein Exemplar, leider kein weiteres seiner veröffentlichten Werke. In "Worlds in Collision" gibt Velikovsky die logischste und scharfsinnigste Erklärung auf die Frage, warum der Planet Venus bei fast allen Völkern der antiken Welt - zu den auch die Ahnen der Cheyenne gehören - eine solche Bedeutung erlangen konnte.

Velikovsky rekonstruierte aus antiken Quellen, Kalendern, archäologischen Funden, aus Mythologien und Religionen unterschiedlichster Kulturen, dass in historischer Zeit - im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung - aus dem Planeten Jupiter ein Komet ausgestoßen wurde, der in der Mitte des zweiten Jahrtausends zweimal mit der Erde in Berührung kam, wobei er seine Kometenbahn veränderte und auf der Erde verheerende globale Katastrophen auslöste. Der Komet verblieb in unserem Sonnensystem und kollidierte einige Jahrhunderte später mit dem Mars. Erneut wurde unsere Erde in Mitleidenschaft gezogen. Doch dann war der vorerst letzte Kampf der Himmelsgötter entschieden. Der Komet schwenkte langsam auf seine heutige Umlaufbahn um die Sonne ein und wurde zum Planeten Venus, gefürchtet und verehrt unter vielerlei Namen von den Völkern der alten Welt. Nach Velikovsky sind alle Mythologien und Religionen verschlüsselte Erinnerungen der Menschheit an diese kosmischen Katastrophen.

Abb. 6 Nas leuchtend rote Cover der Macmillan-Ausgabe von Immanuel Velikovskys "Worlds in Collision" (1950) war geradezu ein Omen: Dieses Buch wurde zum 'Roten Tuch' für die 'Orthodoxie' der Astronomen und Historiker seiner Zeit.

Doch ist dies alles nicht unbedingt neu. Bevor sich die aristotelisch / newtonsche Lehrevon der Unveränderlichkeit und Beständigkeit des Himmels durchsetzte, die unser ganzes abendländisches Denken beherrscht, wurde das Weltbild durch die Katastrophenlehre bestimmt, die ein ungeordnetes, chaotisches Bild des Universums dagegen setzte. Diese theoretischen und methodischen Überlegungen schlossen Kometen- und Planetenkollisionen mit ein. Zu den Katastrophen-Theoretikern gehörten unter anderem Giordano Bruno und Galilei - von dessen Lehre also auch weiterhin bestimmte Anteile unterdrückt werden, eben die katastrophistischen. Immanuel Velikovsky identifizierte den himmlischen Störenfried, von dem die alten Völker berichten, als die Venus.

Als Velikovsky seine Forschungsergebnisse 1950 veröffentlichte, entfachte dies unter den amerikanischen Astronomen geradezu hysterische Reaktionen, die einen rationalen Wissenschaftler erstaunen. Sie setzten den Verlag massiv unter Druck, das Buch nicht zu veröffentlichen. [2] Die katholische Kirche forderte, das Buch auf den Index zu setzen, da es die judäisch-christliche Grundordnung erschüttere. Ausgehend von seiner Hypothese, dass die Venus einmal ein Komet gewesen sei, machte Velikovsky Voraussagen über die physikalische Beschaffenheit des Sonnensystems und des Planeten Venus, die durch die Weltraumforschung bestätigt und bis heute nicht widerlegt worden sind. Umso mehr verwundert es, dass Velikovskys Theorie keine Anwendung in Wissenschaft und Forschung findet. Die Konsequenzen seiner Überlegungen sind für alle Fachdisziplinen gewaltig, daher wohl auch die massive, irrationale Ablehnung durch die wissenschaftlichen Machteliten.

Am Anfang meines Studiums sagte uns ein Professor: "Lesen Sie jeden Tag fünfzig Seiten, irgendwann erkennen Sie dann schon die Zusammenhänge." Velikovskys Rekonstruktion ist in der Tat der rote Faden im Irrgarten der Widersprüche und Ungereimtheiten in der konventionellen Wissenschaft. Denn anstatt sich der Beantwortung der großen Fragen zu nähern, scheint man sich in der Wissenschaft, gerade auch in der Astronomie, immer weiter davon zu entfernen. Wenn man bedenkt, dass die Welt so viele Dimensionen hat, wie Dinge in ihr existieren, sollte man die Suche nach der alles vereinenden Weltformel vielleicht ohnehin besser aufgeben und sich mit dringlicheren Problemen befassen. Den Mut und die zähe Ausdauer, mich mit der Theorie Velikovskys zu beschäftigen, verdanke ich der bildenden Kunst und ihrem zu Recht beschworenen freien Geist. Wenn diese Haltung auch in der Wissenschaft ihren Ausdruck finden könnte, wäre viel erreicht.

Velikovsky ist wohl zu Recht auch als Galilei des Atomzeitalters bezeichnet worden. Die meisten unserer Zeitgenossen werden es für sehr unwahrscheinlich halten, dass sich ein ähnlicher Fall in unserem aufgeklärten Atomzeitalter wiederholen könnte, aber es scheint sich gerade zu vollziehen. Wie es sich für einen ordentlichen Wissenschaftler gehört, versuche ich Velikovskys Hypothesen im Rahmen meines Fachgebietes zu überprüfen. Ein von mir durchgeführter Vergleich der wichtigsten Felsbilder von allen Kontinenten (Habilitationsschrift) [3] bestätigt wieder einmal Velikovsky - diesmal auf dem Gebiet der Kunstethnologie. Den vermeintlich rationalen Skeptikern, denen dazu spontan Erich von Däniken einfällt, sei gesagt, dass ich einige Besinnungsminuten einlegte, als ich in seinen Büchern auch von mir verwendete Motive entdeckte. Aber auch hier hüte man sich vor einem vorschnellen Urteil. Im Geiste einer freien Wissenschaft und nach eingehender Beschäftigung mit der Materie sollte man sich lieber fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, im Rahmen eines Fachbereiches Physik auch einen Lehrstuhl für Ufologie einzurichten.


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Dr. Renate Schukies (©), Hamburg, wurde erstveröffentlicht in: EFODON-SYNESIS Nr. 5/1994

Fußnoten:

  1. Red. Anmerkung: Zwischenzeitlich wurde das Werk erfreulicherweise neu aufgelegt. Siehe: Immanuel Velikovsky, "Welten im Zusammenstoß", Julia White Publishing, 2005. Die erste deutschsprachige Ausgabe des Werkes erschien übrigens schon 1951 im Verlag W. Kohlhammer unter dem Titel "Welten im Zusammenstoss: als die Sonne still stand".
  2. Red. Anmerkung: Zu diesem veritablen Wissenschafts-Skandal und der Schlammschlacht gegen Velikovsky siehe: Alfred de Grazia, "The Velikovsky Affair" (PDF-Datei)
  3. Siehe dazu bei Atlantisforschung.de auch: Dr. Renate Schukies, "The birth of Venus out of Orion"; sowie als deutschsprachige Kurzfassung: "Venus und Orion in Kultur und Bildersprache Nordamerikas"

Bild-Quellen:

1-3) Bildarchiv Dr. Renate Schukies, Hamburg
4) Immanuel Velikovaky (Velikovsky.org), unter: Velikovsky image 09
5) MatGTAM bei Wikimedia Commons, unter: File:Cheyenne Warrior in Feather Headdress with Shield.jpg (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
6) The Velikovsky Encyclopedia, unter: Worlds in Collision