Mnemosyne
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Göttin des Erinnerungsvermögens
(red) Im Pantheon der Alten Hellenen ist Mnemosyne (Altgriechisch Μνημοσύνη; von μνήμη -> mnēmē = "Gedächtnis") die für das Erinnerungsvermögen zuständige Göttin. Sie repräsentiert auch die Kunst des Auswendiglernens, die vor der Einführung der Schrift von besonderer Bedeutung zur Bewahrung historischer Ereignisse und Sagas mythischen Charakters war. [1] Als Tochter des Uranos und der Gaia, gehört sie zum urtümlichen Geschlecht der Titanen. Der Poet Hesiod beschrieb die Mnemosyne als Mutter der neun Musen [2], die sie dem Zeus in Pierien am Olymp gebar, nachdem sich die beiden Gottheiten neun Nächte lang vereinigt hatten. [3] Bildlich dargestellt wurde Mnemosyne üblicherweise als Frau mit einem üppigen, roten oder rötlich-braunen Haarschopf. (Abb. 1)
Obwohl sie als eine der älteren, vorolympischen Göttinnen im Alltagsleben der Hellenen keine Hera, Athene oder Aphrodite vergleichbare Rolle spielte, sollte ihre Bedeutung auch nicht unterschätzt werden. Bisweilen wurde ihr zugeschrieben, die erste Philosophin gewesen zu sein, und die Poeten des Altertums hoben die Bedeutung ihres Geschenkes an die Menschheit hervor: den uns von den Tieren unterscheidenden, nicht zuletzt auf dem Erinnerungsvermögen basierenden Verstand. [4]
Mnemosyne, Platon und der Atlantisbericht
In bezug auf Platons Werk ist die Göttin Mnemnosyne vor allem vor dem Hintergrund seiner philosophische Auseinandersetzung mit der 'Mneme' (also mit der Erinnerung) [5] von Bedeutung, aber auch was die Exegse der Atlantida betrifft, spielt sie eine unerwartete Rolle. In der Rahmenhandlung des Atlantisberichts ruft nämlich die literarische Figuration des - in die Jahre gekommenen - Kritias (der Namensgeber des betreffenden Dialogs) die Göttin um Beistand an, auf dass er sich genau an alle Details der Erzählung erinnere, die er als Kind in seinem Elternhaus gehört habe. (Kritias 108d) Eine derartige Anrufung hätte jedoch einen geradezu blasphemischen Charakter, würde sie lediglich als rhetorische Figur eingesetzt, um einer erfundenen Geschichte bei ihrem Publikum mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Da eine derartige Gotteslästerung gerade Platon kaum zu unterstellen ist, wird die Anrufung der Mnemosyne im Kritias-Fragment von Anhängern der Historizitäts-These als eines der Indizien dafür betrachtet, dass es sich bei dem Bericht über Atlantis keineswegs um eine Erfindung des Athener Philosophen handelt.
Die Mnemosyne als Fluss in der Unterwelt
Unter den Flusslaufen, welche nach dem Glauben der Alten Griechen die jenseitige Welt, den Hades, umfließen [6], nehmen - neben dem Kokytos der Lethestrom und der nach Mnemosyne benannte Strom eine Sonderstellung ein, da ihren Wassern jeweils eine ganz besondere Wirkung auf die Seelen der Verblichenen zugeschrieben wurde.
Die Geister jener Verstorbenen, denen es erlaubt wird, im Rahmen einer Reinkarnation ein weiteres Leben in der oberirdischen Welt zu beginnen, anstatt ganz ins Totenreich einzugehen, müssen zuvor vom Wasser des Lethe trinken, dessen Genuss alle Erinnerungen an ihr Vorleben auslöscht, damit sie ihre neue Existenz als Mensch unbelastet und unvoreingenommen beginnenn können. [7] Nach einer anderen Überlieferung erleichtere der Genuss dieses Wassers des Vergessens den Verstorbenen den Einzug ins Reich der Toten, da der Erinnerungsverlust ihre Bindungen an die Oberwelt löst. Von entgegengesetzter Wirkung war das Wasser der Mnemosyne. Wer davon trank, konnte sich nicht nur an alles erinnern, was ihm jemals widerfahren war, sondern er war danach auch mit der Gabe der Allwissenheit ausgestattet. Somit öffnete sich eine solche Seele der Wahrheit, denn diese - a-létheia - bildet sich aus der Verneinung des Vergessens heraus.
Dieser Grundgedanke findet sich u.a. in antiken, bacchischen oder orphischen Kulten, die im Süditalien, Nordgriechenland, Kreta, Sizilien und Rom praktiziert wurden. Dort wurden z.B. Goldblättchen aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. entdeckt, die als Grabbeigaben dienten. "Sie enthielten schriftliche Anweisungen in Versform, sollten dem Toten als Pass dienen und als Ausweis vor der unterirdischen Herrscherin Persephone, dass dieser von einem weltlichen Totengericht im Namen des Bacchus seliggesprochen wurde. Eines der Goldblättchen aus der Nähe von Lebadeia zeigt die beiden Quellen Mnemosyne und Lethe. Und im Dokument der Mnemosyne (Blättchen aus Petelia, Pharsalos, Hipponion und Entella) heißt es:
>Du wirst im Haus des Hades rechts eine Quelle finden, neben der eine weiße Zypresse steht. Dort kühlen sich die herabsteigenden Seelen der Toten. Dieser Quelle sollst du nicht nahekommen. Weiterhin wirst du das kühle Wasser finden, das aus dem Teich der Mnemosyne hervorströmt. Darüber befinden sich Wächter. Sie werden dich fragen, warum du dorthin kommst. Sprich: Ich bin ein Sohn der Erde (G≤) und des gestirnten Himmels (Uranos), aber mein Geschlecht ist himmlisch, das wisst ihr ja auch selbst. Aber ich bin ausgetrocknet vor Durst und gehe zugrunde; so gebt mir rasch das kühle Wasser, das aus dem Teich der Mnemosyne fließt. Dann werden die Könige unter der Erde Mitleid mit dir haben, und sie selbst werden dir aus der göttlichen Quelle zu trinken geben. Und wenn du dann getrunken hast, darfst du den heiligen Weg gehen, den auch die anderen berühmten Mysten und Bakchoi gehen. Dann wirst du zusammen mit den anderen Toten-Heroen ein Herrscher sein...<" [8]
Mnemosyne und das böotische Orakel
Aber auch die Lebenden konnten offenbar schon im Diesseits mit Mnemosyne und ihrem 'erhellenden' Wasser sowie mit jenem der Lethe in Berührung kommen, nämlich bei einem Besuch des Trophonios-Orakels in Böotien. Dort führten die Priester den Ratsuchenden u.a. "zu zwei nebeneinander liegenden Quellen. Vor dem Hinabsteigen mußte er von der Quelle des Vergessens (Lethe) trinken, um alles bisher [G]edachte zu vergessen. Später nach dem Besuch des Orakels trank der Suchende dann von dem Wasser der Quelle des Erinnerns (Mnemosyne), um sich an das beim Orakel Erfahrene wieder zu erinnern." [9] Allerdings vermutete bereits Jobst Wilhelm Munker 1767 nach der Lekture eines Berichts des Pausanias, der diese Orakelstätte selbst besucht hatte, dass jenes Wasser "vielleicht mit gewissen Säften" (also mit Rauschmitteln) versetzt worden sei. Munker erwähnt auch einen "Thron, oder Stuhl der Mnemosyne" auf dem der Ratsuchende Platz zu nehmen hatte, während die Priester ihn zu seinen Erlebnissen im Inneren des Orakels befragten und diese interpretierten. [10]
Anmerkungen und Quellen
Einzelverweise:
- ↑ Quelle: MNEMOSYNE, bei THEOI GREEK MYTHOLOGY (abgerufen: 06. Sept. 2013)
- ↑ Anmerkung: Neben Hesiods Bericht von den neun 'olympischen Musen' gab es auch andere Überlieferungen - z.B. eine des Pausanias - in denen die Zahl der 'muusischenen Geschwister' zwischen drei und sieben variiert, und unterschiedliche Angaben zu ihren Eltern gemacht werden. Siehe: titanische Musen, appolonische Musen und pireische Musen
- ↑ Anmerkung: Nachdem Zeus den Kampf gegen die Titanen gewonnen und sich als Anführer der Olympier etabliert hatte, befürchtete er als Unsterblicher, dass seine Großtaten und Entscheidungen schon bald wieder in Vergessenheit geraten könnten. Also suchte er nach einem Weg, die Erinnerung daran dauerhaft zu erhalten. Schließlich verkleidete er sich als Schafhirte, und machte sich auf die Suche nach Mnemosyne, um mit ihr die Musen zu zeugen, welche ihm dabei behilflich sein sollten, seine Glorie zu verewigen. Das Techtelmechtel des Zeus mit der Titanin gehört übrigens nicht zu seinen berühmt-berüchigten 'Seitensprüngen' - zu dieser Zeit war er nämlich noch nicht mit Hera verheiratet. (Quelle: Mnemosyne, Goddess of Memory - Mother of The Muses, bei: Goddess Gift; abgerufen: 05.09.2013)
- ↑ Quelle: Mnemosyne, Goddess of Memory - Mother of The Muses, bei: Goddess Gift (abgerufen: 05.09.2013)
- ↑ Anmerkung: Bei Platon "ist die Mneme die Bewahrung der Wahrnehmung. Aber es ist die Wahrnehmung, die Körper und Geist gemeinsam berührt hat. Wiedererinnerung findet nur dann statt, wenn die Seele in sich selbst dasjenige wieder aufnimmt, was ihr zusammen mit dem Körper begegnet ist. Da aber jede Begierde und jedes Streben auf der Mneme beruht, kann sie als das Grundprinzip des Lebendigen bezeichnet werden. Sie ist das Vermögen, das die Wahrnehmungen in ihrer der Seele zukommenden Form bewahrt hat und insofern mit ihnen zusammenfällt." (Quelle: Dr. Andreas Preussner, "Mneme", im: [Online-Wörterbuch Philosophie: Das Philosophielexikon im Internet Online-Wörterbuch Philosophie: Das Philosophielexikon im Internet]; abgerufen: 05.09.2013)
- ↑ Siehe: Styx, Acheron, Pyriphlegethon Kokytos, Lethe und Mnemosyne
- ↑ Anmerkung: "Die Seelen nun, denen das Fatum andere Leiber bestimmt", heißt es dazu z.B. in Vergils Aenaeis, "schöpfen aus Lethes Welle heiteres Nass, so trinken sie langes Vergessen."
- ↑ Quelle: Wikipedia - Die freie Enzyklopädie, unter: Lethe (Mythologie) (abgerufen: 06.09.2013)
- ↑ Quelle: Roman Meier, "Trophoniosorakel", S. 3, online als PDF-Datei, 282,64 KB (abgerufen: 06.09.2013)
- ↑ Siehe: Jobst Wilhelm Munker und Georg Paul Nussbiegel, "Merkwürdige Alterthümer, Band 1, Nusbiegel, 1767, S. 65-66
Bild-Quellen:
(1) Cynwolfe bei Wikimedia Commons, unter: File:Mnemosyne (color) Rossetti.jpg
(2) Ophelia2 bei Wikimedia Commons, unter: File:Mnemosine.JPG