Erfundene Geschichte?

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Zur Notwendigkeit einer Geschichte der Geschichtsschreibung

von unserem Gastautor Dr. Horst Friedrich

Neuerdings wird unsere konventionelle Geschichtsschreibung vehement in Frage gestellt. Gerade erst (1996) hatten wir Illigs "Das erfundene Mittelalter". Nun erschienen Toppers "Die große Aktion" (1998) und "Erfundene Geschichte" (1999). Was ist davon zu halten. Wir sollten die bisherigen Bemühungen unserer etablierten Historikerzunft nicht herabwürdigen. Sie hat sich redlich geplagt. Und die Ergebnisse können sich einerseits schon sehen lassen. Wer liest nicht gerne etwa Jacob Burckhardts "Die Kultur der Renaissance in Italien". In dergleichen Werken steckt selbstredend enormes Wissen Aber unbestreitbare Fakten und Zusammenhänge. Wo sollte da Raum für Zweifel sein? Da die Historikerzunft an unseren Universitäten etabliert ist , muß es sich ja wohl bei der Geschichtsschreibung um eine seriöse Wissenschaft handeln, In diesem Sinne definiert das "Duden Universalwörterbuch" auch Geschichte als eine "wissenschaftliche Darstellung einer historischen Entwicklung". Andererseits ist es eine alte Lebensweisheit: wo Wissenschaft ist, da ist auch Irrtum. Es ist alles nur provisorisch zu nehmen. Wie ist eigentlich unser derzeit "geglaubtes" Geschichts-Weltbild entstanden? Das ist eine Kernfrage bei unserem Problem! Das ist nämlich gar nicht so einfach herauszubekommen. Just in dieser Kernfrage nimmt unsere Geschichtswissenschaft eine auffällige Sonderstellung ein. Von mehr oder weniger jeder sonstigen unserer etablierten Wissenschaften gibt es nämlich Werke zur geschichtlichen Entwicklung der jeweiligen Wissenschaft. Es existieren Werke zur Geschichte der Naturwissenschaften, zur Geschichte der Musik, zur Geschichte der Geologie, und so fort, worin man sich über die geschichtliche Entwicklung des Weltbildes dieser Wissenschaften informieren kann. Ein Werk über die Geschichte der Geschichtswissenschaft, über die allmähliche Entwicklung unseres derzeitigen Geschichts-Weltbildes, habe ich bisher vergeblich gesucht. Das gibt immerhin zu denken!

Die Werke von Illig und Topper sind nun einmal, wenn auch offenbar wenig zur Freude der etablierten Historikerzunft, auf dem Markt. Totschweigen wird man sie schlecht können. Man wird sich also mit der Frage auseinandersetzen müssen: ist unsere Geschichtsschreibung, wie wir sie bisher hatten, zuverlässig? Selbstredend ist die Geschichtswissenschaft keine exakte Wissenschaft. Aber man hatte bisher unserer Geschichtsschreibung, vielleicht allzu naiv, doch vertraut. Nun wankt das Vertrauen plötzlich. Mehr und mehr an diesen Dingen Interessierte fragen sich, ob unsere Geschichtsschreibung (zumindest für gewisse Perioden) wirklich den Kriterien für Wissenschaftlichkeit entspricht, oder ob man sie nicht eher, wie einen historischen Roman, zur Belletristik rechnen muss. Hinsichtlich der Tatsachentreue vielleicht mitunter nicht viel zuverlässiger als unsere mittelalterlichen Sammlungen von Heldensagen?

Wissenschaft oder Literatur? So könnte man überspitzt formulieren. Interessanterweise gibt es nun in der Tat Äußerungen namhafter Historiker in dem Sinne, dass zwar die Geschichtsschreibung eine Wissenschaft, jedoch eine mit stark romanhaften Elementen, sei. Das ist wünschenswerte Aufrichtigkeit, die uns weiterhilft. Abstandnehmen vom Uns-etwas-Vormachen. Der einfache Grund für diese, in unserer Geschichtsschreibung enthaltenen, romanhaften Elemente ist einerseits (besonders für unser Mittelalter und noch weiter zurückliegende Epochen) die große Rarheit an zuverlässigen, nicht nachträglich produzierten oder gefälschten schriftlichen Que11en, andererseits die Problematik, wie die (mitunter ebenfalls spärlichen) archäologischen Funde zu deuten sind. Zwar quellen derzeit, gerade auch für unser Mittelalter, die Auslagetische unserer Buchhandlungen über von populärwissenschaftlichen Werken mit Titeln etwa in der Art "Die Hunnen, "Die Kreuzzüge", "Die germanischen Reiche der Völkerwanderungszeit". Macht man sich jedoch die Arbeit nachzuprüfen, wie es dazu mit der wissenschaftlichen Quellenlage aussieht, so wird man bitter enttäuscht werden. Nur ein winziger Prozentsatz des Inhalts derartiger Werke ist genaugenommen belegbar, der Rest (d. h. der Hauptinhalt des Buches) verbindet, auf phantasievolle und spekulative Weise, die winzigen Quellenfragmente in der Art eines historischen Romans.

Diesen Sachverhalt muß man wissen! Wir sind nämlich inzwischen, über Schule und Medien, so wirksam von Geschichtsschreibung solcher quasiwissenschaftlicher oder populärwissenschaftlicher Art indoktriniert, daß wir sonst kritische Werke wie die von Illig oder Topper voreilig als befremdlichen Unsinn abtun. Die von diesen (und anderen) Autoren vorgetragenen Thesen, unsere konventionellen Chronologien für bestimmte historische Epochen seien höchst korrekturbedürftig, es könne fiktive Herrscher, Reiche und Jahrhunderte geben, sind alles eher als befremdlicher Unsinn. Sie sind im Gegenteil außerordentlich ernst zu nehmen.

Die Illig-Topper-Thesen sind nicht aus heiterem Himmel entstanden! Das unseren Establishment-Historikern, und auch den "Amtskirchen"-Hierarchien wegen der fraglich gewordenen Christianisierungsgeschichte des Abendlandes), so bebedrohlich vorkommende Gewittergewölk hatte sich über längere Zeit zusammengebraut, bis es sein erstes lautes Donnergrollen hören ließ.

Bereits 1945 (THESES FOR THE RECONSTRUCTION 0F ANCIENT HISTORY) und 1953 (AGES IN CHAOS) hatte der legendäre Erz-Häretiker und Vater des Neokatastrophismus Velikovsky behauptet, daß eine verworrene und zu lange Chronologie uns die Geschichte der alten nahöstlichen Hochkulturen total vernebeln würde. In seinem Szenario spielte die These eines Sonnensystems mit öfters gestörten, instabilen Planetenbahnen eine Rolle. Kosmisch verursachte Störungen (etwa Nahbegegnungen der Erde mit anderen kosmischen Objekten) bringen bei ihm wiederholt die irdische Chronologie durcheinander. Diese Möglichkeit sollte später von Christoph Marx auch für das Mittelalter und die Renaissance in die Diskussion gebracht werden.

John Dayton hatte dann 1978 in einem enormen Opus (MINERALS METALS GLAZING & MAN) sehr starke Argumente für den begründeten Verdacht zusammengetragen, daß unsere ägyptologische Chronologie mit größtem Mißtrauen zu betrachten sein könnte, und daß die Vorstellung eines Alten, Mittleren und Neuen Reiches ein Konstrukt unserer Ägyptologen ist.

1988 erschien das Werk "Die Sumerer gab es nicht" von Prof. Gunnar Heinsohn, worin er die Sumerer des 3. Jahrtausends als reale Chaldäer des l. Jahrtausends identifiziert und eine künstliche Verdoppelung von Herrschern und Reichen konstatiert. Im selben Jahr kam Heribert Illigs Werk "Die veraltete Vorzeit" heraus, worin die Chronologie für unsere vor- und frühgeschichtlichen Epochen drastisch zusammengeschoben wird.

Ebenfalls 1988 kam (am Rande vermerkt) der Verfasser dieses Beitrages in "Velikovsky, Spanuth und die Seevölker-Diskussion" aufgrund unabhängiger Überlegungen zu dem Schluß, daß Ramses der III. und die "Seevölker"-Invasion Ägyptens (anstelle konventionell 1.200 v. Chr.) auf 700 v. Chr. zu datieren sei.

Hatte es sich bis dahin um die alten Hochkulturen gehandelt, wurde ab 1991 in der von Dr. Illig herausgegebenen Zeitschrift "Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart" (später "Zeitensprünge") zunehmend die konventionelle Chronologie auch für das europäische Mittelalter in Frage gestellt, gipfelnd in der Illig'schen These, der Zeitraum 614--911 n. Chr. sei fiktiv. Mithin auch Europas "Über-Vater" Karl der Große! Zu dieser These verbreitete Illig sich dann noch in zwei separaten Büchern: "HAT KARL DER GROSSE JE GELEBT?" (1994), und "DAS ERFUNDENE MITTELALTER" (1996).

Den bisherigen Abschluß und Höhepunkt bilden die, bereits eingangs genannten, zusammengehörenden Werke von Uwe Topper, "DIE GROSSE AKTION" und "ERFUNDENE GESCHICHTE". In "DIE GROSSE AKTION" zitiert Topper ausführlich aus hochge1ehrten Vorgängerquellen, die einen besonderen wert des Buches ausmachen. Zweifellos war es gut, und äußerst wichtig, daß die Illig-Topper-Thesen zunächst erst einmal in Buchform publiziert wurden. Man kann die Lektüre dieser Werke nur wärmstens anraten. Man sollte aber vor Begeisterung über diese augenöffnenden Darlegungen nicht übersehen, daß es sich hierbei erst um unser Geschichtsbild in Frage stellende Werke handelt, und noch nicht (das wird erst in einer 2. Stufe zu erreichen sein) um eine wirkliche Geschichtsrekonstruktion. Und das wäre ja, was uns eigentlich interessiert.

Der Verfasser meint jedoch, daß es notwendig sein wird, vor die 2. Stufe (Geschichtsrekonstruktion) erst noch eine Zwischenstufe einzuschalten, in der genauestens zu eruieren wäre, auf welche Weise, durch welche Autoren, und in welchen Etappen unser derzeit so gemeinhin "geglaubtes" Geschichts-Weltbild entstanden ist. Dringendstes Desiderat ist jetzt eine Geschichte der Geschichtswissenschaft!

Dann werden wir klüger sein und eher an eine wirkliche Geschichtsrekonstruktion denken können. Wir sollten dabei die Möglichkeit nicht außer acht lassen, daß die tatsächliche Lage komplizierter sein könnte, als es die Illig'sche These einer einfachen Streichung von knapp 300 Jahren impliziert, daß es auch schon vor 614 und nach 911 größere Chronologie-Verwirrungen und Chronologie-Brüche geben könnte.


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Dr. Horst Friedrich (© by Giordano Bruno Gesellschaft, Horst Friedrich und DIVOMA-Soft) aus dem Jahr 1999 erschien online erstmals unter: http://www.giordano-bruno.com/mdgbg/artikel/Heft30_99/30_C_ErfundeneGeschichte_Friedrich.htm