Stichwort: Anthroposophie

von Hans-Otto Wiebus

Die Weisheit über den Menschen (griechisch >anthropos< = mensch, >sophia< = Weisheit), die Antroposophie versteht sich als umfassende Wissenschaft vom Menschen, die dessen Beziehungen zu >höheren Welten< deutlich machen will. Als esoterisch orientierter Zirkel ist die Anthroposophie in ihrem Kern nur für wenige Menschen attraktiv. Breitenwirksam sind jedoch die anthroposophisch geprägten Waldorfschulen und der biodynamische Landbau.

Abb. 1 Rudolf Steiner (1861-1925), aufgenommen um 1900.


GESCHICHTE

Gründer der Anthoposophie ist Rudolf Steiner (1861-1925). Er studierte Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie in Wien. Von 1882 bis 1887 war er Mitarbeiter an der Weimarer Goethe-Ausgabe, deren naturwissenschaftliche Bände er editierte. Die Beschäftigung mit Goethes ganzheitlichen Anschauungen und der Farbenlehre waren ein wichtiger Impuls für seine weitere Arbeit. Darüber hinaus beeinflußten ihn der Mystiker Jakob Böhme und die Esoterik der Rosenkreuzer. Entscheidend für Steiner war die Auseinandersetzung mit der Theosophie. Von 1902 bis 1913 war er Generalsekretär des deutschen Zweiges der Theosophischen Gesellschaft. Er verließ die Gesellschaft zusammen mit einem großen Teil ihrer Mitglieder, als führende Theosophen sich immer stärker dem Buddhismus und dem Hinduismus zuwandten und darüber hinaus verkündeten, in Krischnamurti, einem indischen Jungen, habe die Reinkarnation Christi stattgefunden. Zur Jahreswende 1913 gründete Steiner die Anthroposophische Gesellschaft mit Zentrum in Dornach (Schweiz).

Die festgefügten Strukturen des wilhelminischen Reiches in Deutschland, eine allgemeine Aufbruchstimmung unter den Intellektuellen um die Jahrhundertwende und die tiefe Verunsicherung des Bürgertums durch das Entstehen der Arbeiterbewegung sind der Hintergrund, vor dem die Anthroposophie entstand. Lebensreformerische Ansätze wurden breit diskutiert. Die Popularität, die vor allem indische, aber auch japanische und chinesische Philosophie und Religiosität unter Intellektuellen genossen, hatte die überkommenen Vorstellungen von Lebensführung und Gesellschaft in Frage gestellt. Der Steinersche Weg einer Verbindung von Elementen fernöstlicher Religion, mittelalterlicher Mystik, moderner Naturwissenschaft und esoterischem Geheimwissen fand schnell eine ganze Reihe von Anhängern. Das Werk Steiners, meist Mitschriften seiner über 6000 Vorträge, umfaßt 350 Bände und ist außerordentlich unübersichtlich. Der Streit, wie Steiner zu verstehen sei, ist unter seinen Jüngern längst nicht abgeschlossen.


IDEOLOGIE

Zentrales Element der Anthroposophie ist die Lehre von der Siebengliedrigkeit der Welt: Aus sieben Wesensgliedern besteht der Mensch, sieben Lebensabschnitte durchlebt der Mensch zwischen Geburt und Tod, in sieben Regionen bewegt sich die Seele nach dem Tod, sieben neue Seelenkräfte entwickelt, wer die anthroposophische Schulung durchläuft, sieben Entwicklungsstufen durchläuft die Menschheit, sieben Kulturepochen, in deren fünfter wir leben, umfaßt das Wirken der Menschen auf der Erde. Steiner übernahm mit etlichen Modifikationen die rassistischen Theorien der Helena Petrovna Blavatsky, die 1875 in New York die Theosophische Gesellschaft mitgründete. Blavatsky war davon ausgegangen, daß sich sieben >Wurzelrassen< entwickelt hatten, die wiederum in jeweils sieben >Unterrassen< zerfielen. Steiner hingegen glaubte, daß es fünf >Rassen< gebe: Schwarze, Malayen, Monolen, Europäer und Indianer.

>Die Modifikation der allgemeinen Menschengestalt<, so Steiner, habe mit der schwarzen, der >ätherischen Rasse< begonnen. Die malayische >Rasse< habe über Atmung und Nervensystem den >Astralleib< entwickelt, die dritte, die mongolische, bereits ein >Ich herausgebildet<, nämlich im Blut. Bei der europäischen >Rasse< seien Imagination, Inspiration und Intuition hinzugekommen. Seit dem Untergang von Atlantis habe die Menschheit fünf Kultur-epochen durchlebt: Die altindische, in der sich das >Ich Bewußtsein< zeige, die persische, die ägyptisch-chaldäische , in der sich >die Geister der Persönlichkeit< offenbarten, die griechisch-lateinische und schließlich die germanisch-nordische, in der sich das >Ich< bewußt herausgebildet habe und >als Wesenheit geschaut werden kann<. Jedes Volk schließlich, so Steiner, habe seine >besondere Aufgabe<. So habe >der Volksgeist der Kelten< die Aufgabe, >das noch junge Ich der europäischen Bevölkerung heranzuziehen<, die Deutschen wiederum hätten das >Ich< zur vollen Entfaltung gebracht.

Laut Rudolf Steiner gliedert sich der Mensch in Leib, Seele und Geist. Der Leib wiederum ist dreifach gegliedert. Auf der untersten Stufe steht der physische Leib, den auch Pflanzen und Tiere haben. Der Ätherleib steuert die komplizierten Zusammenhänge zwischen den drei Leibesformen. Der Astralleib schließlich ist für die seelischen Regungen zuständig. Er umfaßt die Empfindungsseele, die Verstandesseele und die Bewußtseinsseele. Durch das >Ich< gelangen die drei Seelen zur Entfaltung. Der physische Leib gehört ganz zur Erde, während die beiden anderen mit der geistigen Welt verbunden sind. Das >Ich< kann in der geistigen Welt drei weitere Wesensglieder ausbilden: Den Lebensgeist, das Geistselbst und den Geistesmenschen. Das dafür erforderliche Wissen kann lediglich innerhalb eines aufwendigen Studienweges erworben werden. Dieser Weg ist allerdings nur einigen wenigen vorbehalten.

Ebenfalls von zentraler Bedeutung für die Steinersche Lehre ist das >Christusereignis<. Christus war danach zunächst zwei Jesusknaben, die aus dem Ätherleib Adams, dem Astralleib Buddhas und dem >Ich< Zarathustras bestanden. Im Alter von 12 Jahren (Jesus im Tempel) hätten sich die beiden Knaben zu einem einzigen Jesus vereinigt. Bei der Taufe im Jordan habe sich der Christus-Geist in Jesus inkarniert, der so zum >Christus-Jesus< wurde. Beim Tode Jesu wurde das Wesen des Christus in die Erdaura ausgegossen, so daß die Erde zum Leib der >Christuswesenheit< wurde.


ORGANISATION

Die Anthroposophische Gesellschaft hat ihren Hauptsitz in Dornach in der Schweiz und gliedert sich in nationale Landesgesellschaften, regionale Arbeitszentren mit örtlichen Zweigen und Gruppen. Die deutsche Organisation hat etwa 16000 Mitglieder. Der Einfluß der Anthroposophen ist aber größer, als die an sich geringe Mitgliederzahl vermuten läßt. Insbesondere die Waldorfschulen (z.Z. rund 140 in der Bundesrepublik) machten die Anthroposophie weit über den Kreis der esoterisch interessierten hinaus bekannt. Der biologisch-dynamische Landbau nach Steiner (Demeter) brachte zudem eine Verbindung zu ökologisch aktiven Menschen. Die anthroposophisch orientierten Krankenhäuser, in denen eine Variante der Homöopathie praktiziert wird, haben einen ebenso guten Ruf wie die Universität Herdecke, eine Privatuniversität der Anthroposophen.


Anmerkungen und Quellen


Lexikon Jugend-Kulte.jpg

Dieser Beitrag von Hans-Otto Wiebus © wurde dem LEXIKON DER JUGENDKULTE entnommen, das 1997 im Heyne-Verlag erschienen ist. Wir dokumenieren diesen Text hier zu Lehr- und Schulungszwecken.

Bild-Quelle

(1) http://www.anthroposophie.net/steiner/bib_steiner_zeittafel.htm


Zu Rudolf Steiners Leben und Werk siehe auch:

Anthroposophie-Forum, online unter: http://www.anthroposophie.net/steiner/bib_steiner_zeittafel.htm