Über Atlantiden

von José Ortega y Gasset

Der spanische Philosoph, Soziologe und Essayist José Ortega y Gasset (1883- 1955)

[...] Atlantiden sind untergegangene und völlig verschollene Kulturen. Vor einem Jahrhundert hätte niemand die Möglichkeit zugegeben, daß mächtige Völker, Schöpfer abgeschlossener Kulturen, Erzeuger weittragender historischer Aktionen und Reaktionen im Gedächtnis der Menschen erlöschen und sich wie ein nächtlicher Spuk in Nichts auflösen könnten. Man glaubte ein vollständiges, wenn auch stellenweise mehr oder weniger detailliertes Verzeichnis menschlicher Kulturen zu besitzen.

Doch die Entdeckung der vor-babylonischen Völker, der Sumerer und Akkadier, öffnete ein Tor zu den seltsamsten Möglichkeiten. Kurz darauf kam die hethitische Kultur Kleinasiens zum Voschein; später die kretische, die ein wesentliches Glied in der Kette der ganzen antiken Geschichte darstellt. Als der Entdecker der letzteren, der Bankier Schliemann, sich nach Troja einschiffte, lächelten die Philologen Europas skeptisch, als handele es sich um ein Stück aus dem Narrenhaus.

Nach Troja gehen war, wie wenn man sich nach dem Erwachen aufmachen wollte, um in dem Traum der Nacht zu leben. Troja war eine imaginäre Stadt, von den Homeriden erfunden. Die Reise dorthin konnte nur auf Pegasus´ Rücken oder im Schiff der Argonauten geschehen. Aber der Erde entstieg unter Schliemanns Spaten nicht ein Troja, sondern mehrere aufeinandergeschichtete, davon einige Tausende von Jahren älter als das Troja Homers.

Die chimärische Stadt, deren Fundament die Hexameter der Rhapsoden gewesen waren, gewann die Wirklichkeit handgreiflicher Quadern, zerbrochener Säulen, Skulpturen und Amphoren. In Mykene, in Tiryns erscheinen unter der hellenischen Erde Städte, die jenen untergegangenen Troja-Siedlungen entsprechen. Es war schon nicht mehr eine Stadt, es war eine ganze Kultur, die sich bis in den Westen des Mittelmeerbeckens ausgebreitet und tiefe Wirkung auf den äußersten Okzident geübt hatte. Es war die ägäische und kretische Kultur, ein lebendiges Band zwischen Asien und Ägypten einerseits und der späteren europäisch-afrikanischen Geschichte andererseits.

Resultate von solcher Tragweite ließen die Grabung wie Zauberei erscheinen. Sie ist eine neue und unerwartete Form des Ackerbaus. Man gräbt, um Ernten zu sammeln, die vor Tausenden von Jahren gesäht wurden. Troja war die herrliche Wurzelknolle, die gewaltige historische Trüffel, die uns auf den Appetit gebracht hat. Die Kunst des Grabens ist heute eine der angesehensten in Europa. Mit der rasenden Begeisterung, die stets die höchste Tugend und das größte Laster der Europäer war, werfen wir uns darauf, den Planeten von allen Seiten aufzuscharren. Stört man uns nicht, so machen wir aus der Erde ein Loch.


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von José Ortega y Gasset wurde seinem Buch Die Aufgabe unserer Zeit entnommen, das 1930 von der Deutsche(n) Verlagsanstalt, Stuttgart herausgegeben wurde (Übersetzung aus dem Spanischen durch Helene Weyl, mit einer Einführung von Ernst Robert Curtius). Bei Atlantisforschung.de erscheint er in einer redaktionell bearbeiteten Online-Fassung.


Bild-Quelle

(1) Wikipedia - Die freie Enzyklopedie, José Ortega y Gasset