Rudolf Steiner und Lemuria

Abb. 1 Erst in der "späten lemurischen Periode" soll der Mond die Küsten des sich völlig materialisierenden Pazifik-Kontinents beschienen haben. Zuvor waren Erde und Mond, nach Rudolf Steiner, noch eine gemeinsame Masse. (Bild: Iris Giclee, Moonlight over Lemuria)

(bb) In einem Online-Beitrag unter dem Titel "The Lemurian Era", aus dem wir hier ausführlich zitieren wollen, fasst ein namentlich ungenannter Autor einige wesentlich Aspekte und Einzelheiten aus der esoterischen Lemuria-Adaption von Rudolf Steiner (1861-1925) zusammen (vergleiche zu ihm auch: Stichwort: Anthroposophie von Hans-Otto Wiebus). Der Anonymus beginnt mit einem kurzen Hinweis auf die Kosmologie Steiner´scher Prägung: "Nach Steiner gab es ursprünglich überhaupt keine feste Materie; und dann kondensierten die Erde und das Sonnen-System langsam durch die Stadien von zunächst Feuer, dann Luft, dann Flüssigkeit, dann schließlich feste Materie. Bis hin zur frühen lemurischen Periode war die Welt noch nicht so fest wie heutzutage, und die Erde und der Mond waren noch eine einzige große Masse." [1]

Steiner zufolge war "das alte Lemuria [...] ein Kontinent zwischen den heutigen Kontinenten Asien, Afrika und Australien, und es wurde von einer völlig andersartigen Menschheit bewohnt. Natürlich stammt die Idee von Lemuria und der lemurischen Wurzel-Rasse ursprünglich von Blavatsky [siehe: Die Theosophen und Lemuria; d. Red.], die wiederum von dem Darwinisten Ernst Haeckel aus dem 19. Jahrhundert beeinflusst war, der einen hypothetischen Kontinent vermutet hatte, um die Verbreitung der Lemuren zu erklären! [siehe: Der naturwissenschaftliche Ursprung der Lemuria-Idee; [2] d. Red.] Folglich bildet eine obsolete Wissenschaft die Basis theosophischer, anthroposophischer und New Age->Tatsachen<." [3]

So betrachtete Steiner den "frühen lemurischen Menschen als eine Art lediglich halb-körperlicher, amorpher oder quallenähnlicher aquatischer Lebensform, die noch nicht über ein individuelles Bewußtsein verfügte. [...] Erst während der lemurischen Ära [...] löste sich der Mond von der Erde. Wie Steiner erklärt, wurde, als der Erde-Mond-Körper immer mehr an Dichte zunahm, >die menschliche Substanz, die man heute vorfindet, zu hart und starr, um sich inkarnieren zu können.< (Luke 82) Immer weniger menschliche Seelen waren mächtig genug, die härter werdenden irdischen Körper zu benutzen. Schließlich hatte nur >ein wichtiges Paar [Adam und Eva à la Steiner?; bb] eine ausreichende Stärke, um die sture Materie zu beherrschen und sich während der Periode auf der Erde zu inkarnieren, als der Mond sich von der Erde löste.< (Luke 83)" [4]

Auch andere Esoteriker stimmen dieser Variation des biblischen Schöpfungsberichts dienstbeflissen zu. So erklärt Paul E. Chu in "Life Before Birth, Life on Earth, Life After Death" auf Seite 98: "Die spirituelle Wissenschaft [sic!; bb] bestätigt unabhängig den biblischen Bericht von Adam und Eva." Und begeistert fügt er an: "Das wirft die Frage nach den Verstandes-Kapazitäten bestimmter Anthroposophen auf." Wir merken dazu schmunzelnd an: Vor einem empirischen Standpunkt aus stellt sich diese Frage ebenfalls - freilich mit völlig entgegengesetztem Tenor!

Abb. 2 Dr. Rudolf Steiner (1861-1925). Seine Lemuria-Story scheint weitgehend von Madame Blavatsky 'abgekupfert'. Seine "Entstehungsgeschichte" des Mondes unterscheidet sich allerdings stark vom Original.

Doch weiter im Text mit Steiners skurriler Erdgeschichte: "Es wurde notwendig, die verdichtenden Kräfte aus dem Erde-Mond-[Körper] zu entfernen, der sich noch in einem Wärme-Dampf-Flüssigkeits-Stadium befand ... zur Mitte von Lemuria hin wählte der siebente führende Geist der Form, mit seinem gewaltigen Opfer, seine normale Entwickung auf der Sonne nicht zusammen mit den anderen aus seiner Hierarchie fortzusetzen, >zum Heil der Menschheit eine andere Aufgabe. Dieses Wesen eliminierte die dichtesten der Erde-Mond-Kräfte, zusammen mit der Materie, die mit jenen Kräften verbunden ist, und trennte unseren Mond ab, wobei unsere heutige Erde übrig blieb<." [5]

Weiter heißt es dazu: "Dieses Ereignis verursachte eine bedeutende Umwälzung. Die Objekte um den Menschen herum verloren einen Großteil ihrer Hitze. Diese Objekte traten dabei in eine grobere und dichtere Stofflichkeit ein. Der Mensch konnte nun in dieser kühleren Umgebung leben." (Cosmic Memory, S.136) Nach dem Auswurf des Mondes war die Erde nun, wie Steiner angibt, in der Lage sich völlig zu verfestigen. "Zumindest in dieser Beziehung", schreibt unser Anonymus, "steht Steiners Position im Widerspruch zu derjenigen von Blavatsky. Nach Blavatsky ist der Mond übrigens der >Korpus< der Erde aus dem vorhergegangenen kosmischen Zyklus, und somit viel älter als die Erde. Steiner zufolge, ist der Mond [jedoch] viel jünger als die Erde, und wurde von ihr ausgeworfen. Dies ist übrigens eine, heute widerlegte, Theorie zur Bildung des Mondes, die zu Steiners Zeiten populär war; wir erkennen somit, wie seine angebliche >Hellsichtigkeit< sehr häufig eher sein persönliches Bild der Welt reflektiert, als eine objektive Analyse von ihr [...] ist." [6]

Der bereits zitierte Paul E. Chu trägt in "Life Before Birth, Life on Earth, Life After Death" (Seiten 99-100) mit dem Statement zu unserer Unterhaltung bei, dass "die separierten Mond-Kräfte die menschlichen Entitäten gehärtet [waren], und seine [- des Menschen -] Entwicklung in die Richtige Bahn gelenkt hatten. Dieser Geist der Form arbeitet seither somit von außerhalb am Menschen, so, wie es auch die Sonnen-Wesen tun. Dieses Wesen ist der [sic!!!; bb] Elohim, der als Jehovah im Alten Testament bekannt ist. Jehovah ist der Regent des Mondes, der die Entwicklung der Menschheit von dieser Sphäre aus leitet." [7]

Weitere Bonmots dazu liefert uns Ann Ree Colton (Abb. 3), die den Steiner´schen Jehovah "als den >Herrn der Rasse< [orig.: "race lord"; d.Ü.] bezeichnet, der mit dem Swadhisthana-Chakra und dem Mond assoziiert wird, und der so oft Kriege anzettelt [...]. Ihre Assoziation von Jehovah mit dem Mond scheint auf einen Einfluss - entweder Steiners oder der Theosophie hinzudeuten (auf jeden Fall sind theosophische Konzepte in ihrem Werk erkennbar, und ihre Beschreibung der Aura ähnelt erstaunlich der von Leadbeater). So heißt es bei ihr: >Nach der Loslösung des Mondes stieg die Substantialität an ... Während der lemurischen Epoche nahm der Mensch eine Form an, die es ihm ermöglichte, sein viertes Prinzip, das Ego, auszubilden. Das Ego war ein Geschenk an die Menschheit von den sechs führenden Geistern der Form, welche die Sonne zu ihrer Handlungs-Sphäre gemacht hatten. Sie opferten ihre Substanz, das kosmische Ego, und gaben dem Menschen einen >Tropfen< dieses Ego. Die Gesamtheit dieser sechs Sonnen-Wesen wird in unserem Zeitalter CHRISTUS genannt<." [8]

Abb. 3 Auch für Ann Ree Colton, Begründerin der christlich-theosophischen Schule der "Niscience", nahm der Mensch erst im 'lemurischen Zeitalter' eine körperliche Form an und bildete seine Persönlichkeit aus.

Der Autor von "The Lemurian Era" meint dazu: "Hier haben wir ein gnostisches und manichäisches Konzept, den >Göttlichen Funken< als eine Emanation der Götter, oder durch ein göttliches Wesen, zu betrachten, das sich auf der Erde reinkarnierte. In der Kabbalah beispielsweise, speziell im Sohar, ist das Neshamah oder die Göttliche Seele ein Funken Binahs, des Göttlichen Verständnisses. Es gibt da eine Unstimmigkeit in Steiners Lehren, der sich an anderer Stelle auf den Kosmischen Christus bezieht, welcher dem Menschen ein individuelles Ego nur [in Verbindung] mit der Inkarnation und Kreuzigung Jesu verleiht. Solche Diskrepanzen kommen sehr häufig in seinen Lehren vor." [9]

Halten wir fest: "Nach der Abtrennung des Mondes gab es", so Steiner, "eine Transformation der menschlichen Form. Jene Organe, welche zuvor der Ernährung und Reproduktion gedient hatten, wurden in Sprach- und Denk-Organe transformiert. [sic!; bb] Der Mensch [begann] aufrecht [zu gehen]. (Cosmic Memory pp.136-7) Hermann Poppelbaum und andere Anthroposophen werfen die interessante Annahme auf, dass das erste Auftauchen von Zweifüßigkeit bei Tieren auf der Erde (bei thecodontischen Reptilien aus dem Trias) tatsächlich eine irdische Reflektion des aufrecht gehenden, ätherischen Menschen gewesen sei!" Unter anderem deswegen "identifiziert der Anthroposoph E. Haegmann die zweite Hälfte der lemurischen Epoche eher mit den präkambrischen und frühen paläozoischen Zeitaltern, als (wie Poppelbaum) mit der mesozoischen Ära..." [10]

Steiner beschreibt "ziemlich ausführlich die Gesellschaft, die von den lemurischen Wesen entwickelt wurde. Diese zurückkehrenden Seelen, die zuvor Zuflucht in den verschiedenen planetaren Sphären gesucht hatten, gruppierten sich zu Orakeln, die unter den Namen ihrer Planeten bekannt sind, also als Saturn-, Jupiter-, Mars-, Merkur- und Venus-Mysterien. Steiner erklärt, dass sie alle in der alten Welt zu finden waren und den Beginn der modernen Rassen darstellten. Dies hat all jenen Schwierigkeiten bereitet, die versucht haben, die anthroposophischen und wissenschaftlichen Zeit-Skalen zu integrieren. Generell wird die lemurische Zeit mit dem Mesozoikum (und bisweilen auch mit dem Paläozoikum) gleichgesetzt. Wir wissen natürlich, dass keine menschlichen Fossilien irgendwelcher Art aus diesen relativ frühen Stadien des [...] Lebens gefunden wurden.

Theosophische und anthroposophische Autoren, wie Poppelbaum und andere, argumentieren, dass dies so sei, weil der Mensch (anders als Tiere und Pflanzen) sich in diesem Stadium noch nicht materialisiert hatte, sondern noch auf der ätherischen Ebene existierte. Dies widerspricht jedoch den Aussagen Steiners. Während Poppelbaum's Bericht über die lemurische Ära interessant und imaginativ ist [...], deutet Steiners Beschreibung der selben Ära auf eine völlig andere Realität hin.

Steiner nimmt Bezug auf phantastische und lächerliche Elemente, wie etwa die degenerativen Kräfte, die [angeblich] vom, in Entwicklung befindlichen, menschlichen Bewusstsein produziert wurden, das gewaltige Feuersbrünste auslöste und den Kontinent Lemuria zerstörte (dies scheint ein Aufguss des theosophischen Mythos von den Atlantern zu sein, welche ihren Kontinent durch Missbrauch ihrer psychischen Kräfte zerstörten). Aus dieser Perspektive gesehen, als eine Art imaginatives, mythopoetisches und traumähnliches Bewußtsein, erinnert Steiners lemurische Ära ziemlich an die >Typhon<- oder >Körper-Ego<-Stadien der Psychogenese des transpersonalen Psychologen Ken Wilber's, was nahelegt, dass beide in die selbe psycho-mythische Realität hineinstolpern." [11]

Schließen wir unseren kurzen Ausflug in die obskuren Gefilde Steiner´scher bzw. anthroposophischer Lemuria-Präsentation mit der Feststellung ab, dass es völlig zwecklos erscheint, in diesem Wirrwarr aus theosophischen, christlichen sowie anderen Versatz-Stücken seiner Lehre nach brauchbaren Hinweisen auf ein historisches Vorbild für Lemuria zu suchen. Wenden wir uns daher kopfschüttelnd vom Lemuria des Herrn Dr. Steiner ab - und den Aussagen eines anderen populären Vertreters des esoterischen Genre zu...


Fortsetzung:


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Quelle: Anonymus, "The Lemurian Era", online unter http://www.kheper.net/topics/Anthroposophy/Lemurian.html
  2. Vergl. zu Haeckel auch: Ernst Haeckel - 'Baron Münchhausen' des Darwinismus
  3. Quelle: Anonymus, "The Lemurian Era", online unter http://www.kheper.net/topics/Anthroposophy/Lemurian.html
  4. Quelle: ebd.
  5. Quelle: ebd.
  6. Quelle: ebd.
  7. Quelle: ebd.
  8. Quelle: ebd.
  9. Quelle: ebd.
  10. Quelle: ebd.
  11. Quelle: ebd.

Bild-Quellen:

1) http://telos-mu.com/moonlight_over_lemuria.html
2) http://www.vegetarierbund.de/nv/nv_1999_6__Landwirtschaft__Rudolf_Steiner.jpg
3) http://www.niscience.org/founders.html