Jungsteinzeitliche Tötungsrituale in Herxheim?

von unserem Gastautor Ferdinand Speidel

Abb. 1 Hier einer der freigelegten Gräben mit Human-Relikten und Artefakten

Herxheim ist eine 10.000 Einwohner große Gemeinde in der südlichen Pfalz bei Landau; ihr Name Harieschaim wurde erstmals 773 in einer Urkunde erwähnt. Auf ihrem Gebiet gibt es jedoch Siedlungsspuren, die rund 7.000 Jahre in die Jungsteinzeit zurückreichen.

Als 1995 ein Gelände für ein neues Gewerbegebiet ausgewiesen wurde, bedeutete dies für die Landesarchäologie, dass dort noch vor Baubeginn großflächige archäologische Grabungen notwendig wurden, denn über mehr als dreißig Jahre hatte man immer wieder archäologische Funde gemacht, die von der Römerzeit bis in die Jungsteinzeit zurückdatierten.

Bei den ersten Grabungen zwischen 1996 und 1999 stieß man auf Siedlungsreste einer jungsteinzeitlichen Siedlung von Linienbandkeramikern; die Bodenerosion der vergangenen Jahrtausende hatte von der Siedlung jedoch nur noch rudimentäre Reste übriggelassen. Umso spektakulärer war dagegen die Freilegung von Gräben, in denen man zerstückelte Reste hunderter Menschen, vermischt mit ebenfalls zerschlagenen Artefakten wie Keramik und Steingeräten barg. (Abb. 1)

Die weiteren Entdeckungen der Ausgrabungen, die bis 2011 andauerten, waren derart sensationell, dass National Geographic im Jahre 2010 einen dokumentarischen Film darüber drehte, der unter dem Titel „The Lost Cannibals of Europe“ veröffentlicht wurde.

Abb. 2 Zwei sorgfältig verzierte sog. „Taschengefäße“. Diese beutelförmigen Becher sind eine Sonderform und ahmen Taschen aus textilem Material nach.

Aus den Funden der Siedlungs- und Abfallgruben ließ sich erkennen, dass die Siedlung zwischen etwa 5300 v.Chr. bis 4950 v.Chr. Bestand hatte. Für die ersten dreihundert Jahre dieser Siedlung ließen sich keinerlei Besonderheiten feststellen. Erst für die letzten fünfzig Jahre ihres Bestehens muss sie eine für die bandkeramische Kultur sehr große Bedeutung bekommen haben.

Diese Bedeutung wird durch die dort gemachten Funde dokumentiert. In den bisher ausgegrabenen Teilen der Grubenanlage wurden Skelettteile von mindestens 500 Menschen gefunden. Nachdem bisher nur etwa die Hälfte der Gesamtanlage untersucht wurde, ist davon auszugehen, dass die Gesamtzahl der dort vergrabenen Menschen eintausend übersteigen könnte. An einzelnen Stellen gab es Konzentrationen von 4.000 Fragmenten einzelner Knochen, oft vermischt mit ebenfalls zerschlagenen Resten prunkvoller Keramiken. (Abb. 2)

Das Rätselhafte dieser Funde ist jedoch der Zustand der Skelettreste, es wurden dort mehr als 75.000 menschliche Knochen und Knochenfragmente gefunden, darunter etwa 500 Kalotten und weitere Schädelteile. Die Knochen waren in kleinste Teile zerschlagen und zersplittert.

Abb. 3 Ein 'Nest' von Schädelkalotten

Vor der Zerschlagung der Knochen wurde das Fleisch sorgfältig abgetrennt, was durch Schnittspuren eindeutig belegt ist. An manchen Knochen wurden auch Brandspuren gefunden. Daraus entstand der Verdacht, dass die Handlungen mit Kannibalismus in Verbindung standen.

Die Schädel erfuhren eine besondere Behandlung: Mit langen Schnitten über die Mitte des Schädels, von der Nasenwurzel bis zur Schädelbasis, wurde die Kopfhaut aufgeschnitten und vom Schädel abgezogen. Diese Prozedur hinterließ auf den Schädeldächern typische Schnittspuren. Nach der Entfernung der Kopfhaut und der Reinigung des Schädels von allen Weichteilen wurde mit gezielten Schlägen der untere Teil des Schädels vom Schädeldach, der Kalotte, abgetrennt. Dabei orientierte man sich grob an der sogenannten „Hutkrempenlinie“; alle Schädelteile, die unter dieser Linie liegen, wurden abgeschlagen. Am Ende blieb nur die Schädelkalotte übrig. (Abb. 3)

Rätselhaft an den Funden ist auch die Tatsache, dass an den Skelettresten, die alle Altersstufen umfassen, bisher keine Tötungsspuren festgestellt wurden. Trotzdem ist davon auszugehen, dass diese Menschen keines natürlichen Todes starben, sondern vor ihrer Zerlegung getötet wurden. Auffallend ist der hohe Anteil jüngerer Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Die Herkunft der Toten wirft weitere Fragen auf, denn sie stammen aus Gegenden, die bis zu mehr als 400 km weit von Herxheim entfernt sind. (Abb. 4)

Abb. 4 Herkunftsgebiete auswärtiger Keramikstile in Herxheim: 1 = Blicquy; 2 = Rhein-Mosel (Plaidter Stil); 3 = Rhein-Main (Schraffurstil); 4 = Nordhessen (Stil Leihgestern ); 5 = Elster-Saale; 6 = Neckar; 7 = Böhmen (Sarka-Stil); 8 = Bayern

Die Ausgrabungen von Herxheim, die unter der Leitung von Frau Dr. Zeeb-Lanz von der Landesarchäologie Rheinland-Pfalz standen, gaben Hinweise, dass Kannibalismus nicht auszuschließen ist. Allerdings wäre von einem Kannibalismus auszugehen, der im Rahmen ritueller Handlungen zu betrachten ist. Der rituelle Charakter wird aus der Zerstörung menschlicher Körper, Zerschlagung hochwertiger Keramik und Steingeräten deutlich. Wenn es kannibalische Riten gab, so waren sie Bestandteil einer übergeordneten Zeremonie, bei der die Zerstörung der Leitfaden des Handelns war.

Im westlichen Verbreitungsgebiet verschwindet die bandkeramische Kultur praktisch „über Nacht“, während sie im östlichen Teil in die Stichbandkeramik übergeht. Das abrupte Ende der weit verbreiteten und über 600 Jahre in Mitteleuropa vorherrschenden Bandkeramikkultur wird in der Forschung generell auf eine Krise zurückgeführt. Uneinigkeit herrscht jedoch über die Art dieser Krise und ihre Ursachen.

Es ist die Frage, ob das Grabungsfeld von Herxheim diese Krise dokumentiert und vielleicht sogar das Ende der Linienbandkeramik darstellt. Der Zeitpunkt des Geschehens lag zwischen 5000 und 4950 v.Chr., eine Zeitspanne von fünfzig Jahren, die allerdings ein Maximum darstellt. Vorstellbar wäre es nach Zeeb-Lanz, dass sich das Ganze in nur zwei Jahren oder vielleicht sogar in nur fünf Wochen abspielte. Es wird wohl immer im Verborgenen bleiben, was diesem jungsteinzeitlichen „Herxheim“ zu seiner Bedeutung in seinem Kulturkreis verhalf, und was der Hintergrund der Geschehnisse zu seinem Ende war.

Zeeb-Lanz formulierte den Gedanken, „dass es sich zu jener Zeit um eine >Sinneskrise< gehandelt haben könnte, die große Teile der bandkeramischen Gemeinschaft erfasste, und welche unter anderem zu einer außergewöhnlichen, keiner Tradition verpflichteten Behandlung von Toten führte. Nicht nur in Herxheim wurden die Körper von Toten manipuliert, dies ist für die jüngste Bandkeramik in mehreren Fällen bekannt, wenngleich nirgends eine ähnlich große Zahl an Menschen vergleichbar behandelt wurde wie hier. So könnte es sich bei dem Befund von Herxheim um den Spiegel einer fundamentalen gesellschaftlichen Krise der bandkeramischen Kultur handeln, die an dieser Krise dann letztlich auch scheiterte.


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag wurde im November 2014 von Ferdinand Speidel für Atlantisforschung.de erstellt. Der Text und die in diesem Artikel enthaltenen Abbildungen basieren auf dem Museumsführer von Herxheim sowie Pressemeldungen. Die Veröffentlichung geschieht mit freundlicher Zustimmung von Frau Dr. Zeeb-Lanz.

  • Eine umfassende Sammlung von Fundstücken der Ausgrabungen kann in dem sehr schön ausgestatteten Museum von Herxheim besichtigt werden.