N. Zhirov als Vorkämpfer alternativ-wissenschaftlicher Atlantologie

Abb. 1 N. Zhirovs Rekonstruktion der Großinsel Atlantis in der Bearbeitung von William Hutton (The Hutton Commentaries).

(bb) Nikolai F. Zhirovs herausragende Bedeutung für die moderne Atlantisforschung liegt vor allem in zwei wesentlichen Aspekten seiner Arbeit begründet. Zunächst hat er - vor dem Hintergrund der Erd-, Menschheits- und Zivilisations-Geschichtsforschung in der UdSSR, und ihrer spezifischen paradigmatischen Unterschiede zur universitären Forschung im Westen - als exzellenter Kenner der internationalen Meeres-Geologie und Ozeanographie seiner Zeit die definitiv umfassendste naturwissenschaftliche Indizien- und Beweis-Kette zusammengestellt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Historizität versunkener Landmassen im Atlantik präsentiert wurde.

Zum zweiten - und aus heutiger Sicht vermutlich noch bedeutsamer - war Zhirovs revolutionäres Verständnis von Atlantologie, das nicht mehr ausschließlich auf den Forschungsgegenstand (das Atlantis-Problem) fokussiert war, sondern sich erstmals auch mit der Atlantisforschung an sich befasste, ihre Inhalte, Standards, Mittel und Methoden reflektierte. Atlantologie war für ihn nichts anderes als eine, wie wir heute sagen würden, 'Proto-Wissenschaft'; und zwar eine im fortgeschrittenen Stadium, deren Anerkennung als eigenständige wissenschaftliches Disziplin er offensiv einforderte (siehe: Was ist Atlantologie? von Nikolai Zhirov).

Schon der Titel seines Haupt-Werks "Atlantis - Atlantology: Basic Problems" macht deutlich, dass es Zhirov nicht vordringlich um eine Präsentation seines persönlichen Ansatzes zur Lösung des Atlantis-Problems ging, sondern dass seine Ziele weiter bzw. höher gesteckt waren. Eines seiner "wesentlichen Ziele" (orig: "major objectives") bestand, wie er selber es formulierte, darin, "den Grundstein für eine Einführung der Atlantologie in die in die Reihe wissenschaftlicher Disziplinen zu legen". [1]

Damit ging Zhirov weit über die alte, eher defensive und etwas 'weinerliche' Forderung auf empirischer Basis arbeitender Atlantologen hinaus, das akademische Establishment möge doch bittesehr den Gegenstand ihrer Forschung nicht länger als "pseudowissenschaftliches Problem" [2] diskreditieren, und stattdessen als legitime Facette seriöser Gelehrsamkeit akzeptieren. So hatte sein Forscher-Kollege und Landsmann B. L. Bogayevsky [3] bereits 1926 angemahnt: "Es scheint mir, dass es höchste Zeit ist, das Atlantis-Problem auf die Ebene wissenschaftlichen Interesses zu heben und es damit der Sphäre einer diletantischen Diskussion nach Art Devignes [4] sowie [vermeintlichen; bb] Lösungen zu entziehen, die auf Basis mystischer Manipulationen in der Manier der Okkultisten und Theosophen daherkommen." [5]

Doch Zhirov wollte mehr. Ihm ging es darum, "zu beweisen, dass die wissenschaftliche Atlantologie eine Existenzberechtigung hat, und zu zeigen, dass es sich bei ihr keineswegs um ein Gewirr handelt, das auf planlosen Schlussfolgerungen, tendentiösen Erfindungen oder >fremdartigen anti-wissenschaftlichen idealistischen Trends< basiert." [6] Entsprechenden Anwürfen begegnete er mit sachlicher 'Bissigkeit': "Anschuldigungen dieser Art sind häufig in der Presse und bei Debatten von Leuten zu hören und zu sehen, von denen die meisten nur ganz am Rande mit dem komplexen Problem vertraut sind, [und zwar] aus nicht sehr vertrauenswürdigen Werken, deren unkritische Autoren sich von ihrer Imagination davontragen lassen, oder das Thema mit Vorurteilen behandeln." [7]

Dr. Zhirov war sich dagegen sicher, "dass heute die meisten wissenschaftlichen Daten indizieren, dass Platons Atlantis tatsächlich existiert hat", und er betonte: "Es scheint uns so, dass sich die wissenschaftliche Atlantologie nun von pseudo-atlantologischem Blödsinn befreit, und dass ausreichendes Material angehäuft wurde, um ihr den Status einer jungen wissenschaftlichen Disziplin zu geben." [8]

Abb. 2 N. Zhirov legte Wert auf die Feststellung, das Atlantologie keinesfalls mit esoterischer Atlantissuche und Phantastereien zu verwechseln sei. (Gemälde: Golden City © Aexion)

Dr. Zhirov war ein Visionär, der von der Überzeugung getragen wurde, dass der Eintritt der Atlantisforschung in die etablierte Wissenschaft beiden Seiten Vorteile bringen würde. Einerseits war er sich darüber klar, dass Atlantologie, ausschließlich von mehr oder weniger isolierten 'Einzelkämpfern' betrieben, nur eine sehr begrenzte Kapazität entwickeln kann. "Bis heute", musste er 1970 mit Bedauern feststellen, "sind die meisten seriösen sowjetischen und auswärtigen Werke zur wissenschaftlichen Atlantisforschung weitgehend das Produkt einsamer Enthusiasten, die verständlicher Weise nicht die gesamte Bandbreite an Problemen auf diesem Feld vollständig und objektiv abdecken konnten." [9]

Eine umfassende, komplexe und effiziente Forschungs-Arbeit ist jedoch nur im Teamwork möglich, als "kollektive Anstrengung von Wissenschaftlern, die sich in unterschiedlichen Disziplinen spezialisiert haben". [10] Zudem "wird sie Arbeit im Feld und im Labor erfordern" [11], die unmöglich auf der Ebene der "Hobby-" oder "Amateur-Forschung" zu leisten ist. Es liegt somit auf der Hand, dass die Atlantologie davon profitieren würde, wieder ein legitimer Teil der 'Welt der Wissenschaft' zu werden. [12] Aber was hätte, vice versa, die Scientific community davon? Oder anders gefragt: "Kann Atlantologie, abgesehen von simpler Kognition, irgendetwas von praktischem Wert hervorbringen?" [13]

Für Nikolai Zhirov stellte Atlantisforschung, die er u.a. als "synthetische Verbund-Wissenschaft" [orig.: "synthetc compound science"] charakterisierte, einen neuen Typ von Wissenschaft dar, über den er schreibt: "Das Aufkommen solcher Wissenschaften ist typisch für den gegenwärtigen Stand wissenschaftlicher Entwicklung, bei dem Wissenschaften, die sich auf ein eng umgrenztes Feld spezialisiert haben, durch neue, zusammengesetzte Wissenschaften überflügelt oder ergänzt werden, welche die Fakten und theoretischen Vorstellungen einer Reihe von [Fach-] Wissenschaften synthetisieren und zusammenbringen, von denen einige sehr unterschiedlich sind. Die Kybernetik, welche die Daten und Erfahrungen der Psychologie, Biologie und Radio-Technik nutzt, mag als gutes Beispiel für diese synthetischen Wissenschaften dienen." [14]

Eine multidisziplinäre Verbund-Wissenschaft dieses Typs ist zweifellos prädestiniert dafür, interdisziplinäre Synergie-Effekte zu generieren und in der Forschung als Katalysator zu wirken. Dazu heißt es bei Zhirov etwa: "Auf historisch-ethnographischen Feld erlaubt die Atlantologie, vergleichbar mit der Geschichtsforschung, Archäologie, Anthropologie und Ethnographie, mit denen sie eng verbunden [orig: "allied"; d.Ü.] ist, einen neuen Zugang zu einer Anzahl von Problemen, die für diese Wissenschaften von kardinalem Interesse sind." [15]

Beispielsweise muss, wie er betont, "festgehalten werden, dass schon alleine das Faktum einer Etablierung der Realität von Atlantis (ohne Rücksicht auf Platons Legende) als geologisches Objekt jener Zeit, zu welcher der intelligente Mensch auftrat (vielleicht auch später) zweifellos eine Revolution der derzeitigen Ansichten der Entwicklung und Verbreitung der Menschheit auslösen würde. Dies würde die gesamte Altgeschichte in ein neues Licht tauchen, und einige der traditionellen Kanons und Dogmen zerschlagen. Dies ist vielleicht einer der Gründe für den Hyperkritizismus und die Vorurteile dem Atlantis-Problem gegenüber." [16]


Anmerkungen und Quellen

  1. Quelle: N. N. Zhirov, "Atlantis - Atlantology: Basic Problems", Honolulu / Hawaii, 2001 [Orig.: Moskau, 1959-1963, englischsprachige, neu überarbeitete Erstausgabe: Moskau, Jan. 1968, Zweitaufl. 1970], S. 386
  2. Siehe: Y. V. Knorozov: "N. F. Zhirov, Atlantıda" ("N. F. Zhirov, Atlantis"), in: Sovjetskaya etnografia, No. 4, UdSSR (1961), S. 213-218
  3. Siehe: B. L. Bogayevsky: "Atlantida ı atlanstskaya kultura" ("Atlantis und atlantidische Kultur"), in: Novy Vostok, Nr. 15 (1926), S. 222-250
  4. Siehe: R. Devigne: "Un contınent dısparu, l`Atlantide, sıxieme part du monde", Paris (1924); russische Übersetzung, Moskau 1926
  5. Quelle: N. Zhirov, op. cit. S. 386
  6. Quelle: ebd.
  7. Quelle: ebd.
  8. Quelle: ebd.
  9. Quelle: ebd., S. 387
  10. Quelle: ebd., S. 389
  11. Quelle: ebd., S. 388
  12. Anmerkung: Da auch Zhirov - auf seine spezielle Art - zu einer gewissen 'Wissenschaftsgläubigkeit' (Scientismus) neigte, lag ihm der Gedanke fern, ein Aufgehen der Atlantisforschung im 'Real existierenden Wissenschaftsbetrieb' könne womöglich auch negative Auswirkungen auf sein Forschungsgebiet haben.
  13. Quelle: N. Zhirov, op. cit. S. 14
  14. Quelle: ebd., S. 15
  15. Quelle: ebd., S. 387
  16. Quelle: ebd.


Bild-Quellen

(1) http://www.huttoncommentaries.com/Other/EquatorialAtlantis/Posiedonia4.jpg

(2) deviantART, unter Golden City