Diffusionismus und Atlantisforschung in der UdSSR

Abb. 1 Während Otto Mucks Modell von Atlantis als 'Mutter-Kultur' und Ausgangspunkt transatantischer, kultureller Diffusion (1954) hierzulande bereits als "unwissenschaftlich" eingestuft wurde, entsprach es dagegen in entscheidenden Punkten dem aktuellen Forschungsstand in der UdSSR.

(bb) Wie wir zuvor schon gesehen haben [1], gab es in der UdSSR eine von euro-amerikanischen Paradigmen weitgehend unabhängige Entwicklung innerhalb der universitären Erdgeschichts-Forschung und Paläo-Biologie, die zu einer anderen Rezeption des Atlantis-Problems in der sowjetischen Scientific community als im Westen beitrug. Neben explizit atlantologischen Ansichten innerhalb der dortigen Geologen-'Szene' beförderte aber auch die selbständige Entwicklung in anderen relevanten Fachwissenschaften das Entstehen einer nonkonformistischen, wissenschaftlichen Atlantisforschung typisch sowjetischer Ausprägung. Dies gilt vor allem auch für die Gebiete der Ethnologie sowie der Kultur- und Zivilisations-Geschichtsforschung.

Von entscheidender Bedeutung hierfür war die Tatsache, dass der Diffusionismus als Erklärungsmodell für kulturelle und zivilisatorische Entwicklung in der Sowjetunion n i c h t - wie in den USA (vergl. dazu: Geschichte des Niedergangs der Diffusions- und Migrations-Theorien von Michael Arbuthnot) und in Westeuropa - spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts durch einen rigiden Isolationismus abgelöst wurde. Mit diesem Paradigmenwechsel war die klassische Atlantis-Theorie bzw. das von ihren Verfechtern propagierte Modell zur Zivilisations-Entwicklung im atlantischen Großraum (Abb. 1) auch aus Sicht konventioneller Kultur- und Zivilisationsgeschichtler im Westen vollends "inakzeptabel" geworden.

Atlantik und Pazifik wurden an den Universitäten der "Freien Welt" nun endgültig als unüberwindliche Hindernisse für prähistorische oder frühgeschichtliche Reisen und Migrationen des Menschen betrachtet; augenfällige Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten zwischen den alten Kulturen östlich und westlich des Atlantik, mit denen Atlantologen seit Donnelly´s Zeiten für die vormalige Existenz einer gemeinsamen panatlantischen 'Mutterkultur' argumentiert haben, wurden von westlichen Historikern jetzt durchgängig als "Parallel-Entwicklungen" eingestuft, die völlig unabhängig voneinander erfolgt sein sollen (vergl. dazu auch: Ist der atlantologische Diffusionismus 'Schnee von gestern'? von Egerton Sykes).

Zum atlantologisch-diffusionistischen Alternativ-Modell einer atlantischen 'Mutterkultur' liefert Zhirov uns folgende allgemeine (und allgemeinverständliche) Darstellung: "Viele Atlantologen, die das Atlantis-Problem vom historischen und ethnologischen Standpunkt aus betrachtet haben, waren geneigt, den Atlantiern ein hohes Level kultureller Entwicklung zuzubilligen und gelangten zu der Annahme, dass Atlantis der Quell einer Reihe der bekannten alten Zivilisationen gewesen sein könnte, ein Quell, aus dem Völker viel von ihrer Kultur, auch Pflanzen und sogar domestizierte Tiere, entlehnten. Mythen, die von der Ankunft von Göttern und Zivilisations-Bringern berichten, dienen als Begründung für diese Annahme." [2]

Weitaus abgezirkelter hatte bereits 1917 der Zivilisations-Geschichtler V. Y. Bryusov [3] die grundsätzlichen Vorstellungen des atlantologischen Diffusionismus in der UdSSR dargelegt: "Die Gemeinsamkeit der Ursprünge [orig.: "community of sources"; d. Ü.], die den unterschiedlichsten und ältesten Zivilisationen des 'frühen Altertums' [orig.: "of early antiquity"; d. Ü.] zugrunde liegen, wie der ägäischen, ägyptischen, babylonischen, etruskischen, japhetischen, früh-indischen, mayaischen und möglicherweise pazifischen Zivilisationen kann nicht zufriedenstellend durch reziproke Einflüsse und Imitation erklärt werden, indem ein Volk der Kultur eines anderen nacheifert. Alle alten Kulturen zugrunde legend, muss es einen singulären Einfluss gegeben haben, der allein die bemerkenswerte Analogie zwischen diesen Kulturen erklären kann.

Jenseits des Rahmens eines 'frühen Altertums' muss es eine unbekannte Quantität gegeben haben, eine kultivierte Welt, bislang unerkannt von der Wissenschaft, die den ersten Anstoß zur Entwicklung all jener Zivilisationen gab, die wir kennen. Die Ägypter, Babylonier, Ägäer und Hellenen waren unsere Lehrer, die Lehrmeister der modernen Zivilisation. Wer waren ihre Lehrer? Wem dürfen wir den hohen Titel 'Lehrer der Lehrer' verleihen? Die Überlieferung beantwortet diese Frage - Atlantis." [4]

Auch die atlantologische Annahme, dass es bis zum Ende der Bronzezeit, ja bis in die Antike hinein, Kontakte und Verbindungen über den Atlantik hinweg gegeben habe, dürfte aus Sicht sowjetischer Zivilisations-Geschichtsforschung weit weniger abstrus erschienen sein als die im Westen - unter Federführung der Alt-Amerikanisten in den USA - kultivierte Vorstellung, die frühen Hochkulturen des amerikanischen Doppel-Kontinents seien in völliger Isolation voneinander und von den Menschen anderer Erdteile entstanden. Das nämlich war - aus Sicht sowjetischer Forscher - schlechterdings unmöglich, da isolierte Populationen nun einmal nicht zur Schaffung von Hochkultur und Zivilisation neigen, sondern eine unangenehme Tendenz zur Stagnation und sogar zur Regression aufweisen.

Diese Lehrmeinung vertrat beispielsweise bereits der sowjetischen Ethnologe P. P. Yefimenko, der 1938 in einer Abhandlung über "primitive" Gesellschaften ein plakatives Beispiel für kulturelle Stagnation durch Isolation lieferte: "Völlige Isolation von der Außenwelt ist die einzige Erklärung für das außerordentlich niedrige Niveau der Tasmanier vor ihrer Ausrottung durch die Engländer im frühen 19. Jahrhundert" [5]; auch Zhirov, der in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts forschte, bezog in der Sowjetunion seiner Zeit keine wissenschaftliche Außenseiter-Meinung, als er (1970) betonte: "Es muss festgehalten werden, dass Völker, die sich über Jahrtausende hinweg in Isolation (in Abwesenheit von Migration und Diffusion) und ohne Kontakt zu anderen, kultivierteren Völkern [6] entwickelt haben, sehr langen Zeit in einem sehr niedrigen Niveau sozialer und kultureller Entwicklung verharrten". [7]

Besonders die Ur- und Frühgeschichte des präkolumbischen, karibo-amerikanischen Großraums deutet darauf hin, dass es dort immer wieder kulturelle Diffusionen zwischen 'amerinden' und non-amerinden Völkerschaften gegeben hat. Gerade Mittelamerika weist aus Sicht diffusionistischer Forscher geradezu den Charakter eines 'Schmelztiegels der Kulturen' auf. Dort scheinen im Verlauf der Jahrtausende zahlreiche Seefahrer aus Asien und dem Pazifik-Raum sowie aus Afrika und Europa ihre Spuren hinterlassen zu haben. Weder die Zivilisation der alten Olmeken, noch die der späteren Maya-Nationen hätten in vollkommener Isolation und ohne Infusionen bzw Transfusionen aus anderen Kulturkreisen aufblühen können.

Wie wir zeigen werden, waren in der UdSSR für die Atlantologie die wissenschaftlichen Rahmenbedingungen auch in Bezug auf die urzeitliche Besiedlungsgeschichte Amerikas und die Frage nach den Paläo-Migrationen der Menschheit günstiger als im 'Westen', wo jede Annahme früher, transozeanischer Zuwanderungen nach Amerika über den Atlantik oder Pazifik bestenfalls als obsolet betrachtet wurde. [8] Im euro-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb hatte längst das so genannte "Beringstraßen-Paradigma" [9] den Charakter eines ausgewachsenen Dogma angenommen.

In der damaligen Sowjetunion galt dieses Paradigma (vergl. dazu auch: Farewell, Clovis! - Vom langsamen Sterben eines Paradigma) dagegen als durchaus anfechtbar. Dort bekamen Atlantisforscher, wie N. Zhirov, von den Paläo-Anthropologen, die auf Konfrontations-Kurs mit ihren US-amerikanischen Kollegen und deren Lehrmeinungen lagen, de facto regelrechte 'Flanken-Deckung'.


Fortsetzung:

Atlantis, Beringstraßen-Paradigma und Paläo-Anthroplogie in der UdSSR


Anmerkungen und Quellen

  1. Siehe dazu Teil I und Teil II dieser Abhandlung.
  2. Quelle: N. Zhirov, "Atlantis - Atlantology: Basic Problems", Progress Publishers, Moskau, 1968, 1970, S. 16 [Reprint 2001]
  3. Siehe: V. Y. Bryusov, "Uchiteli uchıteleı" ("Teachers of Teachers"), in: Letopıs, Nos. 9-12, 157 (Russland, 1917)
  4. Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. 16
  5. Quelle: P. P. Yefimenko, "Pervobytnoye obshchestvo" ("Primitive Society"), Leningrad, 1938, 2. ed., S. 301; nach: Zhirov, op. cit., S. 17
  6. Anmerkung: Heute würden Diffusionisten an dieser Stelle vermutlich differenzierter formulieren: "... und ohne Kontakt zu Völkern mit stark differierenden Kulturen ..."; vergl. dazu auch den Beitrag: Der Diffusionismus - Zur Diskussion eines umstrittenen Konzepts (bb)
  7. Quelle: N. Zhirov, op. cit.
  8. Vergl. dazu auch: Die Besiedlungsgeschichte Amerikas und das Atlantis-Problem von Bernhard Beier
  9. Anmerkung: Die Annahme, die Paläo-Besiedlung des amerikanischen Doppelkontinents sei erst am Ende der jüngsten 'Eiszeit' und ausschließlich via Sibirien, über die damals trocken liegende Beringstraße (Beringia), erfolgt.


Bild-Quelle

(1) Otto Muck, Atlantis: Die Welt vor der Sintflut