Nan Madol - Das achte Weltwunder - Teil I

von unserem Gastautor Walter-Jörg Langbein

Abb. 1 Nan Madol, das 'Venedig des Pazifik' auf der Insel Pohnpei

Seit unzähligen Jahrtausenden üben Superlative auf den Menschen eine prickelnde Faszination aus. Staunend steht er vor den oftmals fantastischen Werken der Natur. Stolz ist er freilich auf von Menschenhand geschaffene Denkmäler, die für die Ewigkeit gedacht waren, sich aber als sehr vergänglich erwiesen.

Im 2. Jahrhundert vor Chr. stellte der Historienschreiber Antipatros von Sidon eine Liste der "sieben Weltwunder" auf. Er nannte die Mauern von Babylon, den Zeus von Olympia, den Koloss von Rhodos, die Hängenden Gärten, die Pyramiden, das Mausoleum und den Artemnis-Tempel.

Wehmütig beklagen wir, dass von jenen einst so stolzen Zeugnissen menschlicher Schaffenskraft lediglich die ägyptischen Pyramiden die Jahrtausende überdauert haben. Dabei wird freilich übersehen, dass es ein achtes Weltwunder aus uralten Zeiten gibt.

Nan Madol aber liegt von Europa aus gesehen wirklich "am anderen Ende der Welt". Wer einmal nach Nan Madol gereist ist, der weiß, wie groß unser Erdball wirklich ist. Meine Flugroute: Hannover - Frankfurt - Newark/ New York - Honolulu/ Hawaii - Johnston Island - Majuro - Kwajalein - Kosrae - Pohnpei. Für den "einfachen Weg" müssen - und das bei günstigen Flugverbindungen! - drei oder vier Tage einkalkuliert werden. Aber die rund 22 000 Kilometer lohnen sich!


Riesenbauten auf künstlichen Inseln

Pohnpei ist die größte der Karolinen-Inseln, die zu Mikronesien gehören. Bei Pohnpei, auf den Karten des Südseeraums allenfalls als kleiner Klecks verzeichnet, handelt es sich genau betrachtet wiederum um eine eigene Inselgruppe. Vom Flugzeug aus gesehen sticht zunächst das gebirgige, grüne Zentrum von Pohnpei ins Auge. Beim Landeanflug fallen weitere Details auf. Schützend umgeben ein schmales steiniges, trostloses Riff und winzig wirkende, oft kaum die schaumigen Meereswogen überragende Felsbrocken das Haupteiland. Die "Felsbrocken" erweisen sich wiederum als einzelne kleine Inseln oder Ansammlungen kleiner Eilande, gegen die mächtige Wellenberge anstürmen.

Abb.2 Die Natur wuchert überall - wann ist das Reich ganz verschwunden?

Den Namen Pohnpei, so haben Sprachforscher herausgefunden, kann man übersetzen: "auf einem steinernen Altar". In Erinnerung an die alten Götter, die hier einst verehrt wurden, wurden 1984 diverse Schreibweisen wie Ponape und Ponape To offiziell abgeschafft. In der neuen Verfassung wurde offiziell Pohnpei als amtlicher Name festgeschrieben. Welchen Göttern zu Ehren wurde da ein Inselkomplex als "steinerner Altar" bezeichnet? Welchen Göttern wurde hier gehuldigt?

Anno 1828, so steht es in den Geschichtsbüchern, entdeckte der russische Kapitän Fedor Lütke die Inselwelt. Viele Einheimische hören das nicht so gern. "Was heißt hier, unsere Heimat wurde 1828 von einem Russen entdeckt? Das ist doch Unsinn! Entdeckt wurde unsere Heimat von unseren Vorvätern vor Jahrtausenden!"

Recht unscheinbar wirkt zunächst, allerdings nur aus der Luft betrachtet, Temwen (frühere Schreibweise: Temuen). Örtliche Forscher freilich haben herausgefunden, dass Temuen kein Produkt von "Mutter Natur" ist. Temuen besteht nämlich aus einem dichten Komplex von 82 künstlich geschaffenen Inseln! Geniale Konstrukteure haben zunächst ein Fundament aus tonnenschweren Steinbalken gelegt - unter Wasser! Das wird wohl bei Ebbe geschehen sein. Dann ist das Meer an manchen Stellen extrem seicht. Trotzdem kann man ob der enormen bautechnischen Leistung nur staunen!

Die 82 Inseln sind tatsächlich künstlich, von Menschenhand angelegt: Hatte man erst einmal eine Grundmauer errichtet, so wurde sie hauptsächlich mit Steinmaterial, Korallenstaub und Erde aufgefüllt. Auf dieser Basis wiederum wurden riesige Gebäude im Blockhüttenstil aufgetürmt, wobei bis zu neun Meter lange sechs- und achteckige Säulen verwendet wurden. Die künstlichen Inseln, die seit unzähligen Jahrhunderten den Gewalten des tosenden Meeres trotzen, stellen zusammen mit den steinernen Riesenbauten das achte Weltwunder dar: Nan Madol!

Nan Madol war einst so etwas wie das steinzeitliche Venedig der Südsee. Zwischen hunderten mächtigen Bauten auf künstlichen Inseln gab es kanalartige Seewege anstatt von Straßen. Die Bewohner von Nan Madol besuchten sich gegenseitig mit dem Boot. Es nimmt nicht Wunder, dass sie ihre in den Weiten der Südsee verlorene Heimat Nan Madol nannten, was sich mit "Ort der Zwischenräume" übersetzen lässt.

Der Weg von Pohnpeis Hauptstadt Kolonia nach Nan Madol ist nichts für Menschen, die schnell seekrank werden. Die Reise muss so angetreten werden, dass man dann am Ziel ankommt, wenn die Flut hoch steht. Und man muss sich wieder auf den Rückweg machen, so lange die Flut noch währt. Sonst sind die seichten Meeresuntiefen um Nan Madol herum nicht zu passieren.

Lihp Spegal, der tüchtige Guide, erklärte mir: "Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste: Man fährt langsam aufs Meer hinaus. Dann spürt man jede einzelne Welle und wird durch das dauernde Auf und Ab auf den hohen Wellen seekrank. Die zweite: Man fährt so schnell es geht. Dann fliegt man förmlich über die Wellen dahin. Aber fast jede schlägt kräftig gegen den Boden des Boots. Man wird also tüchtig durchgeschüttelt!"

Abb. 3 Eingang zu einem der rätselhaften Bauten

Wir entschieden uns für Version 2. Tag für Tag nahmen wir zwei bis drei Stunden Ritt auf den polternden Wellen in Kauf. Und das in einem einfachen Kahn, auf einem Brett am Boden sitzend. Meine Kameraausrüstung lag dabei in meinem Schoß. Ich versuchte, die gewaltigen Schläge so gut es ging abzufedern. Ausgestattet war unser Vehikel mit einem Motor für ein starkes Rennboot. So brauste unser Kahn nur so dahin, bekam etwa alle zehn Sekunden von einer Welle einen gewaltigen Hieb gegen den wenig vertrauenserweckend aussehenden Boden. Die langen Risse im Kunststoffrumpf übersahen wir dabei geflissentlich. Irgendwann würde der Rennkahn auseinanderbrechen. Sollte mir das widerfahren, so hoffte ich, dass die Haie derweil anderweitig beschäftigt sein würden.

In rasender Fahrt ging es vorbei an kleinen dicht bewaldeten Inselchen. Da und dort sieht man eine windschiefe Hütte darauf errichtet. Ein paar Pfähle wurden in den Boden gerammt. Ein Wellblechdach als Regenschutz und Schattenspender angebracht. Diese "Bauten" passen nicht in die Natur. Schon haben wir die kleinen Eilande hinter uns gelassen. Immer wieder musste das Tempo stark gedrosselt werden. Dann zuckelten wir wieder einmal über eine seichte Untiefe. Bunte Seesterne leuchteten vom greifbar nahen Boden. Geschickt hob dann Guide Lihp Spegal den Außenbordmotor hoch. "Sonst streift er mir am Boden an!" erklärte er lachend in gut verständlichem Englisch und fügte hinzu: "Jetzt stellen Sie sich einmal vor, wir hätten eine tonnenschwere Basaltsäule im Boot, um sie nach Nan Madol zu transportieren! Wir würden garantiert an einer dieser Untiefen hängen bleiben!"

Gnadenlos brannte die Sonne vom Firmament, wenn es nicht wieder einmal in Strömen regnete. Sonnenbrände entstehen, mag man sich noch so intensiv mit Sonnencreme einschmieren, alle Tage wieder. Die Schmerzen sind aber rasch vergessen. Denn unser Ziel ist das achte Weltwunder, das steinzeitliche Venedig der Südsee.

Schon dem flüchtigen Beobachter drängen sich Fragen auf, sobald er sich per Boot dem geheimnisvollen Ziel nähert. Sie konnten bislang nicht zufrieden stellend beantwortet werden. Warum wurde im Meer vor der südöstlichen Küste von Temuen ein steinzeitliches "Disneyland" geschaffen? Warum geschah dies nicht statt dessen auf der Hauptinsel von Pohnpei, also auf Temuen selbst? Etwa im Norden, im Distrikt Sokehs. Hier wachsen vieleckige Steinsäulen wie monströse Haare aus dem Boden: erstarrte Lava. Diese natürlichen Riesenbalken wurden abgeschlagen, wie auch immer über weite Distanzen transportiert und zu gewaltigen Bauten nach dem "Blockhütten-Prinzip" aufgetürmt.

Heutige "Aufklärer" der populärwissenschaftlichen Sorte neigen dazu, die großen Rätsel der Vergangenheit einfach wegzuerklären. Dies geschieht auch in Sachen Nan Madol. Da wird so getan, als sei es geradezu ein Kinderspiel gewesen, das Baumaterial für die Monsterbauten von Nan Madol zu gewinnen. Weil angeblich die Basaltpfeiler allesamt so, wie sie später verbaut wurden, fix und fertig vor Jahrmillionen entstanden.

Oxford-Professor John Macmillan Brown, unermüdlicher Forschungsweltreisender und einer der großen Gelehrten Neu Seelands, Gründer die "University of Canterbury" von Christchurch, anno 1924 in "The Riddle of the Pacific": "[Beim südöstlichen Riff von Ponape gibt es eine zyklopische Ruine; da sind große Gebäude mit einer Grundfläche von insgesamt elf Quadratmeilen errichtet worden, auf quadratischen oder rechteckigen künstlich geschaffenen Inselchen. Das Verschiffen über das Riff bei Flut und das Hochzerren dieser gewaltigen Blöcke, wovon viele bis zu fünfundzwanzig Tonnen wiegen, bis in eine Höhe von zwanzig Metern, muss den Einsatz von Zehntausenden von gut organisierten Arbeitern bedeutet haben. Und die müssten alle gekleidet und ernährt worden sein.]"

Das aber, so der Gelehrte, war eigentlich unmöglich: Für zehntausende Arbeiter war kein Platz. Zehntausende konnten nicht hinreichend ernährt werden. So viel Nahrungsmittel konnten auf dem kleinen Eiland gar nicht produziert werden. Und selbst wenn die Arbeitssklaven kärglichst verköstigt wurden, so hätten sie doch unübersehbare Spuren hinterlassen müssen. Selbst wenn sie in armseligsten Behausungen vegetiert hätten, derlei große Ansiedlungen verschwinden nicht spurlos.

Fazit: Um die Bauten von Nan Madol zu verwirklichen, wären Zigtausende von Arbeitern erforderlich gewesen. Ein auch nur annähernd großes Heer von Arbeitern hat es aber auf Nan Madol nie gegeben. Also dürfte es eigentlich die Anlagen von Nan Madol gar nicht geben. Sie existieren aber. Professor Macmillan Brown: "Es ist eines der großen Mirakel der Südsee!"

Abb. 4 Überall Wasser - die ganze Anlage ist von Wasser umgeben

Warum hat man aber die Gebäude nicht in der Nähe des Steinbruchs errichtet? Dann wäre das Problem des Transports der Säulen erst gar nicht aufgekommen. Irgendwie muss es vor vielen Jahrhunderten gelöst worden sein. Wie? Eine überzeugende Antwort vermögen die Archäologen nicht zu bieten! Warum wurden an der entgegengesetzten Seite der Hauptinsel erst im seichten Wasser unter kaum vorstellbarem Aufwand 82 künstliche Inseln gebaut, um als Grundlage, als Fundamente für eine steinzeitliche Anlage monströser Bauten zu dienen? Warum schuf man direkt im Meer eine Stadt? Und nicht auf dem Festland von Temuen selbst?

Warum wurde überhaupt mit Stein gebaut? Gab und gibt es doch Holz in unbeschreiblichem Überfluss. Holzstämme standen also in ausreichendem Maße zur Verfügung, um die ganze Insel mit Häusern und Tempeln förmlich zu überziehen. Warum verschmähte man aber dieses leicht zu bearbeitende Material und zog tonnenschwere Basaltsäulen vor? Wie wurden die bis zu neun Meter langen und oft mehr als zehn Tonnen schweren Säulen transportiert? Welchem Zweck dienten die Bauwerke?


Erste europäische Besucher

James G.O’Connell war vermutlich der erste Europäer, der die geheimnisvolle Welt von Nan Madol bestaunte und ausführlich beschrieb. In seinem Werk "Adventures of James G. O’Connell", 1836 in Boston publiziert, lesen wir: "Das schönste Abenteuer dieser Exkursion war die Entdeckung einer großen unbewohnten Insel, auf der erstaunliche Ruinen waren, von einem geradezu wirklich wundersamen Umfang und Ausmaß. Im äußersten Osten befindet sich eine große flache Insel, die bei Flut in dreißig oder vierzig kleinere unterteilt zu sein scheint, nämlich vom Wasser, das dann ansteigt und über sie fließt. Dort gibt es keine Felsen, die von der Natur aus dort befinden. (Sie müssen also von Menschenhand hingeschafft worden sein.) In manchen Teilen wachsen Früchte, reifen und verfaulen. Aus einer gewissen Entfernung scheinen die Ruinen eine fantastische Anhäufung durch Mutter Natur zu sein, als wir uns aber näherten, waren wir erstaunt ob der offensichtlichen Spuren von Menschenhand bezüglich ihrer Errichtung.

Die Flut war hoch, unser Kanu wurde in einen schmalen Bach gepaddelt, der so eng war, dass er an manchen Stellen kaum durchfahren konnte. Am Eingang passierten wir viele Yards zwischen zwei Mauern, die so nah waren, dass wir beide vom Boot aus, ohne seine Lage zu verändern, die Wände hätten berühren können."

Für die Bewohner der Nachbarinseln war die Ruinenwelt absolutes Tabu ("majorhowi"). Ein Zauber, so warnte man James G. O’Connell eindringlich, liege auf der mysteriösen Stätte und werde ihn töten, so er den heiligen Bauten auch nur nahe komme. O’Connell ließ sich nicht abschrecken. Immer wieder kehrte er zurück, beobachtete, studierte und notierte seine Eindrücke. Bewundernd hielt er fest: "Die immense Größe eines Teils der Steine in den Wänden machte es unmöglich, dass sie ohne die Hilfe einer mechanischen Apparatur hätten eingebaut werden können, welche allem überlegen hätte sein müssen, was ich bei den Insulanern sah."

Am 26. August 1857 veröffentlichte Dr. L. H. Gulick in "The Friend" seinen Bericht eines Besuchs von Nan Madol. Da heißt es: "Die gesamte Hauptinsel, und auch kleinere der bescheidensten Größe sind, so kann man sagen, von steinernen Strukturen überzogen, die man gewöhnlich als Ruinen bezeichnet, obwohl man daraus nicht ableiten sollte, dass sie tatsächlich in einem ruinenhaften Zustand sind. Es ist schwierig eine Meile, ja auch nur die Hälfte davon, in irgendeine Richtung zu gehen, ohne auf die Überreste uralter Arbeit zu stoßen. Sie werden an allen möglichen Orten entlang der Küste, Meilen davon entfernt im Landesinneren, auf Anhöhen und in abgeschlossenen Tälern, auf flachen Ebenen und an Steilhängen gefunden."


Unterwegs in Nan Madol

Abb. 5 Elegant sind die wuchtigen Mauern geschwungen!

Nan Douwas heißt eine der Inseln, für die allein sich jeder Pohnpei-Besucher mehrere Tage Zeit nehmen sollte. Lihp Spegal, der tüchtige Guide, der mich mehrere Tage lang durch die steinernen Anlagen von Nan Madol geleitet hat, übersetzt den Namen: "Im Mund des Hohen Häuptlings". Was das zu bedeuten hat, weiß er nicht zu sagen. Hier soll einst die Gottheit Nahnisohnsapw verehrt worden sein. Hier wurden die ersten Herrscher von Nan Madol feierlich in bunkerartigen Grüften bestattet. Jene Auserwählten sollen noch Kontakt zu den himmlischen Lehrmeistern gehabt haben, die auch in der Südsee als reale Wesen angesehen wurden, nicht etwa als geistige Prinzipien oder Verkörperung von Naturgewalten.

"Nan Douwas" macht einen wahrlich imposanten Eindruck. Die äußeren Mauern, bestehend aus meterlangen Basaltsäulen, sind stolze neun Meter hoch und drei Meter dick. Das riesige Geviert ist quadratisch angelegt. Jede Seite misst neunzig Meter. Vorsichtigen Schätzungen zufolge wurden allein hier schon 25 000 Basaltsäulen verarbeitet!

Im Inneren folgt eine weitere Mauer, die einen Innenhof umgibt. Sie ist wiederum aus Basaltkolumnen errichtet worden. Aus gleichem Material ist auch die zentrale Gruft, die an einen Bunker erinnert. Die meterlangen "Steinbalken" sind millimetergenau aufeinandergesetzt. Auf Mörtel oder ein sonstiges Bindemittel wurde verzichtet. Geschickt wurden immer wieder bewusst Hohlräume ausgespart und mit zerstoßenen Korallen aufgefüllt. Verarbeitet wurden allein für die Gemäuer von "Nan Douwas" 13 500 Kubikmeter Füllmaterial und 4 500 Kubikmeter Basalt in Form von Steinsäulen.

Worte sind zu schwach, um hinreichend zu beschreiben, was die Väter des achten Weltwunders einst vollbracht haben! Selbst noch so gute Fotos können die unglaublichen Leistungen der alten Südseebewohner nicht ausreichend würdigen. Die riesigen Gebäudekomplexe lassen sich nun einmal nicht wirklich fototechnisch erfassen. Wer freilich in der tropischen Hitze an Ort und Stelle die mysteriösen Bauwerke abgeschritten ist, der begreift, dass Nan Madol mit Fug und Recht als achtes Weltwunder bezeichnet wird.

Doch selbst wer es vor Ort erkundet, kann nur erahnen, wie gewaltig der riesige Komplex einst war. Auch heute können noch manche Kanäle per Boot mit möglichst geringem Tiefgang erkundet werden. Andere wiederum sind fast vollständig von tropischem Blattwerk zugewuchert. Es ist ein faszinierendes Erlebnis, sich vorsichtig per Boot in jenes grüne Dickicht hineinzuwagen. Hohe Pfahlwurzeln ragen weit aus dem brackigen, manchmal faulig riechenden Wasser heraus, verzweigen sich oberhalb des Wasserspiegels zu bizarren gewachsenen Kunstwerken.

"Wie können Pflanzen im Salzwasser wachsen?" Lihp Spegal zuckt mit den Schultern. "Es gibt hier wahrscheinlich Süßwasserquellen! Im Gemisch aus salzigem und süßem Wasser gedeiht die Pandanuspflanze!"

Pandanus wächst "unkrautartig" auf Pohnpei. Ihre Früchte wurden schon vor Jahrhunderten von den Seefahrern geschätzt. Gebacken oder zu einer Paste verarbeitet dienten sie auf langen Seereisen als Kraftnahrung für die Seeleute.

Das üppige Blattwerk bietet einen angenehmen Schutz vor der grellen Sonne. Ein mildes Halbdunkel breitet sich aus. Das Auge gewöhnt sich an die neue, angenehme Situation. Obwohl die Luft feucht und warm ist und überall kleine oder größere Tümpel ideale Brutstätten für Moskitos wären, gibt es diese bösen Plagegeister hier nicht. Überall taucht zwischen Wurzeln und Farnen das typische Nan-Madol-Mauerwerk auf. Lange sechs- oder achteckige Säulen sind da aufeinandergetürmt. Meist sind die Mauern nicht sehr hoch, erinnern eher an rudimentäre Fundamente als an Wände. Wurden alte Gebäude weitestgehend abgetragen, wenn neue errichtet wurden? Wie wurden sie transportiert? Auf Kähnen über die Wasserstraßen?

Deutlicher noch sind Mauern zu erkennen, die die Kanäle begrenzen. Oder sind es die Fundamente der künstlichen Inseln, an denen wir vorbeifahren? Auch im Wasser liegen Basaltsäulen. Wurden sie beim Transport verloren? Oder sind es Reste von Bauten, die hier einst standen? Wurden sie abgetragen, als neue künstliche Eilande angelegt wurden? Angeblich wurde mehrere hundert, vielleicht sogar tausend Jahre an der Inselwelt gebaut. Imme neue Architekten verwarfen alte Pläne und entwickelten neue. Sie ließen wieder abtragen, was Generationen zuvor errichtet hatten. Immer wieder soll Magie im Spiel gewesen sein. Zaubersprüche wurden angeblich benutzt, um die Riesensäulen leicht zu machen.

Hastig huschen Fischschwärme am steinigen Boden dahin. Manchmal dringt ein Sonnenstrahl durch das Blattwerk bis auf den Grund des niedrigen Kanals. Golden blitzen Fische auf. Sie fliehen vor dem leise tuckernden, langsam dahingleitenden Motorboot.

Immer wieder sind die Spuren von schmalen Kanälen auszumachen, die einst seitlich von der "Hauptwasserstraße" wegführten. Sie sind aber verschlammt, zugewachsen und für Boote nicht mehr passierbar. "Vielleicht gibt es hier im Morast noch Reste der alten Schleusen!" mutmaßt der tüchtige Guide. "Man müsste sie ausgraben, freilegen! Aber wer soll das bezahlen?" Dann mahnt Lihp Spegal ernst zum Aufbruch: "Wir müssen umkehren! Noch ist Flut, bei Ebbe schaffen wir den Rückweg nicht! Dann ist an manchen Stellen das Wasser zu seicht!"

Zurück bleibt die märchenhaft schöne, verträumte Zauberwelt der künstlichen Inseln des steinzeitlichen Venedigs der Südsee. "Morgen kommen wir wieder!" Mehr als strapaziös ist der Weg zu den mysteriösen Ruinen. Doch wer einmal hier war, ist vom geheimnisvollen friedlich-idyllischen Zauber fasziniert, der möchte immer wieder in dieses Paradies zurückkehren. Es sind nicht die erstaunlichen Ruinen allein, die faszinieren. Es ist nicht die üppige Pflanzenpracht allein, die es auf anderen Südseeinseln in bunteren Variationen gibt, die den Besucher fesselt. Es ist die dichte Atmosphäre, die von begabten Hollywoodregisseuren mit noch so vielen Dollars nicht realisiert werden könnte, die den Besucher in ihren Bann zieht: hier sind Mythen und alte Sagen förmlich greifbar. Man spürt sie geradezu körperlich, ohne sie zu verstehen.


Schatzsuche

Nan Douwas ist das am besten erhaltene steinerne Riesenbauwerk. Furchteinflößende Kräfte gewaltigen Ausmaßes haben freilich dem hohen Außenwall zugesetzt. Die imposanten Basaltsäulen, die heute nur mit starken Kränen bewegt werden könnten, wurden umhergewirbelt, so als handele es sich um ein überdimensionales Mikado-Spiel. Wer oder was brachte Teile der monumentalen Mauer teilweise zum Einsturz? Ein Erdbeben? Ein Orkan? Eine Riesenwelle? Oder fielen sie von Menschenhand, in einem Krieg?

Anno 1595 betrat Pedro Fernandez de Quiros als erster Weißer Nan Madol. Nan Douwas imponierte ihm sehr. Solch eine gewaltige Festungsanlage, schlussfolgerte der recht materiell denkende Seemann, musste doch immense Schätze bergen. Vergeblich suchte er nach Wertvollem und verschwand enttäuscht. Anno 1686 sahen sich Spanier Nan Douwas an. Sie beanspruchten den gesamten Inselkomplex als Besitz der spanischen Krone. Auch die neuen Herren suchten vergebens nach kostbaren Schätzen.

Anno 1826 landete James O’Connel als Schiffbrüchiger. Ihm wurde ob der Einheimischen Angst und bange. Freilich erwiesen sich seine Befürchtungen als unbegründet. Der wackere Ire kam erst gar nicht auf den Speiseplan der einheimischen Kannibalen, die damals angeblich noch der Menschenfresserei huldigten. Er heiratete eine Einheimische und ließ sich am ganzen Körper tätowieren. Die Meister jener Kunst genossen es, die weiße Haut mit komplizierten Motiven zu überziehen. (Später zog O’Connel mit einem Zirkus um die Welt und ließ sich gegen Barbezahlung bestaunen.) Wenn je ein Außenstehender das Vertrauen der Einheimischen genossen hat, dann war es der einstige Schiffbrüchige. Auch er erfuhr freilich nichts von einem Schatz auf Nan Douwas.

Nan Douwas ist freilich nur eine steinerne Anlage der mysteriösen Art von vielen. Sie alle wurden einst auf einer künstlichen Inseln errichtet.

Dapahu gilt heute als eines der ältesten künstlichen Eilande, soll etwa 230 nach der Zeitwende erbaut worden sein. Solche Datierungen sind freilich fragwürdiger denn je. Gewiss, es fanden sich hier mehr auswertbare Spuren als sonst wo in Nan Madol: unzählige Töpferwaren. Ist es aber nicht eher unwahrscheinlich, dass in den angeblich ältesten Bauwerken die meisten Spuren der einstigen Bewohner gefunden wurden? Wahrscheinlicher ist es doch, dass dort, wo besonders viele Tonwaren gefunden wurden, historisch gesehen zuletzt gesiedelt wurde. Dann aber wäre "Dapahu" nicht die älteste, sondern die jüngste Anlage. Dann müssten folgerichtig die anderen noch älter sein.

Diese Annahme wird auch durch die örtliche mündliche Überlieferung bestätigt! Auf Dapahu sollen einst die Speisen für die ersten Herrscher von Nan Madol zubereitet worden sein. Besonders hohes Ansehen genossen die Schiffsbauer. Die Besten der Besten arbeiteten für die hohen "Chefs". Sie hatten auf Dapahu ihre Werkstätten. Oder sollte man besser sagen: ihre Büros? Denn die Herrscher mieden allem Anschein nach wo immer das möglich war jeden Kontakt mit der "niederen Bevölkerung".

Abb. 6 Ansicht eines der zahlreichen Gebäude der versunkenen Welt

Pahn Kadira war das logistische Zentrum. Von hier aus wurden die Baumaßnahmen gesteuert. Hier wohnten die besten Steinspezialisten. Sie waren es, die die riesigen Basaltsäulen, die im Norden von Temuen aus dem Boden wuchsen, "fällten". Allein das erforderte schon erstaunliches Können. Die gewaltigen Kolosse mussten nicht nur "geschlagen" werden. Sie mussten mit enormen Kraftaufwand niedergelassen werden, ohne dass die viele Tonnen schweren "Steinstämme" zerbrachen. Wie wurden sie abgesägt? Schließlich stand den Spezialisten damals angeblich kein Metall zur Verfügung!

Außerdem mussten die steinernen Rohlinge allesamt bearbeitet werden. Es galt beispielsweise die Kanten der Säulen herauszuarbeiten, die Flächen zu glätten. Wie soll das geschehen sein, wenn doch keine Werkzeuge aus Metall zur Verfügung standen? Angeblich hat man Schalen der Tridacna-Riesenmuscheln verwendet, aus denen tatsächlich allerlei Werkzeuge angefertigt wurden. Bei archäologischen Ausgrabungen wurden Beile aus diesem doch eher weichen Material gefunden. Mit diesen Äxten sollen auch die gewachsenen Steinstämme gefällt worden sein. Ob tatsächlich die Riesenmuscheln hart genug sind, um damit Basalt zu bearbeiten, sei dahingestellt. Ausprobiert worden ist es bis dato noch nicht.

Ungeklärt ist bis heute auch die Frage, wie denn diese angeblichen Muschelwerkzeuge selbst fabriziert und bearbeitet wurden. Wenn sie Basalt schneiden, dann müssen die Muscheln härter als Basalt sein. Wie wurde dann das Werkzeug gefertigt? Dazu wäre ein anderes Werkzeug aus Material erforderlich gewesen, das härter als Basalt und Muschel war! Also vielleicht Metall? Und wenn ja: welches? Aber den Erbauern der steinernen Anlagen war kein Metall bekannt, das dazu hätte verwendet werden können, Basalt oder harte Muscheln zielgerecht zu schneiden.

Pahn Kadira, wo die hochherrschaftliaschen "Städteplaner" und die besten Steinspezialisten residierten, war mit einem "Tabu" belegt. Gewöhnliche Sterbliche durften das Eiland nur mit spezieller Genehmigung betreten. Der Eingang zu der "verbotenen Stadt", die auch "Unter dem Tabu stehend" genannt wurde, hieß "Rin". Hier wachte der angesehene "Keus". Dieser Titel lässt sich mit "Wer bist du?" übersetzen. Wer von diesem Hüter die Erlaubnis erhalten hatte, das künstliche Eiland zu betreten, durfte noch lange nicht in die "königliche Stadt" selbst gehen. Darauf achtete ein weiterer Wächter, "Sohn Pu Douw".

Die wissenschaftlichen Datierungen der Einzelnen künstlichen Inseln werden vor Ort nicht sonderlich ernst genommen. Und das mit Recht. Nan Douwas soll um 230 n.Chr., "Pahn Kadira" erst zwischen 900 und 1 000 n.Chr. erbaut worden sein. Das erscheint unlogisch! Von Pahn Kadira aus wurden der Bau der gesamten Nan Madol-Anlage dirigiert. Folglich muss es der älteste Teil des gesamten Komplexes sein. Wie alt aber ist Nan Madol? Niemand vermag das zu sagen. Forscher David Hatcher Childress weist darauf hin, dass das "Smithsonian Institute" einige alte Töpferwaren von Nan Madol datierte und ein Alter von 2 000 Jahren feststellte. Damit ist aber keineswegs gesagt, dass das steinzeitliche Venedig vor zwei Jahrtausenden gegründet wurde. Wir wissen jetzt nur, dass um die Zeit Christi Menschen an jenem geheimnisvollen Ort siedelten. Unbekannt ist und bleibt das Alter von Nan Madol.

Die "VIPs" von Nan Madol residierten zurückgezogen auf Pahn Kadira. Das Personal hauste auf Kelepwel. Diese Insel - ebenso künstlich angelegt wie alle anderen - wurde auch als "Gästebezirk" benutzt. Die Herrscher schätzten Fremdlinge also nicht besonders und hielten sie sich möglichst auf Distanz. Auch die meisten Priester lebten zurückgezogen auf einer eigenen künstlichen Insel, auf Usendau. Auch hier wurden enorme Bauleistungen vollbracht! Auf dem kleinen Eiland (Ausmaße 85 mal 70 Meter!) wurden 18 000 Kubikmeter Stein verarbeitet! Leider ist ein großer Teil der ursprünglichen Bausubstanz auf der einst so stolzen Priesterinsel zerstört worden - vor wenig mehr als einhundert Jahren. Damals siedelten sich hier die Nachfahren der Ureinwohner von Nan Madol wieder an. Die bebaubaren Flächen waren äußerst klein, da mussten scheinbar nutzlose Ruinen weichen.

Wasau hat noch viele Geheimnisse zu bieten, die sich unter mysteriösen Plattformen und künstlich aufgetürmten Hügeln verbergen. Einst wurden hier alle Nahrungsmittel, die für die Bevölkerung von Nan Madol gedacht waren, sorgsam eingelagert. Besondere Köche wählten die besten Speisen für die Oberschicht der Hohepiester und weltlichen Herrscher aus und bereiteten sie vor, bevor sie ins "Vip-Zentrum" von Pahn Kadira verschifft wurden.


Fortsetzung


Bild-Quellen

1) Wikipedia - The Free Encyclopedia, unter: Nan Madol
2-6) Archiv Walter-Jörg Langbein