Gerhard Herms nordeuropäisches Atlantis (III)
Ramses und die Krieger mit dem starrenden Haar
(bb) Kommen wir nun zum dritten und letzten Teil unserer Präsentation der, an Jürgen Spanuths Arbeiten angelehnten, Interpretation des Atlantisberichts von Gerhard Herm, welche er 1975 in seinem Buch "Die Kelten - Das Volk, das aus dem Dunkel kam" vorgestellt hat. Abschließend geht es hier um das 'Finale' der großen Völkerwanderung am Ende der Bronzezeit, die abertausende von Menschen aus dem verwüsteten Norden Europas in ihrer Not den Griff nach den sprichwörtlichen 'Fleischtöpfen Ägyptens' wagen ließ.
Dazu lesen wir bei Herm: "Wer die Horden [1] gewesen sind, die während der Regierungszeit Ramses´ III. (Abb. 1), also zwischen 1179 und 1165 v. Chr., das von ihm beherrschte Ägypten angriffen, war lange umstritten und ist es noch heute. Koordiniert man aber alle die Daten, die jenes Ereignis betreffen, dann muß man zu dem Schluß kommen, es hänge mit dem zusammen, was die Vorgeschichtler als >mitteleuropäische Wanderungen am Ende des dreizehnten vorchristlichen Jahrhundert< bezeichnen, mit der durch den Klimasturz ausgelösten Völkerbewegung also.
Menschen aus allen Siedlungsräumen zwischen Nordsee und Ägäis waren damals aufgestört, durcheinandergewirbelt und von den Nordleuten in Richtung Süden mitgerissen worden. Unter ihnen mögen sich Vorfahren der späteren Kelten ebenso befunden haben wie mykenische und mykenisierte kretische Adlige samt ihren Gefolgsleuten; daneben Umbrer und Teutanen, die auch in Italien keine Ruhe fanden.
Und wenn dieser buntscheckige Haufe den Ägyptern wie ein einziges Volk erschien, dann deshalb, weil er ja aus Gebieten kam, welche überwiegend von einer in ihren Grundzügen rinheitlichen Kultur geprägt waren. Krahes allerdings nicht unumstrittene Arbeiten heranziehend, könnte man sogar vermuten, daß die meisten Mitglieder des >Seevölkerzuges< eine einzige Sprache benutzten, eben die alteuropäische, und daß sie gleiche Sitten hatten. Die Ägypter jedenfalls stellten sie auf den Wänden des Ammontempels von Medinet Habu als Krieger dar, die, ohne Ausnahme, so etwas wie eine gewaltige Bürstenfrisur trugen. Das könnten Büsche auf extrem flachen Helmen gewesen sein, aber auch, was wahrscheinlicher ist, Haare, die emporgekämmt und dann von Haarnetzen gehalten oder mit Gipswasser gehärtet worden waren.
Der Pharao ließ sich dennoch nicht von dem seltsamen Aufputz verblüffen. >Ich richtete<, übermittelt er der Nachwelt, >meine Grenzen ein ... ich habe die Flußmündungen vorbereitet, wie einen starken Wall mit Kriegsschiffen ... voll bemannt vom Bug bis zum Heck mit tapferen Kriegern.< Dann schlug er die Angreifer in zwei Landschlachten und in einem Seegefecht. Das war 1195 v. Chr. Welchem Ereignis er die Invasion zu verdanken hatte, scheint er im übrigen sehr wohl gewußt zu haben. Die Texte auf den Wänden von Medinet Habu halten Fest, daß die Heimatländer der Eindringlinge >vom Sturme ausgerissen und fortgeweht< worden seien.
Nun war ihr Versuch gescheitert, im warmen Nilland Ersatz dafür zu finden. Was sich von den >Seevölkern< retten konnte, führte fortan ein unstetes Dasein vor den Küsten Palästinas, Syriens und Zyperns. Größeren Kontingenten gelang es, in dem Land, dem um 1250 v. Chr. auch der Flüchtlingstreck von Moses zugestrebt war, den Städtebund der Philister zu gründen, während wieder andere sich im Libanon mit den Kanaanäern zusammentaten und diesen beim Aufbau ihres, des phönizischen, Handelsimperiums halfen. Schiffe, wie man sie für ein derartiges Unternehmen benötigte, konnten sie ja besser bauen als irgendeines der am Mittelmeer ansässigen Völker." [2]
Damit war, um es im Rahmen des Konzepts von Gerhard Herm zu formulieren, - je nach Blickwinkel - die Epoche des bronzezeitlich-alteuropäischen, oder auch des nordeuropäisch-atlantidischen Zeitalters unter dramatischen Umständen zu Ende gegangen, wenn man von einigen 'Nachwehen' absieht, über die es bei Herm heißt: "In den Ländern aber, die sie [die 'atlantischen' Alteuropäer] durchwandert hatten, begann sich allmählich neues Leben zu regen. Die Herren von Mykene scheinen einen Teil ihrer zerstörten Städte wieder aufgebaut zu haben. Die Kultur, der Sie angehörten, überlebte den Seevölkereinbruch um rund hundert Jahre. Erst dann kamen neue Erobererscharen, die Dorer, Nachzügler der großen mitteleuropäischen Wanderung, und brachten zu Ende, was die älteren nicht versucht hatten. Sie besetzten den Peloponnes.
Das kollektive Gedächtnis und Unterbewußtsein der Griechen, ihr Mythos, bewertet das Ereignis positiv. Daraus schöpfend, sagt Thukydides, es seien die Die Herakliden gewesen, die in das Land einfielen, Nachkommen des großen und geliebten hellenischen Nationalheros Herakles, von dem sich ja immer das Gerücht gehalten hatte, daß er, wie auch Apollo und Dionysos, gelegentlich nach Norden reiste und da etwa den ersten Kelten gezeugt hätte. Andererseits entdeckten Griechen ihren Schlangenwürger (Abb. 3) später auch bei den Phöniziern. War er also mit Nachkommen der Seevölker aus dem Libanon zurückgekehrt? Oder war er ursprünglich nur einer der indogermanischen Götter gewesen? Von seinem Vater Zeus und von Poseidon nimmt man das ja ebenfalls an.
So dunkel die Mythen auch sein mögen, man muß sie als verblassende Erinnerungen an eine Vergangenheit begreifen, die Achaier, Dorer, Seevölker und viele andere miteinander gemeinsam hatten. Auf jeden Fall sind sie der letzte Rest jener alteuropäischen Kultur, deren Anfänge bis in die Steinzeit zurückreichen, und der Wurzelboden neuer Zivilisationen.
In Griechenland erblühte aus ihr die hellenische Klassik. Sie wurde getragen von dem >agonalen< Menschen, der es liebte, in Sportarenen seine Kräfte und im Streitgespräch seinen Witz zu erproben. An den Rändern dieser Wiege des Abendlandes aber, in den Klüften des Balkans, in den makedonischen Wäldern, hielten sich Stämme, die diese Entwicklung nur so langsam mitmachten, daß sie noch zu Zeiten Alexanders des Großen wie die achaiischen Helden lebten, die Homer schildert. Sie tranken ungemischten Wein, begeisterten sich an Bardengesängen und waren in Gefolgschaften organisiert. Das gilt auch von jenen, die am Seevölkerweg noch weiter nördlich zurückgeblieben waren, etwa von den restlichen Bewohnern Böhmens.
Diese Menschen mußten sich einem rauher gewordenen Klima anpassen, vertauschten den kniefreien Rock ihrer Vorfahren aus der mittleren Bronzezeit mit Hosen und Jacken, färbten aber nach wie vor ihre Umhänge bunt. Auch behielten sie den Hörnerhelm und die starrende Frisur bei, auf welche die Dorer, unter dem Einfluß mediterraner Zivilisationen, allmählich zu verzichten begannen. Wenn sie jedoch in Hitze gerieten, warfen sie immer noch alles ab, was ihre Bewegungsfreiheit behinderte, und stürmten nackt auf den Wettkampfplatz oder in die Schlacht. Sozusagen im Windschatten der großen mitteleuropäischen Wanderungen auf den durch die Klimakatastrophe verwüsteten Fluren Westeuropas bahnten sich Entwicklungen an, die zu jüngeren Kulturen führten. Deren Begründer mußten freilich nahezu noch einmal bei Null beginnen, mußten zumindest ihr überliefertes Erbe gründlich veränderten Umständen anpasssen." [3]
Anmerkungen und Quellen
- ↑ Red. Anmerkung: Der despektierliche Ausdruck "Horden" erscheint uns angesichts einer so wohl organisierten, disziplinierten und einheitlich ausgerüsteten (quasi 'uniformierten') Streitmacht, wie die Seevölker sie zum Einsatz brachten, ziemlich fehl am Platze!
- ↑ Quelle: Gerhard Herm, "Die Kelten - Das Volk, das aus dem Dunkel kam", Weltbild Verlag (Lizenzausgabe), 1991, S. 154-156
- ↑ Quelle: ebd., S. 156-157
Bild-Quellen
(1) Wikimedia Commons, unter: File:RamessesIII-HeadFromColossalStatue MuseumOfFineArtsBoston.png
(2) Wikimedia Commons, unter: File:Bas relief de prisonniers philistins sur la facade sud du deuxième pylône (2).JPG
(3) SAGEN.at, unter: Die drei letzten Arbeiten des Herakles