Streitfall Sintflut
Archäologen suchen nach den Überresten mythologischer Katastrophen
von Claus Jacob (1999)
Nichts erinnert an die Katastrophe: Ozeanriesen gleiten behäbig an der Kulis- se von Istanbul (Abb. 1) vorbei, Passanten flanieren am Ufer. Vor 7600 Jahren tobte hier ein Inferno. Am Bosporus war ein natürlicher Damm gebrochen, mit ungeheurer Wucht schoß Wasser aus dem Mittelmeer her- ab ins Schwarze Meer, das damals 150 Meter tiefer lag als heute. Tag für Tag don- nerten rund 50 Milliarden Kubikmeter durch den Engpaß - der Inhalt des Bodensees. Mit der Kraft von 50 Schaffhausener Rheinfällen fraß sich die Flut metertief ins Gestein. Das Tosen war 100 Kilometer weit zu hören.
Der Wassereinbruch verwandelte den abflußlosen Süßwassersee des Schwar- zen Meeres in eine brackige Salzwasserwüste. Forellen, Karpfen und Hechte gingen zugrunde. Ihre Kadaver verpesteten die Ufer. Tag für Tag stieg das Wasser um 15 Zentimeter, wodurch die Küstenlinie im flachen Norden um ein bis zwei Kilometer vorrückte. Die Wasserfront trieb Menschen und Tiere vor sich her und ertränkte alles, was sich nicht schnell genug ins Hochland retten konnte. Nach zwei Jahren waren rund 100 000 Quadratki- lometer Ackerland im Meer verschwunden. Die Küstenbewohner flohen in alle Himmelsrichtungen.
Für das Geschehene fehlte ihnen jede Erklärung: ein See, der Berge verschlingt, Trinkwasser, das sich in sal- zige Giftbrühe verwandelt, Fischschwärme, die tot an der Oberfläche treiben, und dazu das grausige Wum- mern und Grollen in der Ferne. Um die traumatische Angst vor dem Unfaßbaren loszuwerden, erzählten die Flüchtlinge ihre Erlebnisse wieder und wieder. In ihrer neuen Heimat griffen professionelle Geschichtener- zähler das Motiv auf und gaben es von einer Generation zur nächsten weiter. So verbreitete sich das Drama - der Mythos der Sintflut war geboren.
Verursachte ein Dammbruch am Bosporus die biblische Flut?
Diese These vertreten Walter Pitman und William Ryan im jetzt auf deutsch erscheinenden Buch Sintflut (Gustav Luebbe Verlag; 48,- DM). Die Geologen vom New Yorker Lamont-Doherty Earth Observatory be- haupten, den wahren Hintergrund der Bibelstory aufgespürt zu haben. Die Sintflut, so lautet ihr Credo, fand am Schwarzen Meer statt. Ihre Indizien lassen keinen Zweifel am katastrophalen Dammbruch, der das Rand- meer wie eine Badewanne vollaufen ließ. Bis in 150 Meter Wassertiefe brachten Rammbohrungen Reste einer einst knochentrockenen Landoberfläche ans Licht. Ablagerungen am Meeresgrund belegen auch das Süßwas-serintermezzo nach der Eiszeit, das viele Jahrtausende dauerte. Erst vor 7600 Jahren ging die Süßwassertier- welt zugrunde. Quasi über Nacht tauchten im gesamten Flutungsgebiet Meeresmuscheln auf - ein Hinweis, daß die Katastrophe plötzlich hereinbrach.
Das Schwarze Meer war ins Getriebe der Klimamaschiene geraten. Während der Eiszeit, als der Meeresspiegel weltweit um rund 120 Meter fiel, hatte es den Kontakt zum Mittelmeer verloren und war zum Binnenmeer geworden. Als dann vor 20 000 Jahren die Temperaturen wieder stiegen, strömten ge- waltige Schmelzwasserflüsse aus den zurückweichenden Gletschern hinein, süßten das Wasser aus und ließen das Becken schließlich über das Marma- rameer ins Mittelmeer überlaufen. Doch als sich die Eisschilde immer weiter nach Norden zurückzogen, folgten die Flüsse der gewaltigen Delle, die das kilometerdicke Eis in die Erdkruste gedrückt hatte, und drehten nach Westen ab, Richtung Nordsee. Das Schwarze Meer, vom Zufluß abgeschnit- ten, trocknete mehr und mehr aus, zumal neuerliche Kälteperioden der Regi- on ein trockenes Klima brachten. Die Verbindung zum Mittelmeer fiel abermals trocken, der Wasserspiegel sank tief unter den der Weltmeere. Als dann der steigende Mittelmeerspiegel die Dammkrone erreicht hatte, nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Zur Katastrophe wurde das kuriose Naturschauspiel nach Ansicht von Pitman und Rayn jedoch erst durch ei- ne andere Folge der Eiszeit: Während der jahrhundertelangen Kälteperioden wurde die Region um das Schwarze Meer zu einem Auffangbecken für Umweltflüchtlinge. Die US-Geologen stellten sich folgendes Szenario vor: Trockene Kälte ließ in weitem Umfeld die Felder verdorren und das Vieh verdursten. Viele Men- schen verließen Haus und Hof und brachen ins gelobte Land auf. Wie ein Magnet zog das gewaltige Süßwas- serreservoir die Siedler an. An seinen blühenden Ufern mischten sich Sprachen, technische Fähigkeiten, kul- turelle Errungenschaften und Erbanlagen. Der Handel mit Obsidian, Leder- und Töpferwaren florierte, die Kunst der Landwirtschaft bekam ihren letzten Schliff. Möglicherweise entstand hier sogar die Technik der künstlichen Bewässerung. All diese Fähigkeiten nahmen die Menschen auf ihrer Flucht mit, die einige von ihnen bis nach Frankreich geführt haben soll. So gesehen, meinen die Sintflutforscher, war der Exodus der Schwarzmeerzivilisation ein Segen und "gab dem frühen Europa den Schub in ein goldenes Zeitalter".
Pitman und Rayn sind nicht die ersten, die der Sintflut nachspüren. Schon im Mittelalter erregte der Mythos die wissenschaftliche Phantasie. Die gottesfürchtigen Gelehrten zweifelten keinen Moment an der Wahrheit des Alten Testaments und pochten auf handfeste Beweise: Sie deuteten versteinerte Fische und Muschelscha- len, die überall im Sediment steckten, als Opfer der Sintflut. Wie sonst, argumentierten sie, könnte das Meeresgetier auf Alpengipfel gelangt sein? Schließlich heißt es im ersten Buch Mose: "Alle hohen Berge unter dem Himmel wurden vom Wasser bedeckt." Jetzt grassiert eine neue, eine ganz andere Art von Schriftgläu- bigkeit. Mythen, Sagen und Legenden gelten Wissenschaftlern als verläßliche Quellen - wenn man nur die phantastische Patina aus jahrhundertelanger mündlicher Überlieferung herunter kratzt. Homers Odyssee hat demnach ebenso eine wahren Kern wie der Mythos des menschenfressenden Minotaurus oder des Turm- baus zu Babel.
Die Sintflut gibt den Forschern eine besonders harte Nuß zu knacken, denn sie taucht in den Überlieferungen vieler Völker auf. Das moralische Lehr- stück von der Arche Noah ist nur eines von mehr als 500 Überschwem- mungsszenarien, die fast überall auf der Welt kursieren. Die älteste schriftlich überlieferte Flutgeschichte steht im Gilgamesch-Epos, der summarischen Heldensaga aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend: Auch hier über- lebte nur eine einzige Familie mitsamt diversem Getier, auch hier strandet die Arche auf dem Berg, und auch hier dienen Vögel als Boten für das Ende der Flut. Aber auch in den meisten anderen Sagen verschlingt das Wasser die verkommene Menschheit bis auf wenige Auserwählte, die auf eine göttliche Warnung hören. Die Maya glaubten an eine große Regenschlange, die sint- flutartigen Regen brachte, und in einem altnordischen Mythos ergießt sich das Blut eines erschlagenen Teufels auf die Erde. Nach der Überlieferung der brasilianischen Tupinamba-Indianer schauten nur noch die Baumwipfel aus dem Wasser, nach den Vorstellungen der mexikanischen Chimapopoka ver- sanken sogar die Berge in den Fluten.
Das österreichische Geologenpaar Alexander und Edith Tollmann glaubt, nur eine planetare Katastrophe könne zu einem derartigen weltweiten Gleichklang geführt haben - ein Kometen-Crash. Vor 9550 Jahren, am 23. September früh bei Neumond, so ihr Fazit, zerbrach das kosmische Projektil beim Vorbeiflug an der Son- ne in sieben große und mehrere kleinere Fragmente, die Kurs auf die Erde nahmen. Die meisten Brocken klatschten ins Meer, wo sie berghohe Wellen - Tsunamis - auslösten, die mit Urgewalt gegen die Küsten don- nerten. Bei einer solchen Breitseite bekam jedes Volk, von dem eine Sintflutgeschichte bekannt ist, seine Kata- strophe ab. Die Tollmanns haben die Mythen und Sagen wohl zu wörtlich genommen. [sic!; d. Red.] Ihren Schlußfolgerungen kann jedenfalls kaum ein Wissenschaftskollege folgen.
Vielleicht ist es gar nicht nötig, nach einer einzigen Katastrophe für alle Sintflutmythen zu suchen. Denn Überschwemmungen wüten überall auf der Welt und haben das zerstörerische Zeug dazu, unabhängig von- einander in die Sagenwelt der Völker einzugehen. Keine andere Naturgewalt richtet soviel Unheil an wie das entfesselte Wasser. Allein am chinesischen Jangtsekiang starben im Sommer 1932 zwei Millionen Menschen, die Überschwemmung in Bangladesch 1970 forderte 300000 Opfer. Der Tod kommt mit dem Hochwasser der Flüsse, mit Sturmfluten vom Meer und mit Killerwellen, die von Seebeben ausgelöst werden. Nach den Aufzeichnungen der Münchener Rückversicherung starben in den vergangenen 10 Jahren 58 Prozent von Naturkatastrophen bei Überschwemmungen.
Wenn man die apokalyptischen Überlieferungen nicht bloß als phantastischen Auswuchs kollektiver Urangst abtut, sollten Geologen in der Lage sein, Reste einzelner Fluten aufzuspüren. 1929 glaubte der britische Archä- ologe Leonard Woolley bei Grabungen im mesepotamischen Ur auf Spuren der biblischen Katastrophe gestoßen zu sein. In 12 Meter Tiefe legte er eine 2,50 Meter tiefe Lehmschicht frei, die ein Euphrat-Hoch- wasser etwa 3200 vor Christus abgelagert hatte. In anderen mesepotamischen Städten tauchten ähnliche Lehmhorizonte auf. Die Deutung schien klar: Eine besonders schwere Überschwemmung , die das kulturelle Leben im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris weitergehend zerstörte, ging in die Sagenwelt des Gil- gamesch-Epos ein und wurde später von der Bibel übernommen.
Doch inzwischen meinen die Experten, der abgelagerte Schlick stamme aus verschiedenen Überschwemmungen - also bloß von lokalen Katastrophen. Und die wüteten längst nicht so wie das Dammbruch-Desaster vom Schwar- zen Meer. Fand die Sintflut also schon 2500 Jahre früher am Schwarzen Meer statt und wurde mit den Erzählungen der Flüchtlinge nach Mesepota- mien gebracht? Der Tübinger Archäologe und Kleinasien-Experte Manfred Korfmann winkt ab und verweist auf die große Wegstrecke, die der Flüchtlingstreck zurückgelegt haben müßte: "Diese These ist schon wegen dieser Dimensionen problematisch." Vor allem aber geht es ihm gegen den Strich, daß Pitman und Rayn seriöse Forschung "reißerisch mit dem Mythos der Sintflut in Verbindung bringen: Da sind wir bald bei Däniken."
Die beiden Querdenker suchen derweil in der Archäologie nach Belegen für ihr Sintflutszenario. Bald nach dem Desaster, so sagen sie, tauchten in Europa wie aus dem Nichts hochentwickelte Kulturen auf und verdrängten die alteingesessene Bevölkerung oder vermischten sich mit ihr. Die Emigranten brachten den Ackerbau mit, der sich rasch von Anatolien bis nach Frankreich ausbreitete: Das Volk der Vinca siedelte auf den bulgarischen Ebenen und im Süden des ungarischen Tieflands, die Linearbandkeramiker machten sich von Ungarn bis ins Pariser Becken breit, und die Danilo-Kultur siedelte in den fruchtbaren Gebirgstälern Dalmatiens. Wa-ren das alles Überschwemmungsflüchtlinge?
Pitman und Rayn gehen noch weiter und spekulieren, daß diese Menschen wegen ihrer traumatischen Erfahrungen panische Angst vor dem Meer hatten und dessen Nähe mieden wie die Pest. tatsächlich ließ sich keine dieser Kulturen an einer Küste nieder, nicht einmal auf den fruchtbaren Küstenstreifen Nordeuropas.
Auch gen Süden sollen die Flüchtlinge gezogen sein - bis nach Ägypten. Im Land der Pharao-nen tauchten damals neue Nutztierrassen und Getreidesorten auf, die eng mit asiatischen verwandt sind. Auch eine fortschrittliche Art der Feuersteinbearbeitung setzte sich durch. Und in Hacilar verschafften sich Vertriebene offenbar gewaltsam Zugang, denn diese Siedlung in Südwestanatolien wurde um die Zeit der Schwarzmeer-Katastrophe teilweise zerstört und blühte anschließend in fortschrittlichem Gewand wieder auf. Im südlichen Mesopotamien schließlich, das bis dahin weitgehend unbesiedelt war, liefen die Exilanten zu kultureller Hochform auf. In der trockenen Ebene schufen sie als Sumerer die erste Hochkultur, errichteten Städte mit beeindruckenden Monumentalbauten, legten ausgeklügelte Bewässerungssysteme an und entwickelten die erste Schrift. Während die Fachleute rätseln, woher die Sumerer kamen, glauben Pitman und Rayn die Antwort zu kennen.
"Kulturen tauchen immer mal auf - das ist ein Beweis für gar nichts", moniert der Geoarchäologe Eberhard Zangger. Falls die Sintflut ein einschneidendes Ereignis war, müßte sie die Menschen zu kulturellen Innovationen angespornt haben. Zur Zeit der Schwarzmeer-Flut gab es aber keine entschiedenen Fortschritte: Die Landwirtschaft hatte sich schon 3000 Jahre früher entwickelt, und die Metallbearbeitung blühte erst viel später auf. Zangger verlegte die Sintflut deshalb auf die stürmische Epoche zwischen Alt- und Jungsteinzeit vor 10000 bis 12000 Jahren und deutete sie als Anstieg des Meeresspiegels nach der Eiszeit. Damals schrumpften die Landmassen um 8 Prozent, und die Küsten rückten bis zu 400 Kilometer land-einwärts. Zahlreiche Landbrücken, wie zwischen Alaska und Sibirien [siehe dazu auch: Farewell, Clovis! - Vom langsamen Sterben eines Paradigma; d. Red.], England und Frankreich, Jugoslawien und Italien versanken in den Fluten - und überall sammelte sich Schmelzwasser in riesigen Seen.
Dieser Umweltimpuls, meint Zangger, habe den Anstoß für die gesamte Zivilisation gegeben. Das viele Wasser soll die Höhlenbewohner veranlaßt haben, Boote zu bauen und übers Meer zu fahren. So florierte plötzlich ein rascher Informationsaustausch, das Schmiermittel für jeden Fortschritt. Ob die Menschen allerdings einen Meeresspiegelanstieg von durchschnittlich zwei Zentimetern pro Jahr, zehnmal so schnell wie heute, als traumatische Katastrophe erlebten, scheint zweifelhaft - zumal sie als Nomaden rasch das Weite suchen konnten. Da bietet der Dammbruch am Schwarzen Meer reicheren Stoff für apokalyptische Phantasien. Doch den entschiedenen Beweis sind Pitman und Rayn bislang schuldig geblieben. Wenn dort wirklich eine blühende Kultur untergegangen ist, sollte man am Meeresboden Reste davon finden. Der Ozeanologe Robert D. Ballert, Entdecker des Titanic-Wracks, hat diese Herausforderung bereits an-genommen: Für diesen Sommer [1999; d. Red.] plant er eine gründliche Untersuchung.
Anmerkungen und Quellen
Dieser Beitrag von Claus Jacob (© R.Weigt, 1999) wurde online erstmals unter Streitfall Sintflut http://www.gym-guericke.bildung-lsa.de/weigt/sint.htm veröffentlicht; bei atlantisforschung.de erscheint er 2005 in einer redaktionell bearbeiteten, illustrierten Fassung.
Bild-Quellen
(1) http://members.lycos.nl/turksrestaurant/hpbimg/istanbul-bosporus.jpg
(2) http://www.aboutromania.com/BlackSeaMap.gif
(3) http://www.nunki.net/Pictures/DoreDeluge.jpg
(4) http://www.studyworksonline.com/cda/image/preview/0,1127,965,00.jpg