Über Atlantis, die Sintflut und die Eiszeit

von Thomas Belt (1874)

Abb. 1 Schmuckblatt der Ausgabe anno 1911 von Thomas Belts Buch "The Naturalist in Nicaragua", dem dieser Beitrag entnommen wurde

War das legendenumwobene Atlantis wirklich nur ein Mythos, oder war es jener große Kontinent im Atlantik, der bei einer Absenkung des Ozeans freigelegt wird, und auf welchem die jetzigen Westindischen Inseln Berge waren, die sich hoch über den Pegel erhoben, und mit fruchtbaren Ebenen, die heute vom Meer bedeckt sind? Undeutlich sind die Berichte darüber aus einer dunklen Vergangenheit zu uns gelangt, doch es gibt eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen den Überlieferungen, die zu beiden Seiten des Atlantiks tradiert wurden.

In einem Fragment der Werke des Theopompus, der im vierten Jahrhundert vor der christlichen Ära lebte, gibt es einen Bericht über ein Gespräch zwischen Silenus und Midas, dem König von Phrygien, in welchem der erstere dem König berichtet, dass Europa, Asien und Afrika vom Meer umgeben seien, dass es aber auf der anderen Seite eine Insel von immenser Größe gebe, auf welcher sich viele bedeutende Städte befanden, und Nationen mit Gesetzten und Gebräuchen, die sehr verschieden von den ihren [den Menschen der Alten Welt; d.Ü.] waren. [1] Plato (Abb. 2) berichtet in seinen Dialogen "Timaios" und"Kritias", dass Solon von einem Priester aus Sais nach den heiligen Inschriften im Tempel erzählt wurde, wie Solons Land "einstmals einer Macht entgegentrat, die sich mit großer Arroganz ihren Weg vom Atlantischen Ozean nach Europa und Asien hinein bahnte. Jenseits des Zugangs, welchen ihr die Säulen des Herkules nennt, gab es eine Insel, größer als Libyen und Asien zusammen. von ihr aus gelangte man mittels Schiffahrt zu anderen Inseln, und von ihnen zu dem gegenüber liegenden Kontinent, welcher jenen Ozean umgab.

Abb. 2 Platons Atlantisbericht betrachtete Thomas Belt aus naturhistorischem Blickwinkel.

Auf dieser großen atlantischen Insel bestand ein mächtiges und einzigartiges Königreich, dessen Herrschaftsgebiet sich nicht nur über die gesamte Insel erstreckte, sondern auch über viele andere, und über Teile des Kontinents. Es herrschte auch über Libyen bis nach Ägypten hin, und über Europa bis nach Tyrrhenien. Dieses Königreich versuchte mit seiner gesamten vereinigten Streitmacht in einem Feldzug euer Land und unseres zu unterwerfen, und all die Länder innerhalb der Meerenge. Zu jener Zeit, oh Solon, stach eure Nation unter allen anderen durch Tapferkeit und Stärke hervor. Sie geriet in große Gefahr, doch sie besiegte die angreifende Armee, und errichtete Triumph-Denkmale. Doch als sich in einer späteren Zeit Erdbeben und große Überflutungen ereigneten, wurde eure gesamte Armee während eines schlimmen Tages und einer schlimmen Nacht verschlungen, und zur selben Zeit versank die Insel Atlantis im Meer." Krantor, der von Proklos zitiert wird, bestätigen Platos Bericht und sagt, er habe selbige Geschichte, die von den Priestern zu Sais bewahrt wurde, dreihundert Jahre nach der Zeit des Solon gefunden, und dass ihm die Inschriften gezeigt worden seien, in welchen sie verzeichnet war.

Wenden wir uns der westlichen Seite des Atlantiks zu, so finden wir den "Teo Amoxtli", der vom Abbé Brasseur de Bourburg übersetzt wurde, einen Bericht über die Überflutung eines Landes durch das Meer, aus dem Donner und Blitz kamen, und "die Berge versanken und erhoben sich." Überall in ganz Amerika gibt es Überlieferungen von einer großen Katastrophe, in welcher ein ganzes Land überflutet wurde, und der nur einige wenige Menschen auf die Berge entkamen; und die spanischen Eroberer erzählten mit Staunen die Berichte über eine universelle Sintflut, auf die sie bei den Indianern stießen. Über die modernen Indianer berichtet der Reisende Catlin, dass bei den einhundertzwanzig verschiedenen Stämmen, die er in Nord- Süd- und Mittelamerika besucht hat, "jeder Stamm, mehr oder weniger unterschiedlich, seine Überlieferung von der Sintflut berichtet, in welcher eine, oder drei, oder acht Personen über den Wassern auf dem Gipfel eines hohen Berges gerettet wurden." [2]

Abb. 3 Mehr oder weniger alle indigenen Völker des amerikanischen Doppelkontinents haben Überlieferungen von einer Sintflut, der nur wenige Menschen entkamen. (Bild: Tempelfries aus Tikal im nördlichen Guatemala. Foto von Teobert Maler)

Wenn Atlantis ein Tiefland war, das die Westindischen Inseln mit Amerika verband, könnten die anderen von Plato erwähnten Inseln die Azoren gewesen sein, ebenfalls massiv in ihrer Ausdehnung angewachsen durch die Absenkung des Ozeans; und die Überschüttung dieses Tieflands beim Abschmelzen des Eises am Ende des Glazials mag jene große Katastrophe gewesen sein, die zu beiden Seiten des Atlantiks überliefert wurde, in den Überlieferungen Amerikas aber deutlichere Erinnerung findet, weil dort alles Hochland mit Eis bedeckt war, und die Bewohner auf jene Gegenden beschränkt waren, die von der Sintflut überschüttet wurden.

Ich habe mich diesem Gegenstand vonseiten der Naturgeschichte angenähert. Er trieb mich, nach einer Zufluchtstätte für die Tiere und Pflanzen des tropischen Amerika während der Eiszeit Ausschau zu halten, als ich Beweise dafür fand, dass das Land, welche sie jetzt bewohnen, zu jener zeit entweder mit Eis bdeckt oder zu kalt für Genera war, die heute nur dort leben können, wo Frost unbekannt ist.

Abb. 4 Der heutige Malaiische Archipel bildete während des jüngsten glazialen Maximums einen veritablen Subkontinent Südostasiens.

Ich war zur Schlussfolgerung gelangt, dass sie heute überflutete Tieflande bewohnt haben müssen, und indem ich diesem Problem nachging, erkannt ich bald, dass die hohe Akkumulation von Eis, die ihren Aufenthalt unmöglich machte, ihnen durch die Absenkung des Meeres einen anderen [Aufenthaltsort; d.Ü.] lieferte. Dann, als ich das Thema noch weiter verfolgte, sah ich, dass auf der ganzen Welt merkwürdige Probleme hinsichtlich der Verbreitung von Rassen der Menschheit, von Tieren und von Pflanzen leichter mit der Theorie zu lösen waren, dass das Land einst zusammenhängender war als heute; dass heute voneinander getrennte Inseln damals miteinander und mit angrenzenden Kontinenten verbunden waren; und dass das, was heute Gewässerränder und Untiefen in der See sind, damals bevölkerte Tiefländer waren.

Ich habe gesagt, dass das Meer während der glazialen Periode, wenn sie, wie ich annehme, in den beiden Hemisphären gleichzeitig war, mindestens 1000 Fuß [ca. 305 m; d.Ü.] tiefer gelegen haben muss, als es jetzt der Fall ist. Es mag noch viel tiefer als dies gewesen sein, doch ich bevozuge es, auf Nummer sicher zu gehen. Wenn Geologen die Grenzen der alten Gletscher und des kontinentalen Eises auf der Welt ausgearbeitet haben, wird es möglich sein, die Mindest-Menge des Wassers zu berechnen, das aus dem Meer herausgezogen war; und wenn dann die Hydrographen auf ihren Karten die Untiefen und überschwemmten Ufer aufgezeigt haben, die trocken liegen würden, dann wird das sagenhafte Atlantis vor unseren Augen zwischen Europa und Amerika aufsteigen, und im Pazifik wird der Malaiische Archipel (Abb. 4) dem Malaiischen Kontinent Platz machen. Hier haben wir einen noblen Untersuchungsauftrag, ein unerkundetes Forschungsgebiet, an dessen Pforte nur ich stehen und fähigeren und gewichtigeren Geistern den Weg weisen kann; einen Untersuchungsauftrag, der zur Kenntnis der Ländereien führen wird, wo die Völker der Eiszeit wohnten, welche vor der Sintflut lebten.

Vage und phantastisch, wie diese Mutmaßungen vielen vorkommen müssen, werden sie anderen, die mit der enormen Vereisung vertraut sind, der Amerika unterworfen war, als auf substantiellen Wahrheiten basiert erscheinen. Die immense Ansammlung von Eis über beiden Polen, die bis weit hinab in die gemäßigten Zonen reichte, an einigen Längengraden bis zu den Tropen hinübergriff, und im äquatorialen Amerika sicherlich auf alles Land, das 2000 Fuß über dem Meeresspiegel lag, was die Bildung großer Gletscher unterstützte, brachte Bedingungen mit sich, welche das Meer in hohem Maße entwässert haben müssen. Heute überschwemmte Ländereien müssen freigelegt gewesen sein, und bei der Rückkehr der Wasser am Ende der Eiszeit muss so manches bevölkertes Tiefland bei der nahezu universellen Sintflut überschüttet worden sein.


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Thomas Belt (1832-1878) wurde seinem im Jahr 1874 erschienenen Buch "The Naturalist in Nicaragua" entnommen (Auszug aus Kapitel 14). Übersetzung ins Deutsche und redaktionelle Bearbeitung durch Atlantisforschung.de nach der digitalisierten Fassung des Werks bei eBooks@Adelaide (University of Adelaide).

Fußnoten:

  1. Red. Anmerkung: Siehe dazu bei Atlantisforschung.de: J. H. F. Meineke, "Theopompus´ Bericht von Anostos - Von der Unterredung des Midas aus Phrygien mit dem Silen, und den von Silen erzählten Fabeln" (1787)
  2. Quelle: George Catlin, "The Lifted and Subsided Rocks of America: With Their Influences on the Oceanic, Atmospheric and Land Currents", Trübner & Co., 1870, S. 182

Bildquellen:

1) The Internet Archive, unter: Thomas Belt, "The Naturalist in Nicaragua", Ausgabe 1911
2) Jastrow bei Wikimedia Commons, unter: File:Plato Pio-Clementino Inv305 n2.jpg
3) Tony O’Connell, "Maler, Teobert", bei: Atlantipedia.ie
4) BrightRaven (franz. Wikipedia) bei Wikimedia Commons, unter: File:Insulinde1.PNG