Das ABORA-Projekt auf den Spuren der frühesten Seefahrer
Inhaltsverzeichnis
Mit dem Experimentalfloß DILMUN S auf Kurs für neue Expeditionen
Vorbemerkung
Es ist einer der ganz großen Fragen der Wissenschaft, wann vorzeitliche Menschen begannen, die Weite der Weltmeere zu erobern. Aus Sicht der etablierten Wissenschaft ist diese Frage de facto ungelöst. Die felsbildkundlichen Studien sowie die ABORA-Segelexpeditionen des Autors liefern wichtige Hinweise, dass die Entwicklung und die Nutzung hochseetauglicher Wasserfahrzeuge sehr früh, spätestens jedoch ab dem Ende der Altsteinzeit begann. Neue Experimente zu etwas jüngeren Felsbildformationen aus Oberägypten und Spanien belegen, dass die Schöpfer jener Kunstwerke über ein höheres nautisches Wissen verfügt haben müssen, als man es diesen frühgeschichtlichen Völkern immer noch zutraut. Dieser Beitrag fasst die Ergebnisse älterer und neuer Segelexperimente vor der Küste Nordwest-Sardiniens zusammen.
Sardinien und die Erforschung der prähistorischen Seefahrt
17 Jahre nach ihrer ersten großen Expedition kehrte die ABORA-Projektgruppe im Oktober 2016 nach Sardinien zurück, also dorthin, wo ihre experimental-archäologische Feldforschung damals ihren Anfang genommen hat. [1] Dass wir gerade dort mit dem Experimentalfloß DILMUN S (Abb. 2) weiter an der urtümlichen Schilfboot-Segeltechnik forschen wollten, kam nicht von ungefähr: Die Kulturgeschichte Sardiniens reicht weit in prähistorische Zeiten zurück, und die westlich von Italien gelegene, zweitgrößte Insel des Mittelmeers lässt sich sowohl mit den Kernzentren der ältesten Hochkulturen im Osten als auch mit den entlegenen westlichen Außenposten altweltlicher Kultur auf den Kanarischen Inseln und den Azoren in Verbindung bringen. So besitzt Sardinien zum Beispiel eine der größten und schönsten Stufenpyramiden [2] des gesamten Mittelmeerraumes, welche demonstriert, dass die Sarden seit undenkbar langer Zeit Kulturkontakte über das Meer hinweg pflegten. Und last but not least: Was Europa betrifft, werden Schilfboote heute nur noch auf Sardinien gebaut!
Als der Autor im Jahr 1999 das erste Mal mit einer großen ABORA Segel setzte, wollte er eigentlich eine Seereise bis zu den fernen Kanarischen Inseln antreten. Finanzielle Schwierigkeiten, aber auch technische Probleme - vor allem eine zu mittige Mastposition - ließen das Team lediglich bis zur italienischen Hafenstadt Piombino gelangen. Bereits die ABORA I wurde 1999 nach dem Vorbild prädynastischer Felsbilder Oberägyptens aufgetakelt. Die ersten nautischen Erfahrungen zeigten unserem Team jedoch, dass man ohne die Fähigkeit, wenigstens leicht gegen die typischen drehenden Winde im Mittelmeer aufzukreuzen, zu viel Zeit verliert, um in annehmbarer Zeit genug Strecke zurückzulegen. Die Segelergebnisse erforderten eine noch tiefer gehende Beschäftigung mit der Segelphysik und Hydrodynamik vorzeitlicher Papyrusflöße.
ABORA II & III schreiben Seefahrtsgeschichte
Im Jahr 2002 waren diese Hausaufgaben erledigt, und wir setzten erneut Segel zur zweiten großen ABORA-Expedition. In der Vorbereitungs-Phase hatte man an der FH Kiel in Strömungsversuchen alle möglichen Mast-Positionen nach Felsbildvorlagen (Abb. 2) getestet und experimentell nachgewiesen, dass ein Nachbau nur dann funktionstüchtig ist, wenn man sich exakt an die Felsbildvorlagen hält. Nachträgliche Veränderungen, wie im Falle von ABORA I, führten deshalb zu einer maßgeblichen Verschlechterung der Segeleigenschaften. Deshalb schaffte die neue ABORA II nun Kurse, die selbst der Expeditionsleiter nicht für möglich hielt. Die folgende Expedition führte von Alexandria über Beirut nach Zypern. Auf der Rückfahrt von Limassol nach Alexandria erreichten wir mit etwas Strömungsunterstützung aus Nordwesten Kurse bis 68° am wahren Wind. Diese Kurse belegen, dass man mit einem nach jungsteinzeitlichen Felsbildern gebauten Segler sogar aufkreuzen kann. Das stellten alle Seefahrtshistoriker bis dato in Frage!
Fünf Jahre später nahm die ABORA III erstmals von New York Kurs nach Europa auf (Abb. 3), um den Atlantik in Gegenrichtung über die schwierige Nordroute entlang des Golfstroms zu überqueren. Hier sind es nicht nur die Winde, sondern vor allem die mäandernden Wasserwirbel des Golfstroms, welche Seefahrtshistoriker und Archäologen einhellig annehmen ließen, dass dieser schwierige Navigationsweg keinesfalls mit einem primitiven Rahsegler der Vorzeit zu überqueren war.
Leider führten finanzielle Schwierigkeiten zu zahlreichen Kompromissen bei der Projekt-Umsetzung. Insbesondere der Schiffstransport vom Bauplatz am Titicacasee in Bolivien zum Yachtclub nahe der Freiheitsstatue schadete dem fragilen Schilfrumpf mehr als jede Ozeanwelle. Außerdem traten im Jahr 2007 ungewöhnlich viele und heftige Sommerstürme auf, welche die Crew zwangen nur 500 Seemeilen vor den Azoren das Schilfboot aufzugeben. Auch, wenn die ABORA III ihr geographisches Ziel nicht erreichte, hatte sie sich auf der mehr als 4.400 km langen Fahrt drei Mal aus großen Wasserwirbeln aus eigener Kraft befreit und damit demonstriert, dass solche Seereisen zumindest im Grundsatz möglich waren. Immerhin überstand die ABORA III 13 Stürme mit bis zu 51 Knoten Windgeschwindigkeit. Zu den besonders wertvollen Ergebnissen der Expedition von 2007 gehören die Resultate unserer Driftstudien mit Samen und Früchten ausgewählter Kulturpflanzen, welche die Problematik transozeanischer, vorkolumbischer Entdeckerreisen in einem gänzlich neuen Licht beleuchten. Diese Ergebnisse belegen, dass bestimmte Ausbreitungsareale der betreffenden Pflanzen nur durch Aktivitäten früher Seefahrer entstanden sein können. [3]
DILMUN S – eine seetüchtige Funktionsreplik
Um eine künftige ABORA IV-Mission noch professioneller vorzubereiten, braucht es nicht nur ein funktionstüchtiges Schiff, sondern auch eine gut ausgebildete Crew. Und genau aus diesem Grund baute das ABORA-Team aus Holz, viel Polystyrol sowie jeder Menge Seilen und Schilf eine sechs Meter lange Funktionsreplik (Abb. 4), um Anwärter für künftige Expeditionen noch besser im Umgang mit derartigen Booten schulen zu können. Die Zeit der unmittelbaren Expeditions-Vorbereitung hatte sich zuvor stets als zu kurz erwiesen. Zudem gibt es leider weltweit keine Segelschule, in der man den Umgang mit vorzeitlicher Seitenschwert-Segeltechnik erlernen und anwenden könnte.
Die 2014 fertigstellte Replik wurde im Oktober 2016 nach Sardinien transportiert und von 35 Mitgliedern des ABORA-Vereins in verschiedenen Experimenten erprobt. Viele Neulinge erhielten mit diesem Floß eine Einweisung in Theorie und Praxis, um ihre neuen Kenntnisse künfig bei unseren Segel-Events fachmännisch einsetzen zu können. Zum Paxis-Bereich dieses Trainings in der Bucht von Alghero gehörte z.B. das Einüben der wichtigen Wendemanöver, aber auch das An- und Ablegen an Stränden - ein Manöver, dessen perfekte Ausführung bei zukünftigen ABORA-Expeditionen im Bereich des Küstensegelns von besonderer Wichtigkeit sein wird, um bei solchen Gelegenheiten Beschädigungen des Bootes zu vermeiden.
Die Experimente mit der DILMUN S belegen aufs Neue, welches große navigatorische Wissen die frühen Mittelmeerkulturen einst besessen haben müssen. Besonders, wenn es in der Archäologie an echten Begleitfunden mangelt, spielt das archäologische Experiment eine immer größere Rolle, um den Raum der Spekulation einzuschränken. Die gemachten Erfahrungen mit diesem Boot bestärken das Team, sich weiter zu engagieren - z.B. bei der Suche nach Sponsoren -, um die letzten Rätsel der Seefahrtsgeschichte lösen zu können. Und eines ist sicher: Kosmopolitismus und Internationalismus sind keine Erfindungen der Neuzeit. Sie wurden bereits vor Jahrtausenden mit einfachen, aber durchaus seetüchtigen Wasserfahrzeugen praktiziert.
Anmerkungen und Quellen
Fußnoten:
- ↑ Siehe dazu bei Atlantisforschung.de auch: Gunter Lencer, "Segeltests in der Bucht von Alghero - Das ABORA-Projekt kehrt an seinen Ursprung zurück"; sowie extern: www.abora.eu, unter: "Sardinien 2016" (Video, 14:58 Min.)
- ↑ Red. Anmerkung: Zu dieser pyramidalen Anlage auf Sardinien, dem Monte d’Accoddi, siehe z.B.: Dominique Görlitz, "Schilfboot ABORA. Segeln gegen den Wind im Mittelmeer", DSV-Verlag, Hamburg 2000, 176 S., zahlr. Abb. und Fotos, ISBN 978-3-88412-329-4; sowie: Uta von Borries et al., "Terra X Planet der Pyramiden Wo lag Atlantis?", Weltbild-Verlag, 1999, S. 52 ff.; und: Hartwig Hausdorf, "Die Botschaft der Megalithen: Wer erbaute die steinernen Wunder?", Langen Mueller Herbig, 2016, Kap. 5, Jetset-Paradies mit Steinzeitflair - Feenhäuser, heilige Brunnen und sogar eine Pyramide, Abschnitt: Weithin sichtbar
- ↑ Siehe dazu: Dominique Görlitz, "Prähistorische Ausbreitungsmechanismen transatlantisch verbreiteter Kulturpflanzen" (Dissertation), Gotha, 2012, Hardcover (Format: 29,7 x 21,0 cm), 116 Seiten, reichhaltig illustratriert; ISBN 978-3-93918-246-7
Bild-Quelle:
- Abbildungen 1 bis 4: Bild-Archiv Dr. Dominique Görlitz