Dr. Nikolai Zhirov
Nikolai Zhirov und die autonome Entwicklung der Atlantologie in der UdSSR
(bb) Ein Vertreter nonkonformistischer Atlantisforschung des 20. Jahrhunderts, dessen Arbeit noch heute besondere Aufmerksamkeit verdient, war der in Kiew geborene Dr. Nikolai Feodosjewitsch Zhirov (1903-1970) [1]. Von Beruf Chemiker, darf Zhirov (sprich: Schiroff) nicht nur als DER sowjetische Repräsentant der Theorie eines versunkenen Atlantis im Mittelatlantik gelten, sondern auch als Pionier der heutigen (grenz-)wissenschaftlichen Atlantisforschung nonkonformistischer Ausprägung schlechthin. Sein 1959-1963 in russischer Sprache, und 1968 sowie 1970 auch auf Englisch erschienenes, Hauptwerk "Atlantis - Atlantology: Basic Problems" , das leider nie ins Deutsche übersetzt wurde und hierzulande fast völlig unbekannt geblieben ist - darf zur atlantologischen Standardliteratur gezählt werden.
Wie in Westeuropa und Amerika war die Erforschung des Atlantis-Problems auch an den Universitäten der UdSSR keine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit. Auch dort gab es bei Altphilologen, Historikern und auch bei Naturwissenschaftlern eine traditionell ablehnende Haltung der Atlantisforschung gegenüber, und auch dort waren Mitte des 20. Jahrhunderts noch tradierte Lehrmeinungen und "...Ansichten der Linguisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Martin, Rhode, Rivaud, Susemihl, Taylor und andere)" tonangebend, "welche die Möglichkeit vollständig zurückweisen, dass in der Atlantis-Legende irgendetwas Wahres stecken könne." [2] Andererseits hatte sich dort aber, anders als in Westeuropa und den USA, eine beachtliche akademische Minorität entwickelt, die nicht länger willens war, den schwächelnden Argumenten der "Atlantis-Verneiner" weiter zu folgen. Und daher ging die, sich wissenschaftlich verstehende und präsentierende, Atlantologie in der Sowietunion einen erstaunlichen Sonderweg.
Dort kultivierten Natur- und Geisteswissenschaftler offensiv die, im 'kapitalistischen Westen' als "unwissenschaftlich" gebrandmarkte, 'klassische' Atlantis-Theorie einer gegen Ende der jüngsten Eiszeit versunkenen Großinsel auf dem Mittelatlantischen Rücken weiter. Diese in ihren Grundzügen bereits im 16. Jahrhundert (durch Michel de Montaigne) und 17. Jahrhundert (durch Athanasius Kircher) entwickelte Theorie, die im 19. Jahrhundert von Privatgelehrten wie Ignatius Donnelly [3] in den USA und dem griechischen Atlantologen Patroclus Kampanakis [4] modernisiert worden war, wurde nicht zuletzt in Russland konsequent fortentwickelt. Auch in der russischsprachigen Literatur war das Atlantis-Thema poupulär geworden und häufig waren es gerade gebildete Poeten und Schriftsteller, die als Privatgelehrte auch geistes- und naturwissenschaftlichen Atlantis-Betrachtungen anstellten.
Dazu heißt es bei N. Zhirov: "Der russische Poet Valery Bryusov (1873-1924) (Abb. 2), dessen Interesse an Atlantis über Poesie hinausging, war ein prominenter Atlantologe. Er hielt eine Reihe von Vorlesungen an der Moskauer Volks-Universität und schrieb, auf Maxim Gorki´s Empfehlung hin, eine aufrüttelnde Rezension über den historischen und ethnologischen Aspekt des Problems. Konstantin Balmont (1867-1942) war ein weiterer russischer Poet, der an die Existenz von Atlantis glaubte. Er widmete ihm sein Gedicht 'City of the Golden Gates'. Auf seine Suche nach Fakten ging er nach Mittelamerika, wo er Relikte alter Zivilisationen studierte. Sein 1910 veröffentlichtes Buch 'Snake Flowers' beschäftigt sich mit diesem Thema. Alexei Tolstoi (1882-1945) hat eine Episode über Atlantis in seiner Novelle 'Aelita', während Alexander Belayev (1884-1942), ein Autor vieler Science-Fiction-Werke, Tatsachen-Material für die Erzählung 'The Lost Man from Atlantis' verwendete." [5]
Bryusov, der offenbar zur 'ersten Garnitur' der frühen sowjetischen Atlantologie gehörte, bemerkte mit feiner Ironie: "Wenn wir versichern, dass Platons Beschreibung von ihm selbst fabriziert wurde, dann müssen wir auch zugestehen, dass er ein übermenschliches Genie war, das die wissenschaftliche Entwicklung kommender Jahrtausende vorhersagte ... Es muss nicht betont werden, dass, bei allem Respekt vor der Brillianz des großen griechischen Philosophen, solche Weitsicht unvorstellbar ist, und wir betrachten es als plausibler, dass Platon (ägyptisches) Material von hohem Alter zur Verfügung stand." [6]
Schon in diesem kurzen Zitat klingt der grundlegende Unterschied zwischen der explizit atlantologischen Wissenschafts-Opposition in der Sowjetunion und derjenigen im Westen an: während man sich z.B. in Griechenland, der Bundesrepublik Deutschland oder in den USA - wenn überhaupt - im Rahmen 'wissenschaftlicher' Forschung lediglich mit revisionistischen Modellen zur Atlantida-Interpretation befasste, die sich 'schmerzfrei' in den konventionellen Wissens-Kanon integrieren ließen (so etwa Atlantis-Lokalisierungen wie Tartessos, Nordafrika, Kreta oder Thera), gingen akademische Forscher in der UdSSR radikalere Wege.
Die allgemeine Wahrnehmung des Atlantis-Problems in der Sowjetunion war jedenfalls neben einer nachhaltigen Popularisierung des Themas durch die fiktionale Literatur - wie sie auch im Westen stattfand - in großen Teilen geprägt durch Arbeiten von empirisch orientierten Laienforschern und Wissenschaftlern, während eine andere Form der Atlantis-Rezeption dort schon bald verschwunden war: der esoterische bzw. okkultistische Atlantismus, der andernorts wesentlich zur pejorativen Konnotation des Begriffs 'Atlantisforschung' in der Scientific community beitrug. Russische Atlantisten wie etwa Dimitri Sergejewitsch Merezhkovsky (Abb. 3) konnten ihre Ergüsse nach 1917 nur noch im Exil publizieren und keinen irgendwie gearteten Einfluss auf die Entwicklung und Betrachtung der Atlantisforschung in der UdSSR mehr ausüben.
Über diesen esoterischen Atlantismus schrieb Zhirov 1970: "Die populärsten Pseudo-Mythen beinhaltet ein sogenannte >esoterische< Atlantis-Legende, die von modernen Okkultisten - Theosophen und Anthroposophen - aufgebracht wird, welche die Geschichte von Atlantis höchst detailliert und daher verdächtig präzise darstellen. Sie behaupten, dass die Atlantier hunderttausende von Jahren vor unserer Zeit einen Entwicklungsstand erreichten, der den unserer modernen Zivilisation übertrifft. Seriöse Gelehrte, die das Atlantis-Problem studieren, verwerfen üblicherweise die esoterische Legende, oder untersuchen sie, wie etwa Bessmertny [7] und Bramwell [8] vom psychologischen Standpunkt aus. [...] B. L. Bogayevsky [9] ,ein prominenter sowjetischer Historiker, schätzt die esoterische Legende folgendermaßen ein: >Die 'Gebäude', die von Okkultisten und Theosophen errichtet werden, können vollständig beiseite gewischt werden, da nicht ein Iota Plausibilität daran ist<." [10]
Die Konfrontation der wissenschaftlichen Fraktionen pro und contra Atlantis war also in der Sowjetunion einerseits von ähnlich fundamentaler Natur wie im Westen: für eine Fraktion war die "Atlantologie, das Studium von Atlantis" ein respektables Forschungsgebiet und "ein neuer wissenschaftlicher Trend" [11], wie es etwa der Geograph Prof. Dr. Panov von der Universität Rostov am Don ausdrückte, während die Frage nach der Historizität des Atlantisberichts von der Riege der Atlantologie-Kritiker, wie Y. V. Knorozov, unnachgiebig als "pseudowissenschaftliches Problem" [12] abklassifiziert wurde. Andererseits - und darin unterschied sich die Lage in der UdSSR für Atlantologen offenbar deutlich von der in Westeuropa und den USA - saßen diejenigen Wissenschaftler, die nonkonformistische Positionen zur Erd-, Menschheits- und Zivilisations-Geschichte einnahmen, dort beruflich 'fester im Sattel': niemand riskierte seine Karriere, nur weil er Atlantisforschung betrieb.
Dies galt neben Altphilologen und Historikern insbesondere auch für Anthropologen, Ethologen und Geologen. [13] Während westlich des 'Eisernen Vorhangs' Fachwissenschaftler, welche für die Möglichkeit verschollener Hochkulturen und versunkener, einstmals bewohnter Landmassen im Atlantik plädierten, geradezu 'beruflichen Selbstmord' begingen, riskierten sie in der UdSSR zu dieser Zeit lediglich heftige Diskussionen mit der 'Gegenseite'. Auch Zhirov stellte in aller Deutlichkeit fest: "In der heutigen Atlantologie ist die Situation so, dass Gelehrte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zum Atlantis-Problem eine negative Haltung einnehmen, oder dass sie es einfach ignorieren.
In erster Linie und vor allem betrifft dies Gelehrte in anderen Ländern, wo eine positive Annäherung an des Problem einen Gelehrten in der Mehrzahl der Fälle seine Reputation kostet. Ein typisches Beispiel dafür ist die Rezension eines US-Kritikers [14] an einer Abhandlung über Atlantis des kolumbianischen Anthropologen H. Daniel [15]. Der Kritiker drückte seine Überraschung darüber aus, dass ein seriöser Wissenschaftler sich von einem schnodderigen Thema [orig.: "flippant subject"; bb] davontragen lasse, das ihn nur diskreditieren könne." [16]
Auch der seinerzeit profilierte Studiosus der historischen Geographie, J. O. Thomson aus England, schrieb 1948 [17] über Atlantisforschung, "dass es bei den Altvorderen entschuldbarer sei, den Mystifikationen von Utopa-Autoren zu erliegen" [18] als bei Wissenschaftlern, und in (West-) Deutschland mokierte sich im Jahr 1974 Prof. Dr. H. G. Wunderlich, damals Ordinarius für Geologie und Paläontologie an der Universität Stuttgart, über akademische Atlantologen und Paläo-SETI Forscher: "Die verzweifelte Suche nach dem angeblich untergegangenen herrlichen Sagenreich Atlantis, die These von götterähnlichen Besuchern aus dem Weltall als frühen Kulturbringern, die liebevolle Ausschmückung früher Hochkulturen sind nicht zuletzt ein Symptom [von] Gegenwartsflucht. Und selbst nüchtern erscheinende Fachwissenschaftler können sich hin und wieder offenbar nicht dem Reiz solcher im Grunde unwissenschaftlichen Ausschmückungen entziehen." [19]
Zu den Ursachen dieser völlig ablehnenden Grundhaltung bemerkt Dr. Zhirov: "Unserer Meinung nach gibt es zwei Gründe für die oben angesprochene negative Einstellung der Atlantis-Legende gegenüber. Bei näherer Betrachtung erscheint sie gleichermaßen als Manifestation von Konservativismus und Hyper-Kritizismus, oder als auf geringer Datenlage und den theoretischen Vorstellungen einer einzelnen Fachwissenschaft, oder sogar nur einer Schule von Forschern basierend. Sehr regelmäßig werden in Forschungen oder Schlußfolgerungen dieser Art Fakten, die widersprechen könnten, vorsätzlich oder unabsichtlich ignoriert." [20]
Obwohl es dieses Phänomen zweifellos auch in der UdSSR gab, entwickelte sich die Atlantologie - innerhalb und außerhalb der Universitäten - tatsächlich unter weitaus vorteilhafteren Rahmenbedingungen als im Westen. Atlantisforschung war dort offenbar zu keiner Zeit ein ideologisch befrachtetes Thema, an dem "die Partei" und ihre Führer irgend ein besonderes Interesse gezeigt hätten - was in einer Diktatur immerhin von einiger Bedeutung ist. Die Tatsache, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Atlantis-Problem - vor, während und nach Stalin - weder in Form einer 'proletarischen Atlantisforschung' vereinnahmt, noch als 'kleinbürgerliche Verirrung' stigmatistiert und liquidiert wurde, eröffnete Wissenschaftlern und Privatgelehrten in der Sowjetunion die Möglichkeit, sich über viele Jahrzehnte hinweg, ohne besondere Einmischung des Staates, seiner Lösung zu widmen.
So war z.B. auch der Moskauer Physiker und Mathematiker, Professor N. Lednew keineswegs ein 'krasser Außenseiter', als er 1958, nach zwanzigjähriger Forschungsarbeit, zu dem Schluss gelangte, "daß Atlantis nicht einfach als Mythos betrachtet werden kann. Seiner Ansicht nach beweisen die historischen Dokumente und Kulturdenkmäler der Antike zur Genüge, daß es >westlich von Gibraltar eine Insel von einigen hundert Kilometer Ausdehnung namens Atlantis gab<." [21]
Fortsetzung:
Außerdem:
- Drei Aspekte des Atlantis-Problems (Nikolai F. Zhirov)
Anmerkungen und Quellen
Fußnoten:
- ↑ Anmerkung: Zhirovs (sprich: Schiroffs) Name in kyrillischer Schrift: Жиров, Николай Феодосьевич
- ↑ Quelle: N. Zhirov, "Atlantis - Atlantology: Basic Problems", Honolulu / Hawaii, 2001 [Orig.: Moskau, 1959-1963, englischsprachige, neu überarbeitete Erstausgabe: Moskau, Jan. 1968, Zweitaufl. 1970], S. 386
- ↑ Siehe: Ignatius Donnelly: „Atlantis, the Antediluvian World" (1882); sowie: „Ragnarok: the Age of Fire and Gravel“ (1883)
- ↑ Siehe: Patroclus Kampanakis, “The procataclysm Communication of the Two Worlds via Atlantis”, Konstantinopel, 1893
- ↑ Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. 9 u. 10
- ↑ Quelle: V. Y. Bryusov, "Uchiteli uchıteleı" ("Teachers of Teachers"), in: Letopıs, Nos. 9-12, 157 (Russland, 1917); nach: N. Zhirov , op. cit., S. 387
- ↑ Siehe: A. Bessmertny: "Das Atlantisrätsel - Geschichte und Erklärung der Atlantishypothesen", Leipzig, 1932
- ↑ Siehe: James G. Bramwell: "Lost Atlantis", London, 1937 / New York 1938
- ↑ Siehe: Bogayevsky, B. L.: "Atlantida ı atlanstskaya kultura" ("Atlantis und atlantidische Kultur"), in: Novy Vostok, Nr. 15, S. 222-250
- ↑ Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. 17-18
- ↑ Siehe: Prof. D.G. Panov, Doctor of Geographical Sciences, Rostov on Don, in seinem Vorwort als Herausgeber von: N. Zhirov, op. cit. (1970), S. 5
- ↑ Siehe: Knorozov, Y. V.: "N. F. Zhirov, Atlantıda" ("N. F. Zhirov, Atlantis"), in: Sovjetskaya etnografia, No. 4, UdSSR (1961), S. 213-218
- ↑ Vergl. auch: Sowjetische Geologen zur Realität von Atlantis (Dr. Nikolai Zhirov)
- ↑ Siehe: Anonyme Kritik in New World Antiquity, No. 3, 1956, S. 156
- ↑ Siehe: Daniel, H.: "La Atlantida fue conocida por el hombre", in: Bol. Inst. Atropol Medellın (Kolumbien, ), 1, No. 4, S. 323-331
- ↑ Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. 12
- ↑ Siehe: J. O. Thomson, "History of Ancient Geography", Cambridge, 1948, S. 141
- ↑ Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. 12
- ↑ Quelle: H.G. Wunderlich, "Die Steinzeit ist noch nicht zu Ende", Rohwolt 1974, Seite 401
- ↑ Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. 13
- ↑ Quelle: San Francisco Examiner, 14.07.1958; zitiert nach: Andrew Tomas, Das Geheimnis der Atlantiden - Von der Mythe zur Entdeckung, Stuttgart, 1971, S. 19
Bild-Quellen:
- 1) Bildarchive ROIPA / Atlantisforschung.de
- 3) Dimitri Merezhkovsky (1865-1941), unter: http://www.riseofthewest.net/dcmiscell/dm04.htm