Verborgene Geometrie im Steinkreis

Erbauer von Göbekli Tepe hatten komplexes Wissen und Gesellschaft

von Andreas Müller (grenzwissenschaft-aktuell.de)

Abb. 1 Ein Blick auf die Ausgrabungs-Stätte der rund 11.500 Jahre alten Anlage von Göbekli Tepe in Anatolien

Jerusalem (Israel) – Mit einem datierten Alter von rund 11.500 Jahren stellt das Steinkreis-Monument von Göbekli Tepe in der heutigen Türkei die vielleicht älteste komplexe megalithische Tempelanlage weltweit dar. Neue geometrische Analysen des Monuments rütteln einmal mehr an der bisherigen Vorstellung jener Kultur, die die Anlage einst errichtete. Statt einer primitiven Gesellschaft früher Jäger und Sammler, offenbart das Bauwerk eine viel komplexere Gesellschaft als bisher angenommen.

Wie konnten Jäger und Sammler mit einer vermeintlich primitiven Gesellschaftsstruktur auf dem kargen Hügel eine derartige monolithische Steinkreisanlage errichten? – Galten die Erbauer von Göbekli Tepe bislang doch als eine weitgehend nomadische einfache Gesellschaft, die gerade einmal die ersten Schritte hin zu Landwirtschaft hinter sich gebracht hatte.

Wie das Team um die Archäologen Gil Haklay und Avi Gopher von der Universität Tel Aviv bereits im Januar 2020 im Fachjournal Cambridge Archaeological Journal [1] berichtet haben, deuten ihre Entdeckungen statt dessen darauf hin, dass das Bauprojekt Göbekli Tepe noch komplexer war als bisher angenommen und eine Menge Planung und Ressourcen erforderte, wie sie bislang für diese Zeit als unmöglich galten.

Die Studie konzentriert sich auf der drei ältesten Steinmauerkreise in Göbekli Tepe, aus deren Anordnung und Ausrichtung ein bislang verborgenes geometrisches Muster hervorgeht, das unter anderem ein gleichseitiges Dreieck beinhaltet, das dem gesamten Architekturplan dieser Bauwerke zugrunde zu liegen scheint und die Grundlage der drei Steinkreise darstellt.

Abb. 2 Der Grundriss des Gesamt-Komplexes von Göbekli Tepe (Quelle: Researchgate)

Im Gegensatz zu der bisher unter Göbekli-Forschern vorherrschenden Annahme, dass die drei Kreise nacheinander und unabhängig voneinander errichtet wurden, zeigt die Entdeckung, dass sie stattdessen offenbar als eine Einheit geplant und möglicherweise auch gleichzeitig errichtet wurden.

Die Entdeckung der verborgenen, der Anlage aber zugrunde liegenden Geometrie belege, dass die Bauherren von Göbekli Tepe schon tausende von Jahren vor der Erfindung der Schrift oder des Rades offenbar ein Verständnis für geometrische Prinzipien hatten und dieses sogar auf ihre Baupläne anwendeten.

Bislang gingen die meisten Archäologen davon aus, dass gerade erst sesshaft gewordene kleine Gruppen und Gemeinschaften aus Jägern und Sammlern ein derart gewaltiges Bauprojekt wie die Kreise von Göbekli Tepe nicht hätten bewerkstelligen können und die Anlage deshalb über einen langen Zeitraum schrittweise und vermutlich von verschiedenen – vielleicht sogar konkurrierenden – Gruppen errichtet und erweitert worden sein musste. Die israelischen Archäologen sehen dafür allerdings keine Beweise.

Abb. 3 Im architektonischen Grundriss von Göbekli Tepe findet sich ein der ganzen Anlage zugrundeliegendes Dreieck. (Quelle: Haklay u. Gopher / K. Schmidt und J. Notroff, DAI)

Auch Haklay und Gopher selbst hatten die nun offenbarte zugrundeliegenden Geometrie nicht erwartet, doch lasse der Umstand, dass die Mittelpunkte der unterschiedlich großen Kreise und unterschiedlich geformten Gehäuse der Anlage dennoch ein gleichseitiges Dreieck bilden, kaum Raum für Zufälle.

Zudem bestätige das Ergebnis frühere Untersuchungen von Haklay und Gopher an anderen Standorten, die zeigen, dass schon Architekten im Neolithikum oder sogar im Spätpaläolithikum keine Bauwerke und Häuser zufällig erbaut hatten, sondern in der Lage waren, rudimentäre geometrische Prinzipien anzuwenden und anhand von Standardmaßeinheiten zu erstellen.

Bei Göbekli Tepe sei die Entdeckung des Musters nicht nur ein Beweis für ein komplexes abstraktes Design, das ohne die Erstellung eines skalierten Grundrisses nicht realisiert werden könnte, sagt Haklay gegenüber der israelischen Zeitung [ Haaretz]. „Zu einer Zeit, als die Erfindung des Schreibens Jahrtausende entfernt war, könnte dies beispielsweise durch die Verwendung von Schilf gleicher Länge erreicht werden, um eine rudimentäre Blaupause auf dem Boden zu erstellen.

Abb. 4 Hier einer der monolithischen Pfeiler mit Tier-Abbildungen in der Anlage von Göbekli Tepe

Jedes Element hat anschließend eine lange Baugeschichte mit mehreren Modifikationen durchlaufen, aber zumindest in einer Anfangsphase haben sie als einzelnes Projekt begonnen“, schlussfolgern die Autoren. “Die Implikation ist, dass ein einzelnes Projekt bei Göbekli Tepe dreimal so groß war wie bisher angenommen und dreimal so viel Personal benötigte – ein Niveau, das in Jäger-Sammler-Gesellschaften beispiellos ist.

Der Bau hätte also Hunderte oder vielleicht Tausende von Arbeitern erfordert und könne vermutlich als Geburtsstunde einer sozial stärker geschichteten Gesellschaft angesehen werden, deren Niveau bisher nur von deutlich späteren, sesshaften Gruppen von Bauern erreicht wurde, erläutert Gopher und führt dazu weiter aus: „Hier fing es an: Der Austauschinstinkt der Jäger-Sammler-Gesellschaften geht zurück und die Ungleichheit wächst: Jemand leitet das Ganze – ich weiß nicht, ob es Schamanen oder politische Führer waren. Aber dies ist eine Gesellschaft, die einen Architekten und jemanden hatte, der ein solches Projekt initiiert und auch die Macht dazu hatte, es zu verwirklichen.

Die Forscher vermuten weiter, dass die Bauherren das Konzept von Hierarchie verstanden und dieses mit und durch die Anlage auch darstellen wollten – „vielleicht um die neue Ordnung einer weniger gleichberechtigten und stärker geschichteten Gesellschaft buchstäblich in Stein zu meißeln?“.

Die Wissenschaftler spekulieren weiter, dass sich diese neue Ordnung nicht nur auf die menschlichen Beziehungen beschränkt haben könnte: „Sie deutet auf eine Veränderung der wahrgenommenen Beziehung zwischen Mensch und Natur hin. Dies liegt an dem, was sich oben im Dreieck (in der Mitte des Gehäuses D) befindet: Während die charakteristischen T-förmigen Säulen des Ortes alle als stilisierte menschliche Figuren interpretiert wurden, sind die zentralen Monolithen in D die einzigen, die eindeutig anthropomorph sind und Reliefs von Händen, einem Gürtel und möglicherweise einem Lendenschurz tragen. Diese menschlichen Darstellungen an die Spitze dieses Dreiecks zu setzen, wäre eine starke Botschaft gewesen und eine ideologische Abkehr von den tierzentrierten Kanones der paläolithischen Kunst.

Tatsächlich sind Menschen in der paläolithischen Kunst selten – so auch in Göbekli Tepe. Doch beginne man hier Veränderungen zu sehen: „Wir sehen hier den Beginn einer anthropozentrischen Weltanschauung, in der Tiere und Pflanzen nicht mehr gleich den Menschen sind, sondern ihnen untergeordnet”, führt Gopher gegenüber Haaretz aus. Göbekli Tepe könnte also – bewusst oder unbewusst – entworfen worden sein, um die wachsende Fähigkeit der Menschheit darzustellen, ihre Umwelt zu manipulieren. (…) Das Ende des Lebensstils von Jägern und Sammlern ist eher eine ideologische als eine wirtschaftliche oder technologische Transformation”, behauptet Gopher abschließend. “Jäger und Sammler können nichts domestizieren, es widerspricht ihrer Weltanschauung, die auf Gleichheit und Vertrauen beruht. In Göbekli Tepe änderte sich diese Ideologie nun aber, die gesamte Struktur der Gesellschaft veränderte sich – und eine neue Welt wurde geboren.


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Andreas Müller (©) wurde von ihm am 30. April 2020 auf seiner Webseite grenzwissenschaft-aktuell.de erstveröffentlicht (siehe hier). Verwendetetes Material: Cambridge.org und Haaretz. Die bei uns vorgelegte Zweitveröffentlichung (redaktionelle Bearbeitung durch Atlantisforschung.de) erfolgt mit seiner freundlichen Genehmigung.

Fußnote:

  1. Siehe: Gil Haklay und Avi Gopher, "Geometry and Architectural Planning at Göbekli Tepe, Turkey", online publiziert von Cambridge University Press am 14. Januar 2020; Print-Publikation: Cambridge Archaeological Journal Volume 30, Issue 2, May 2020, pp. 343-357 (DOI: 10.1017/S0959774319000660)

Bild-Quellen:

1) Teomancimit (Urheber) bei Wikimedia Commons, unter: File:Göbekli Tepe, Urfa.jpg (Lizenz: Creative-Commons, „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“)
2) Researchgate; nach: Andreas Müller, 30. April 2020
3) Haklay u. Gopher / K. Schmidt und J. Notroff, DAI; nach: Andreas Müller, 30. April 2020
4) Klaus-Peter Simon (Urheber) bei Wikimedia Commons, unter: File:Göbekli2012-1.jpg (Lizenz: Creative-Commons, „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“)