Was ist Atlantologie?

von Dr. Nikolai Zhirov (1970)

Man könnte sie als ein Fachgebiet der Biogeographie der modernen, quartären Periode (Anthropogen) der Erdgeschichte betrachten, ein Fachgebiet, das chronologisch mit der Periode des Auftretens des intelligenten Menschen zu tun hat, einer Periode, welche, beginnend mit der jüngsten Eiszeit, direkt unserer historischen Epoche vorausging.

Abb. 1: Zhirov definierte Atlantisforschung/Atlanto- logie 1970 u.a. als "Fachge- biet der Biogeographie der modernen, quartären Peri- ode (Anthropogen) der Erdgeschichte".
(Bild: Atlantis als mittelat- lantische Großinsel nach Gattefossé)

Daher müssen wir, wenn wir das Atlantis-Problem studieren, nicht nur geologische, sondern auch paläobiologische Faktoren in Betracht ziehen, nicht zu reden von Daten der vergleichenden Mythologie. Die Aufgabe wissenschaftlicher Atlantologie besteht zunächst und vor allem darin, aus historischen Quellen und Mythen, darunter Platons Legende, harte Fakten zu deduzieren, und die Bestätigung dieser Fakten und Überlegungen zu finden, die auf verschiedenen Feldern der Wissenschaft gewonnen werden. [1]

Man kann diese Aufgabe weiter gefasst betrachten, indem man sie nicht auf das Ziel des Studiums von Atlantis alleine begrenzt. Das ist sowohl der Zielpunkt als auch der Schlüssel zu dem gesamten Problem. In größerem Rahmen sucht die Atlantisforschung den Zusammenhang zwischen der Möglichkeit großer, einstmals existenter und dann zerstörter Landgebiete oder sogar Kontinente und der menschlichen Besiedlung und Entwicklung nachzuweisen. In diesem Kontext könnte man die Atlantologie auch als Fachgebiet der Anthropologie bezeichnen.

Atlantis ist die primäre Sphäre atlantologischer Forschung, aber es gibt auch andere Gegenstände, namentlich Hawaiis, West- und Ost-Pazifis im Pazifischen OzeanDie prähistorische Welt des 'Stillen Ozeans' sowie Lemuria im Indischen Ozean [2], deren Überreste wahrscheinlich in einer Periode innerhalb menschlicher Erinnerung versanken, und deren Untergang in ferner Vergangenheit höchst wahrscheinlich die Besiedlung durch Stämme beeinflusste. So gesehen, scheint der wohlbekannte Archäologe Jaques de Morgan in die Kristallkugel geschaut zu haben, als er schrieb: "Unglücklicherweise sind die Schlussfolgerungen, zu denen uns ein Studium der Erdkruste führt, höchst weit davon entfernt umfassend zu sein, da wir nichts über Kontinente wissen, die verschwunden sind, und nur sehr wenig über die Modifikationen unserer Küstenverläufe." [3]

Bei der Annäherung an die Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, zieht die Atlantologie ihre Schlüsse aus Daten, die von der Geologie, Ozeanographie, Geschichtsforschung, Astronomie, Anthropologie, Ethnologie und anderen Wissenschaften erbracht werden. Ein Merkmal der Atlantologie ist, dass es sich bei ihr um eine synthetische Verbund-Wissenschaft [orig.: "synthetc compound science"] handelt.

Das Aufkommen solcher Wissenschaften ist typisch für den gegenwärtigen Stand wissenschaftlicher Entwicklung, bei dem Wissenschaften, die sich auf ein eng umgrenztes Feld spezialisiert haben, durch neue, zusammengesetzte Wissenschaften überflügelt oder ergänzt werden, welche die Fakten und theoretischen Vorstellungen einer Reihe von [Fach-] Wissenschaften synthetisieren und zusammenbringen, von denen einige sehr unterschiedlich sind. Die Kybernetik, welche die Daten und Erfahrungen der Psychologie, Biologie und Radio-Technik nutzt, mag als gutes Beispiel für diese synthetischen Wissenschaften dienen.

Es liegt auf der Hand, dass die Bandbreite von Kenntnissen eines Atlantologen enzyklopädisch sein muss, um ihn in die Lage zu versetzen, die Daten aus mehreren Wissenschaften zu vergleichen und zu generalisieren. Das selbe gilt auch für Kritiker des Atlantis-Problems. Die häufig praktizierte wahllose Zurückweisung von allem, was mit Atlantis zu tun hat, oder einseitige Kritik, die nicht nur unzureichenden Kenntnissen aller Aspekte des Problems, sondern auch Voreingenommenheit entspringt, kann nicht wissenschaftlich genannt werden. [4] [...]

Ich bin fest überzeugt davon, dass Atlantis in erster Linie als geologisches Problem betrachtet werden muss, und dass nur die Kenntnis der geologischen Geschichte des Atlantischen Ozeans, insbesondere während der glazialen und postglazialen Perioden, und eingehende objektive ozeanographische Untersuchungen uns helfen werden, das uralte Rätsel um Atlantis zu lösen. Doch wenn die Antwort der Geologie letztlich negativ ist, würde dies dieser faszinierenden Legende ein Ende bereiten, weil die Erfahrung vieler Jahrhunderte gezeigt hat, dass historische, ethnologische und literaturwissenschaftliche Forschung das Problem nicht zu lösen vermag...


Anmerkungen und Quellen:

Dieser Beitrag von Dr. Nikolai Zhirov wurde seinem Buch "Atlantis - Atlantology: Basic Problems" entnommen (S. 14-15), das 1968/1970 bei Progress Publishers, Moskau, erschienen ist. Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de.

  1. Vergleiche: Zhirov, N. Th., "Scientific Atlantology, Its Paths and Problems", in: Atlantis (London, 1959), 13, S. 103-108
  2. Anmerkung von N. Zhirov: Das geologische Lemuria, das hier erwähnt wird, sollte nicht mit dem Lemuria der Mystiker verwechselt werden, die es als im Pazifik liegend beschreiben (siehe etwa: R. Steiner, "Atlantis and Lemuria", London, 1923) --- Red. Anmerkung: Vergleiche dazu auch: Le(Mu)ria - das Atlantis des Pazifik - Ein Plädoyer für die grenzwissenschaftliche Lemuria-Betrachtung von Bernhard Beier
  3. Quelle: J. de Morgan, "L´humanité prehistorique", Paris (1921); russische Übersetzung Moskau/Leningrad (1926), S. 278
  4. Siehe etwa: Knorozov, Y. V.: "N. F. Zhirov, Atlantıda" ("N. F. Zhirov, Atlantis"), in: Sovjetskaya etnografia, No. 4, UdSSR (1961), pp. 213-218 --- Sprague de Camp, L.: "Lost Continents: The Atlantis Theme in History, Science, and Literature", Dover Publications, New York, 1954, 1970.


Bild-Quelle:

(1) Lewis Spence, "The History of Atlantis", New York, 1926