Zur Atlantis-Lokalisierung auf Gavrinis
Durch seine chronologische Revision der Angaben Platons in die Periode des Neolithikum, und mittels seiner Fata-Morgana-Hypothese an die europäischen Atlantikküsten gelangt, sucht Tributsch dort nach einer Örtlichkeit, welche der recht exakten Beschreibung der extravagan-ten Atlanter-Metropole entspricht. Über sie bemerkt der Atlantisforscher ganz zu Recht: "Sie hat eine unverkennbar eigentümliche Struktur, mit der sie keiner Stadt ähnelt, von der wir aus der Antike Kunde haben. Um ein zentrales Heiligtum waren drei Wasserkanäle und zwei Insel-ringe aus Erdreich >wie mit dem Zirkel gezogen<, und vom Meer aus hatte man einen 90 m breiten und 9 km langen Graben geschaffen, der die ganze kreissymmetrische Anlage der Seeschiffahrt als Hafen erschloß." (+16)
Abb. 6 Der Golf von Morbihan. Nach Prof. Tributsch lag hier das
Zentrum und die Hauptstadt der megalithischen Atlanter-Kultur.
Die Suche nach einer entsprechenden Örtlichkeit an den Küsten Westeuropas gestaltet sich jedoch problematisch: "Fast alle Küstengebiete scheiden deswegen aus, weil man über einen Kanal nicht ohne weiteres 9 km ins Landesinnere fahren konnte. Das Land liegt auf weiten Abschnitten (der atlantischen ebenso wie der Mittelmeerküste) zu hoch, als daß es eine Stadtplanung dieser Art zuließe. [...] Weder auf den Britischen Inseln noch auf der Iberischen Halbinsel, noch an der französischen Mittelmeerküste oder an der von Megalithmenschen bewohnten Mittelmeerinseln findet sich ein gastfreundlicher Hafen für die Hauptstadt von Atlantis." (+17)
Hier tappt Tributsch offenbar im Nebel und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er für sein Modell großmaßstäblich die HEUTIGEN gegraphischen und topographischen Gegeben-heiten zu Grunde legt, statt notwendigerweise eine Rekonstruktion früherer Küstenlinien und Verhältnisse zur Grundlage seiner lokalisierungs-theoretischen Überlegungen zu machen (wie er dies im kleinen Maßstab durchaus tut, um seine Lokalisierung zu rechtfertigen). Somit gelangt er zu einer plausibel erscheinenden, tatsächlich jedoch recht fragwürdigen Schlussfol-gerung: "Es gibt praktisch nur eine einzige Küstenstrecke des Megalithreichs, die als Standort für die Hauptstadt von Atlantis in die engere Wahl gezogen werden kann: die reichgegliederte Küstenregion östlich der Halbinsel von Quiberon, in der südlichen Bretagne." (+18)
Zur näheren Begründung führt Tributsch vor allem zwei Indizien an, die für das von ihm ge-nannte Gebiet sprechen sollen: "Einmal liegt hier das Megalithzentrum Carnac, wo man heute noch auf einem Gebiet von 10 X 20 km 4326 Menhire und 239 Hünengräber gezählt hat. Zum anderen umfaßt es den von Inseln übersähten Golf von Morbihan, der eine Verbindung zum Meer aufweist." (+19) Und hier stellt er nun auch die topographischen Veränderungen der ver-gangenen Jahrtausende in Rechnung: "Erst ein genaues Studium der geologischen Verhält-nisse dieser Region brachte uns weiter: Französische Wissenschaftler haben durch sorgfältige Studien an Meeresablagerungen und archäologischen Siedlungsresten eindeutig festgestellt, daß der Meeresspiegel zur Zeit der Megalithkultur wesentlich niedriger war. Um 2000 v. Chr. war der Wasserstand bei Flut rund 6 m niedriger als heute. Um 3000 v. Chr. lag er rund 8 m, um 4000 v. Chr. sogar 9 bis 10 m unter dem heutigen Stand." (+20)
Abb. 7 Platons Angaben scheinen, wenn man Tributsch Glauben schenkt, immer dann irrig
gewesen zu sein, wenn sie im Widerspruch zur Gavrinis-These des Professors stehen.
Natürlich ist auch Tributsch klar, dass einige Ungereimtheiten bezüglich der von ihm vorge-nommenen Atlantis-Lokalisierung und Platons Angaben bestehen: "Bei der Beschreibung der Atlantis-Hauptstadt werden im Bericht Platons mehrere geographische Einzelheiten aufge-führt, welche mit der Lage, dem Klima und der Bodenbeschaffenheit von Kerne (+21) in der südlichen Bretagne nicht zu vereinbaren sind. Es gibt dort weder warme Quellen, weil die geo-logischen Voraussetzungen dafür nicht existieren, noch ist es nötig, die Baumpflanzungen zu bewässern [kein Kanalsystem vorhanden, wie im Kritias-Dialog beschrieben; d.A.]. Auch ist schwer verständlich, wo die warme und die kalte Quelle, die auf der niedrigen, nur 900 m großen, von Brakwasserringen umschlossenen Zentralinsel hätte entspringen sollten, nach Speisung von Bädern und Wasserbehältern und einen Weg vorbei an zahlreichen Heilig-tümern, Gärten, Ringplätzen und Pferdebahnen auch noch den Hain des Poseidon bewässern sollten. (+22)
Durch diese Divergenzen läßt Tributsch sich - wie kaum anders zu erwarten - keineswegs von seiner Lokalisierungs-Hypothese abbringen. Und natürlich zieht er auch hier zunächst wieder die Trumpfkarte aller Atlantis-Revisionisten aus dem Ärmel: "Natürlich bleibt immer die Mög-lichkeit, daß irgendjemand in der Kette von Berichterstattern, die die Atlantisschilderung wei-tergegeben haben, seiner Phantasie freien Lauf gelassen hat." (+23) Schade, dass diese - grundsätzlich nicht auszuschließende - Möglichkeit Herrn Prof. Tributsch nur dann gegeben er-scheint, wenn sich bestimmte Angaben Platons offenbar NICHT mit seiner Atlantis-Lokalisier-ung in Einklang bringen lassen. Allerdings - und das muss man ihm wiederum hoch anrechnen - stellt er (im Gegensatz zu anderen 'konservativen' Atlantologen) selber klar, dass eine solche Vermutung, für sich genommen, wenig beweiskräftig ist.
Als stüzendes Indiz führt Prof. Tributsch uns nun ein ganz besonderes 'Schmankerl' vor: "Hät-te es sein können, dass Berichte über die Atlantis-Hauptstadt Kerne mit denen über eine Pro-vinzstadt vermischt worden sind, zum Beispiel einer Stadt im >Gadeirischen Land<, daß dem Zwillingsbruder von König Atlas zugesprochen worden war?" (+24) Selbstverständlich wird er auf der Suche nach einem geeigneten Objekt der vermeintlichen Verwechslung alsbald fündig: Los Millares, die südiberische Megalithiker-Stadt soll es gewesen sein, die als eine Art 'Atlantis-Clon' für die vermuteten Verwechslungen herzuhalten hat. (siehe: Los Millares - eine atlan-tische Metropole im Land des Gadeiros)
Abb. 8 Diese Skizze der Los Millares-Fundstätte zeigt eindeutig, dass hier
kaum die Möglichkeit einer Verwechlung mit dem platonischen Atlantis besteht.
Nun hat Los Millares´ Grundriss (Abb. 8) zwar kaum eine Ähnlichkeit mit der platonischen At-lantis-Metropole, aber das ist für Tributschs Form der Beweisführung auch völlig unerheblich. Er sammelt (scheinbare) Übereinstimmungen, die jede - bei Licht besehen - auch für tausend andere Lokalitäten auf dem Globus zutreffen, oder aber tatsächlich in keiner Beziehung zu Pla-tons Angaben stehen: "Los Millares hatte vieles mit der vermutlichen Atlanter-Metropole ge-meinsam. Es lag an einer nach Süden blickenden Küste, etwa 10 km landeinwärts, und hatte Ausblick aufs Meer, auf eine vorgelagerte Halbinsel [die wir in der Atlantida vergeblich suchen werden; d.A.]. Zwei Flüsse [von denen bei Platon ebenfalls keine Rede ist; bb] umströmten den Stadtkern von beiden Seiten. Drei Verteidigungswälle umgaben sie, ebenso wie die drei Inselringe das Zentrum von Kerne." (+25)
Auch die letzte Behauptung ist ohne weiteres als sachlich unrichtig zu erkennen, wenn man sich die Skizze der Los Millares-Fundstätte einmal kurz ansieht. Wir finden dort tatsächlich drei gestaffelte Wallanlagen vor, die allerdings keineswegs als Ringe um die alte Stadt gezogen waren, sondern lediglich, zwischen den Ufern der Flüsse Andarax und Rambla de Huechar (die ansonsten einen natürlichen Schutz entlang der beiden Flanken dieser mehr oder weniger DREIECKIGEN Siedlung boten), den bewohnten Winkel des Plateaus von Los Millares vor der Flussgabelung sicherten.
Auch die weiteren "Parallelen", die uns Prof. Tributsch präsentiert, um uns seine Verwechs-lungs-These schmackhaft zu machen, sind ähnlicher Natur. So weist er besonders auf die, ver-mutlich mit (glänzendem?) Lehm verputzten, Wohnhäuser von Los Millares hin, die bei Platon freilich mit Oreichalkos oder anderen Erzen verkleidet gewesen sein sollen - natürlich eine wei-tere Verwechslung! Außerdem findet er hier auch all die 'Zutaten', die ihm in Gavrinis fehlen: Thermalquellen, die sich allerdings nicht in der Mitte einer Zentralinsel, sondern 10 km westlich der Stadt befinden, sowie in den felsigen Grund gehauene Felskammern und Bewässerungs-systeme.
Abb. 9 Los Millares könnte allerdings, selbst wenn wir Tributschs Spekulationen
verwerfen, tatsächlich eine atlantische (oder: atlantoide) Metrople gewesen sein.
Dies alles kann allerdings nicht erklären, wie die von H. Tributsch behauptete Verwechslung nun tatsächlich zustande gekommen sein soll. Was einen zeitgenössischen Besucher oder Be-schreiber dieser Stätdte angeht, war eine derartige Verwechslung jedenfalls völlig ausgeschlos-sen: Selbst wenn die beiden Siedlungen ('Atlantis' und Los Millares) sich wie ein Ei dem ande-ren geglichen hätten (was sie definitiv nicht taten), wäre es schlichtweg ein Unding gewesen, eine Stadt in der Bretagne (wie auch immer diese Region damals geheißen haben mag) mit einem iberischen Pendent zu verwechseln.
Ein Irrtum in dieser Beziehung könnte sich also, wenn überhaupt, nur in späteren Phasen der Überlieferung ereignet haben; aber auch dies erscheint eher unwahrscheinlich. Tributsch selber betont - sehr zu Recht - auf Seite 212 seines Buches, dass Platon nach eigenen Angaben über differenziertere Unterlagen zum Atlanterreich verfügt haben muss, die er nicht alle im Atlantis-bericht untergebracht hat. Im Kritias, den der Professor zitiert, heißt es dazu: "... von den üb-rigen neun [Staaten von Atlantis] hatte jeder seine besonderen Einrichtungen, über die zu be-richten zuviel Zeit erfordern würde." Da wir voraussetzen dürfen, dass dieses komplexere Ma-terial aus ägyptischen Archiven stammte, wo es seit Jahrtausenden in schriftlicher Form ver-wahrt wurde, könnte eine solche Fehlleistung bei der Übertagung eigentlich nur Solon unter-laufen sein, dessen Report Platon verwertete.
Nun war Solon jedoch, wie Platon betont, ein durchaus kompetenter Übersetzer, dem ein solch grober Schnitzer (die komplette, unbeabsichtigte Vermengung derart unterschiedlicher Elemente) sicherlich nicht unterlaufen wäre - und eine gezielte Manipulation durch ihn macht keinen Sinn. Nein, denkbar wäre lediglich eine BEWUSSTE Verfälschung durch Platon selber, eine Variante, die viele Atlantologen - zu denen Tributsch allerdings nicht zu rechnen ist - durchaus in Erwägung ziehen. Alles in allem ist damit klar: Tributschs Atlantis/Los Millares-Charade ist argumentativ kaum von Wert und stellt lediglich ein Hilfs-Konstrukt dar, um seine ansonsten schwer haltbare Gavrinis-Lokalisierung zu stützen.