Atlantis - Teil I

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von William H. Babcock (1922)

Vor etwa 2300 Jahren schrieb Platon über ein großartiges und bevölkerungsreiches Inselreich im äußeren (Atlantischen) Ozean, das mehr als 9000 Jahre vor seiner Zeit Krieg gegen Athen geführt habe und unvermittelt von einem Kataklysmus der Natur verschlungen worden sei. Seinem Bericht über diesen Vorfall zufolge, war dieses erstaunliche Phänomen, samt all dem Glanz seiner nationalen Errungenschaften, der dem ein wenig vorausging, von den Athenern vergessen worden; die Überlieferung war aber in den heiligen Schriften der Priester zu Saïs im oberen Nildelta aufgezeichnet, und an Solon von Athen weitergegeben, worden als er sie um etwa 550 v. Chr. herum besuchte.


Abb. 1: Platon, der Autor des Atlantisberichts. Der Mythologe William H. Babcock legte 1922 die hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte Untersuchung dieses meistdiskutierten Werkes der Weltliteratur vor.

Solon beschrieb sie in einem Gedicht, von dem jede Spur fehlt, oder er begann sie niederzuschreiben und gab sie an seinen Freund Dropides weiter. Das ist wahrscheinlich so zu verstehen, dass er ihn in irgendeiner schriftlichen Form an seinen Freund weiterreichte, da wir Kritias im Dialog mit Sokrates von Platon mit folgender Erklärung wiedergegeben finden: "Mein Urgroßvater Dropides hatte die Urschrift, die noch jetzt in meinem Besitz ist." (+1)[1] Wenn dem so war, dann ist sie verschwunden.

Tatsächliche und erfundene Elemente in Platons Atlantisbericht

Es liegt auf der Hand, dass der Atlantisbericht entweder als im wesentlichen historisch, mit einigen vermutlichen Ungereimtheiten und Übertreibungen, oder aber als Fiktion betrachtet werden muss, die in gewissem Maße (wie bei allem in dieser Art) auf lebendigen oder antiquierten Fakten beruht. Sicherlich wird niemand sie im Ganzen, so wie sie da steht, für bare Münze nehmen. Auch wenn wir alle Bezugnahmen auf den Gott Poseidon und seine umfangreiche halbgöttliche Nachkommenschaft eliminieren, so bleiben noch immer diverse essentielle Aspekte, welche die Glaubwürdigkeit kaum verdauen kann.

Atlantis ist zu offensichtlich eine Art früheres und gleichermaßen kolossales Persien (Abb. 2), im Westen statt im Osten, welches den Mittelmeer-Raum überrannte, bis es von der unerschrockenen Standhaftigkeit der großen athenischen Republik aufgehalten wurde. Die höchst authentische Glorie Athens war der Sieg über Xerxes und seine Generale. Wäre dies anders gewesen, dann müssten wir annehmen, dass wir nichts über eine vereitelte Invasion durch Atlantis zu hören bekommen hätten. Zudem stellt sich uns die Frage, ob wir Athen, im Widerspruch zu allen anderen Informationen, als dominante Militärmacht mehr als 9500 Jahre v. Chr. akzeptieren, [während einer Zeit] als seine Bevölkerung, wenn es sie überhaupt schon gab, überaus primitiv und unansehnlich war. Überdies wäre der plötzliche Untergang eines so großen Gebiets wie des vermuteten Atlantis ein Ereignis ohne Gleichen in den Annalen der Menschheit, das nebenbei mit einiger Sicherheit seine Spuren im Rest der Welt hinterlassen hätte, die auch jetzt noch zu erkennen wären.


Abb. 2: Stellte das alte Persien des Großkönigs Xerxes ein historisches Vorbild für Platons Atlantis dar? Viele schulwissenschaftliche Atlantologen des frühen 20. Jahrhunderts waren, wie Babcock, fest davon überzeugt.

Die Fiktions-Hypothese scheint rational gut begründet zu sein. Wir sollten uns daran erinnern, dass Platon sich nicht immer auf die puren Fakten beschränkte. Seine bevorzugte Darstellungsweise bestand in der Wiedergabe vermeintlicher Dialoge zwischen Sokrates (Abb. 3) und verschiedenen Personen - Dialoge, an die sich in ihrer Gesamtheit niemand genau hätte erinnern können. Man hat erkannt, dass er im Arrangement, den Charakteren und Äußerungen Erfindungen verwendet hat, um ebenso seine eigenen Theorien und Konzepte zu transportieren wie diejenigen seines bewunderten Lehrers und Führers, so dass es häufig unmöglich erscheint, zu sagen, ob wir bestimmte Betrachtungen oder Stellungnahmen in erster Linie Platon oder Sokrates zuschreiben sollen.

Besessen von seinen Betrachtungen könnte er auch ein, weitgehend selbst erdachtes, vorgestelltes Bild eines entwickelten Systems sozialer und politischer Organisation als lehrreiches Beispiel präsentiert haben. Dies hat er [auch] in seiner "Republik" getan und er plante anscheinend ein teilweise paralleles Werk dieser Art mit der Trilogie, von welcher der "Timaios" und der fragmentarische "Kritias" den ersten und den unvollendeten zweiten Teil darstellen. Ein Autor (Lewis Campbell) beschreibt den Sachverhalt recht eindeutig im Artikel "Plato" in der Encyclopaedia Britannica":

"Was dem [Timaios] folgen sollte, doch nur in dem Fragment des Kritias angefangen ist, wäre die Geschichte, nicht des Falls, sondern des Triumphs der Vernunft der Menschheit gewesen. ... Nicht nur der Timaios, sondern die unvollendete Gesamtheit, deren Einleitung er bildet, ist vermutlich eine imaginative Schöpfung. Daher dürfte die Legende vom prähistorischen Athen und von Atlantis [...] nichts anderes als eine Prosa-Dichtung, eine >mythologische Lüge< gewesen sein, komponiert im Geiste der >Republik<, und in Form einer fiktionalen Erzählung."[2] (+2)

Jowett nimmt in seiner Einführung zum "Kritias" substantiell die selbe Position ein und zeigt sich überrascht über die naive, wörtliche und tatsächliche Form, in welcher die vormalige Existenz und Vernichtung des großartigen Atlantis allgemein als nüchterne Darlegung von Fakten akzeptiert wurde [...]. Auch ist diese Einschätzung des Atlantis-Berichts als vorwiegend erhellender und erhebender Roman [orig. „romance“; d.Ü.] keine besonders moderne Theorie. Plutarch betont in einer Passage, welche von Schuller zitiert wird, die Tendenz Platons, sein Thema auszuschmücken, indem er Atlantis eher als einen entzückenden Fleck in einem unbesetzten [literarischen] Feld behandelt, denn als als veredelnde Imagination, und er betont seine [Atlantis´] beschriebene Magnifizenz "so, wie sie keine andere Erzählung, Fabel oder ein Gedicht je aufwies". (+3)[3]


Abb. 3 Sokrates (vermutl. 469 - 399 v.Chr.), der bewunderte und verehrte Lehrer des Platon. Babcock ging davon aus, dass viele seiner Vorstellungen zum 'idealen Staat' in Platons Atlantisbericht eingeflossen ist.

Dies jedoch, ob völlig angebracht oder nicht, unterstreicht die Annahme des märchenhaften Charakters [des Atlantisberichts]. Plutarch fügt ein Wort des Bedauerns darüber an, dass Platon diese "entzückende" Geschichte erst gegen Ende seines Lebens begann und starb, bevor sein Werk vollendet war. Das genaue Motiv der Fiktion ist für unsere vorliegende Untersuchung von geringerem Interesse. Es erscheint kaum möglich, dass die Weiterführung der Komposition den verbleibenden zwei Teilen der Trilogie [...] einen authentischeren historischen Anstrich verliehen haben könnte. So, wie der Fall liegt, wird über Atlantis im Timaios ziemlich kurzangebunden berichtet, ausführlicher [dagegen] und mit mythologischen und architektonischen Aussschmückungen im späteren Kritias, bis dieser mitten im Satz abbricht.

Dies erscheint als klarer Fall eines plötzlich zum Stillstand gebrachten Prozesses, der es uns jedoch sehr wohl erlaubt, den Charakter des Ganzen aus den verbleibenden Teilen zu erschließen. [...] Es erscheint jedenfalls unstrittig, dass vor-platonische griechische Literatur und Kunst [diese Erzählung] in keiner unzweideutigen und verlässlichen Weise stützen. Mit bestimmten Hinweisen oder Beiträgen werden wir uns später noch beschäftigen, aber sie betreffen weder den Charakter der Geschichte als Ganzes, noch tendieren sie dazu, die [historische] Realität ihrer Haupt-Elemente zu befestigen.

Wir müssen nicht Platon alle Märchen und Erfindungen in dieser Geschichte zuschreiben. Sie könnten zum Teil durch die Priester in Saïs (Abb. 4) oder durch Solon aufgekommen sein, oder auch durch Dropides sowie durch Kritias; möglicherweise haben auch sie alle sukzessive Schichten aus Erfindungen beigetragen, die dann von Platon gekrönt wurden. Wir müssen die Erzählung praktisch so behandeln, als beginne sie bei ihm. Ihr Detail-Reichtum und ihr realistischer Anstrich sind bisweilen als Zeugnisse für Genauigkeit betrachtet worden, doch sie liegen nicht jenseits der üblichen Fähigkeiten eines Schriftstellers, und Platon war dieser Aufgabe viel mehr als nur gewachsen.


Signifikante Passagen aus der Erzählung

Der Atlantisbericht, zumindest in seinen relevanteren Teilen, ist so oft übersetzt und kopiert worden, dass man zögert, ihn erneut zu zitieren; doch es gibt bestimmte Elemente, denen Auf-merksamkeit geschenkt werden sollte, und kurze Auszüge stellen die beste Methode dar, das zu erreichen. Die folgenden Passagen stammen aus der Übersetzung des Smithsonian von Termiers bemerkenswertem Referat über Atlantis, die von dieser Institution wiederveröf-fentlicht wurde. Sie unterscheidet sich im Wortlaut von der Übersetzung von Dr. Jowett, aber nicht im Sinngehalt. Von diesen zwei Zitaten stammt eines aus dem >Kritias<. Es ist kürzer als das andere, bildet jedoch einen entwickelteren und ausgedehnteren Bericht über die Insel.


Abb. 4 Von den prächtigen Tempeln der Stadt Saïs im oberen Nildelta, wo Solon einst seine urgeschichtliche Lehrstunde erhielt, sind heute nur noch einige, unter eingetrockneten Schlamm-Massen verborgene, Mauer-Reste übrig.

Indem er seine festgesetzte Rolle im Dialog einnimmt, sagt Kritias: "Den ägyptischen Über-lieferungen zufolge, brach vor 9000 Jahren ein allgemeiner Krieg zwischen den Nationen auf dieser Seite der Säulen des Hercules, und den Nationen, die von jenseits kommen, aus. Auf der einen Seite stand Athen, auf der anderen die Könige von Atlantis. Wir haben bereits gesagt, dass diese Insel größer war als Asien und Afrika, aber im Gefolge eines Erdbebens überflutet wurde, und dass ihr Ort nicht mehr zu finden ist, abgesehen von einer Sandbank, die Seeleute aufhält und die See unpassierbar macht." (+4)

Termier zitiert auch aus dem Dialog >Timaios< (Kritias wiederholt das Statement der ägypti-schen Priester): "Die Aufzeichnungen berichten uns von der Vernichtung einer einzigartig mächtigen Armee durch Athen, einer Armee, die vom Atlantischen Ozean kam und die Un-verfrorenheit hatte, nach Europa und Asien einzudringen; denn dieses Meer war damals befahrbar, und jenseits der Straße, die Ihr die Säulen des Hercules nennt, gab es eine Insel, die größer als Libyen und sogar Asien war. Von dieser Insel aus konnte man leicht zu anderen Inseln, und von ihnen auf den gesamten Kontinent gelangen, der das innere Meer umgibt...

Auf der Insel Atlantis herrschten Könige von verblüffender Macht. Zu ihrem Herrschaftsgebiet gehörte die gesamte Insel, so wie andere Inseln und Teile des Kontinents. (+5) Daneben herrschten sie noch auf der diesseitigen Seite der Straße über Libyen, bis hin nach Ägypten, und über Europa bis nach Tyrrhenien. All diese Macht ward einstmals dazu vereinigt, mit einem einzigen Schlage unser Land [Ägypten; d. Ü.] zu unterwerfen, das eure [Hellas; d.Ü.], und all jene Völker, welche diesseits der Straße lebten.

Damals war es, dass die Stärke und der Mut Athens entflammten. Durch die Tapferkeit seiner Soldaten und durch ihre Überlegenheit in der Kriegskunst überragte es alle Hellenen. Und nachdem jene [von ihren Verbündeten] im Stich gelassen waren, begegnete es tapfer alleine der fürchterlichen Gefahr, stoppte die Invasion, errang Sieg um Sieg, bewahrte die noch freien Nationen vor der Sklaverei, und gab all jenen, die wie wir auf dieser Seite der Säulen lebten, die vollständige Freiheit zurück.

Später wurden bei großen Erdbeben und Überschwemmungen an einem einzigen Tage und in einer einzigen, fatalen Nacht alle euch feindlichen Krieger verschlungen. Die Insel Atlantis ver-schwand unter der See. Seit jener Zeit ist das Meer in jenen Gebieten unbefahrbar geworden; Schiffe können dort, wegen des Sandes, der sich über der Stätte der begrabenen Insel aus-breitet, nicht vorbeikommen." (+6)

Wir haben gesagt, dass jede Fiktion ein paar Wurzeln in der Realität hat. Auch stellt ein My-thos für gewöhnlich den Versuch einer Erklärung für irgendwelche mysteriösen Natur-Phäno-mene, oder eine verzerrte Schilderung obskurer, beinahe vergessener, Ereignisse dar. Beab-sichtigte Fiktion [...] kann [ebenfalls] nicht völlig frei von Fakten sein. Damit wenden wir uns jenen hervorstechenden Merkmalen obiger Auszüge zu, die in [gewissem] Grade für reale Ereignisse der Vergangenheit stehen könnten, oder für rätselhafte Umstände fortgesetzter Natur. Neben der prähistorischen Pracht und dem Triumph Athens, mit denen wir uns bereits beschäftigt haben, sind dabei bemerkenswert: die Invasion des Mittelmeer-Raums durch die Atlanter; die Weiträumigkeit seines [Atlantis] Untergangs; und die angeblich fortgesetzte Be-hinderung der Befahrbarkeit in jenem Gebiet.


Die atlantische Invasion des Mittelmeer-Raums

Es scheint einige Gerüchte bezüglich sehr früher Feindseligkeiten zwischen den Bewohnern der Mittelmeer-Küsten und denjenigen jenseits der Säulen des Hercules gegeben zu haben. Dieser geographische Name legt Zeugnis ab von der angeblichen Ausübung dominanter Macht Grie-chenlands am eigentlichen Tor zum Atlantik, und die Legende, welche diesen Halbgott mit Ca-diz in Verbindung bringt, trägt seine Aktivitäten darüber hinaus in den veritablen Grenzbereich des Ozeans.

Der rationalisierende Diodorus, der im ersten Jahrhundert vor Christus schrieb, aber frei mit Überlieferungen aus einer viel früheren Zeit umging, präsentiert Hercules als großen Heer-führer, der, nachdem er seine Gedenk-Säulen gesetzt hatte, weiter vordrang, um Iberien (das heutige Spanien und Portugal) zu überrennen und zu erobern, dann nach Ligurien und danach nach Italien weiterzuziehen; ganz in der Manier von Hannibal, der Diodorus viel näher lag und auch besser bekannt war. (+7)

Es ist evident, dass der frühere Teil dieser Kampagne Kampfhandlungen jenseits der Säulen des Herkules zumindest an der lusitanischen Atlantik-Küste eingeschlossen haben muss. Zu-dem werden uns die westlichen Amazonen vorgestellt, deren Macht-Zentrum auf der Insel Hesperia zwischen dem Berg Atlas und dem Ozean lag, und die sowohl die Bergbewohner im Inland als auch ihre seefahrenden Nachbarn überrannten, die Gorgonen [...]. (+8) Die armen Gorgonen wurden unterworfen, doch entwickelten sie lange danach unter Königin Medusa er-neut ihre Macht, nur um dann vernichtend von dem griechischen General Perseus geschlagen zu werden.

Sowohl die Gorgonen als auch die westlichen Amazonen scheinen ihre Wohnsitze an den Kü-sten des Atlantischen Ozeans, südlich der Straße von Gibraltar gehabt zu haben, entlang der Vorderseite des heutigen Marokko und [in] der Region südlich davon. Wir können nicht sagen, wie viel von diesen Geschichten auf Diodor zurückgeht, doch er führte sie sicherlich [erstmals] insgesamt ein, und es ist nicht wahrscheinlich, dass er sich ihre am stärksten kennzeichnenden Aspekte ausgedacht hat.


Abb. 5 Aus Sicht der Griechen und Römer war die iberische Atlantik-Küste das westliche Ende der Welt, wo der Gott Helios abends in die Fluten des Okeanos eintauchte. Die Hellenen brachten viele der Götter und Helden der Vorzeit, wie Pluto, Atlas und Herakles mit dem 'Westland' in Verbindung.

Der Mythos von Perseus, bezieht sich, wie der von Theseus und dem Minotaurus, auf eine dunkle und weit entfernt liegende Historie. Wir denken, dass wir letztere nach den Ausgra-bungen auf Kreta teilweise verstehen. Ähnlicher Weise könnten die Züge und Heldentaten des Perseus, wie sie uns in der Mythologie präsentiert werden, eine andere Form der Mitteilung dazu darstellen, dass er schnelle Reisen in weite Fernen unternahm und mit tödlicher Konse-quenz über seine Feinde herfiel. Diese Berichte, die von Diodorus stammen, stellen die Küsten-bewohner des Atlantik nicht als Invasoren des Mittelmeer-Raums dar; doch einige solcher Überfälle würden, in Form von Vergeltungs-Maßnahmen, sicherlich den unermüdlichen Aktivi-täten folgen, die Kommandanten aus dem östlichen Mittelmeer zugeschrieben wurden, auch wenn sie diese tatsächlich nicht selber verursacht und provoziert haben.

Wir brauchen uns keine Masse von Atlantiden vorzustellen, die durch die Säulen strömen, sondern piratisierende Nachfahren von Seefahrern des äußeren Meeres reichten vermutlich aus, und [sie] könnten, über einen sehr langen Zeitraum hinweg, durch Gerüchte zum Gegen-stand von Übertreibungen geworden sein. Auch hätte kaum jemand aus den bedrohten Völkern zwischen Streitkräften von den Küsten des Festlandes und jenen von einer außerhalb befind-lichen Insel unterschieden. Der Feind könnte sehr wohl beide Elemente verkörpern.


Position und Größe von Atlantis

Die Position von Atlantis ist, Platon folgend, recht klar. Es lag in dem "damals befahrbaren" Ozean jenseits der Säulen des Hercules; zudem hinter gewissen anderen Inseln, die ihm als Sprungbretter zu der Kontinental-Masse dienten, welche das Mittelmeer umgab. Dies eliminiert erfolgreich alle Behauptungen bezüglich Kreta oder irgendeiner andere Insel oder Region des Inneren Meeres. Atlantis muss zudem hübsch weit draußen im Ozean gelegen haben, um Raum für die dazwischenliegenden Inseln zu lassen, bei denen es sich, wenigstens zum Teil, gut um die Kanaren-Inseln oder um andere [damals noch; d. Red.] erhaltene Teile des ost-atlantischen Archipels gehandelt haben könnte.

Dies schließt Amerika aus, ganz abgesehen von der Tatsache, dass Amerika (wie Kreta) noch existiert, wohigegen Atlantis unterging, und von der weiteren Tatsache, dass Amerika ein Kon-tinent ist, während Atlantis in etwa als Großinsel geschildert wird. Außerdem, was für Evidenzen gibt es, dass Amerika Heere und Flotten zur Invasion Europas ausschicken konnte? Weder die Inka, noch die Azteken, noch die Maya waren zu einer solchen Aggression in der Lage, und wir wissen von keiner größeren Macht in diesem Teil der Welt vor der ganz modernen Entwicklung der Macht des weißen Mannes.


Abb. 6 Nach Babcock muss sich die Atlanter-Hauptstadt, falls Platons Bericht einen historischen Hintergrund hatte, tatsächlich auf einer Insel im Atlantischen Ozean befunden haben. 'Revisionistische' Lokalisierungen, wie auf der Ägäis-Insel Santorin, schloss er kategorisch aus.

Bezüglich der Größe von Atlantis ist nicht ganz klar, ob wir es alleine mit dem mediterranen Afrika oder zusammen mit Kleinasien vergleichen müssen. Vermutlich wollte Platon lediglich ein großes Gebiet ohne exakte Konzeption seiner Ausdehnung beschreiben. Wenn wir uns eine Insel, so groß wie Frankreich und Spanien vorstellen, so werden wir vermutlich nicht sehr danebenliegen. Die Gegend der mittelatlantischen Sargasso-See würde in etwa der angedeute-ten Position entsprechen.


Zur Unwahrscheinlichkeit der Existenz einer solchen Insel

Nun, gab es vor etwa 11 400 Jahren solch eine große Insel und ein volkreiches, glorioses Kö-nigreich im Mittel-Atlantik oder sonstwo im Atlantischen Ozean? Wenn auch nicht absolut un-möglich, so erscheint dies doch zumindest sehr unwahrscheinlich. Durch Kritias Mund berichtet uns Platon, wie die Menschen von Atlantis [...] ihre Tempel und Paläste konstruierten, Häfen und Docks, einen großartigen Palast, den sie fortgesetzt über viele Generationen hinweg orna-mentierten, Känäle und Brücken, Mauern und Städte, zahlreiche Statuen aus Gold, sowohl heiße als auch kalte Springbrunnen, Bäder und eine große Zahl von Häusern. (+8)

Solch ein zivilisatorischer Fortschritt, solch eine hochentwickelte Organisation, solche Größe und Macht hätte sicherlich auch die Inseln erreicht, die zwischen Atlantis und der Kontinental-küste erscheinen. Es steht nicht geschrieben, dass sie alle das selbe Schicksal teilten; und in der Tat gibt es nachweislich noch heute die Azoren, Madeira mit ihren Konsorten, den Kanari-schen Inseln und die Kapverden-Gruppe.

Einige von ihnen müssen problemlos in Reichweite von Atlantis gelegen haben, sofern Atlantis existiert hat. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass sie jüngeren Ursprungs oder seit jener Zeit aufgestiegen sind. Auch wenn wir eine große Übertreibung zulassen, und lediglich von einer großen und tüchtigen Bevölkerung in einem riesigen Insel-Territorium ohne den beschriebenen Überfluss an Pracht ausgehen, so hätte ein solches Volk sicherlich irgend eine Art nachhaltiger Denkmale oder Relikte jenseits ihrer Grenzen hinterlassen. Derartiges gefunden hat man weder auf diesen Inseln der ostatlantischen Archipele noch irgendwo sonst in jenem Teil der Welt.

Die Anwälte eines realen Atlantis versuchen Beweise für eine große Landmasse aufzuhäufen [siehe dazu: Kleinkontinent Atlantis; d. Red.], die zu irgendeinem Zeitpunkt im Atlantik existiert habe, soweit ein logisches Procedere, aber eines, das dieser Sache nicht gerecht wird, da das [betreffende] Land sich schon Zeitalter vor der angeblichen Atlantis-Periode gehoben und gesenkt haben könnte. Es ist fruchtlos, seine Präsenz in der miozänen, pliozänen oder pleistozänen Epoche zu demonstrieren, oder tatsächlich zu irdendeiner Zeit vor der Ent-wicklung einer wohl-organisierten Gesellschaft unter den Menschen, oder, wie Platon anschei-nend meint, vor zwischen 11 000 und 12 000 Jahren.

Was zudem benötigt wird, sind Evidenzen für die Großinsel Atlantis, nicht für eine vormalige seewärtige Ausdehnung eines [heute] existierenden Kontinents, und auch nicht für irgendeine Landbrücke, die den Ozean überspannte. Es trifft zu, dass solche Bedingungen durch das Nie-derbrechen und die Überflutung des dazwischen liegenden Landes als entfernte Präliminarien für die Bildung der Insel Atlantis dienen könnten; doch dies vervielfältigt nur die zu demon-strierenden Kataklysmen und kann angesichts des Fehlens eines Beweises für die Insel selbst keine wirkliche Relevanz haben.

Die geologischen und geographischen Phänomene vormenschlicher Zeiten stehen nicht zur Debatte. Die zur Untersuchung stehende Erzählung handelt von einer aufblühenden insularen Entwicklung einer künstlichen menschlichen Gesellschaft über einen langen Zeitraum hinweg, doch nicht vor so vielen Jahrtausenden [...]


Thermiers Theorie einer alten atlantisch-kontinentalen Landmasse

Trotzdem sind Untersuchungen zu einem alten Kontinent im Atlantik interessant. Wir sollten aus einigen der neueren Veröffentlichungen dazu zitieren. Termier berichtet uns von einer Ost-West-Ausrichtung erhöhter Inseln früherer Zeiten im Atlantik, im Gegensatz zu dem gegenwär-tigen nord-südlichen System von Inseln und aufragenden Falten.


Abb. 7 Der französische Geologe Pierre Marie Termier (1859-1930). schwamm zu Beginn des 20. Jahrhunderts 'gegen den Strom', und versuchte mit geologischen Argumenten den rezenten Untergang einer Großinsel im Atlantik nachzuweisen.

Vormals gab es "eine uralte Kontinental-Verbindung zwischen Europa und Nordamerika und ... eine andere, ebenfalls sehr alte, Kontinental-Verbindung zwischen der afrikanischen Landmas-se und Südamerika... Dadurch wurde das Gebiet des Atlantik, bevor eine Ära der Vernichtung begann, von der wir nicht wissen, wann sie anfing, deren Ende aber das Tertiär war, von einer kontinentalen Landmasse beherrscht, die im Süden von einer Berg-Kette begrenzt, und die lange vor den vulkanischen Landgebieten völlig überflutet wurde, von denen die Azoren letzte Überreste zu sein scheinen. An der Stelle des Südatlantischen Ozeans bestand gleichermaßen, über viele hunderttausend Jahre hinweg, ein großer Kontinent, der jetzt, von der See verschlungen, in großer Tiefe liegt." (+9)

Später bezieht er sich auf "Einstürze ... am Ende des Miozäns, in der gefalteten mediterranen Zone und in den zwei Kontinental-Bereichen, die bis zur völligen Vernichtung der beiden Konti-nente anhielten ... dann, auf Grund dieser Absenkungen, das Erscheinen einer neuen Anord-nung mit genereller Nord-Süd-Ausrichtung auf dem Grunde dieses immensen Seegebiets... die extreme Mobilität des Atlantik-Raumes ... die Gewissheit des Auftretens immenser Vertie-fungen beim Verschwinden von Inseln und sogar Kontinenten; die Gewissheit, dass einige dieser Mulden quasi erst gestern entstanden sind, aus dem Zeitalter des Quartärs stammen, und dass der Mensch sie [die Inseln] demzufolge gesehen haben kann; die Gewissheit, dass einige von ihnen plötzlich, oder zumindest ziemlich schnell [verschwunden sind].

Man beachte, was es alles [an Argumenten] gibt, um diejenigen zu ermutigen, die nicht von Platons Bericht ablassen. Geologisch gesprochen ist Platons Geschichte höchst wahrscheinlich." (+10)

Anmerkungen und Quellen:

Dieser Beitrag (Teil I und Teil II als Gsamtarkel) von Willam H. Babcock ist seinem Buch "Legendary Islands of The Atlantic - A Study in Medieval Geography" entnommen (Kapitel II, S. 11-33), das 1922 von der American Geographical Society veröffentlicht wurde. Bei atlantisforschung.de erscheint er in einer gekürzten und illustrierten Online-Fassung. Übersetzung ins Deutsche nach der Ausgabe der University Press of the Pacific, die 2002 erschienen ist, durch atlantisforschung.de.

  1. Quelle: Benjamin Jowett, The Dialogues of Plato, Translated into English with Analyses and Introductions, 3rd edit., 5 vols., London and New York, 1892; reference in Vol. 3, p. 534
  2. Quelle: Encyclopaedia Britannica, 11. Edit., Vol. 21, S. 823; Red. Anmerkung: Mit der zweifelsfreien Verifizierung des Platonischen "Ur-Athen" durch neuere archäologische Grabungen an der Akropolis können wir diese Hypothese von Campbell et al. getrost ad acta legen!
  3. Quelle: Atlantis, the "Lost" Continent: A review of Termier´s Evidence, Geogr. Rev., Vol. 3, 1917, pp. 61-66, reference on p. 62


Fortsetzung:

Atlantis (William H. Babcock), Teil 2