Das dritte Menschengeschlecht

von Ferdinand Speidel (2012)

Abb. 1 Karna (auch Vasusena genannt), der König von Anga, ist einer der 'Giganten' der indischen Mythologie. Er gehört zu den wichtigsten Charakteren im Hindu-Epos Mahābhārata.

In den weltweiten Überlieferungen ist es diese Art von Menschen, die am stärksten hervorgehoben wird. Dabei kommt eine große Bewunderung über deren Fähigkeiten und Leistungen zum Ausdruck. In der Gesamtsicht überwiegt aber die Abscheu vor ihren harschen Charakterzügen, sie werden durchweg als grausam, ungestüm und kriegslüstern geschildert.

Die Aussagen in den Schriften stimmen darin überein, dass diese Menschen von riesenhafter Gestalt waren. Die Natur hatte sie, wie wir über Karna (Abb. 1) erfahren, mit einem Panzer und mit Ohrringen ausgestattet, beides Attribute, die zur ihrer Unbesiegbarkeit beitrugen.

Bei den Griechen begegnen wir ihnen als den Giganten. Gaea, die Erde, hatte sie aus Zorn über das Schicksal der Titanen erschaffen. Sie sollten ihre Kinder an den olympischen Göttern rächen. Die Giganten waren von unübertroffener Körpergröße und von unbesiegbarer Kraft, sie boten einen schrecklichen Anblick mit dicken, von Kopf und Kinn hängenden Haaren, ihre Beine waren von Schuppen der Schlange bedeckt.

Gaea befahl diesen Wesen, die olympischen Götter von ihrem Thron zu stoßen. Die Giganten warfen Felsen und brennende Bäume zum Himmel und türmten die Berge aufeinander bis sie den Himmel erreichten. Die Olympier wussten, dass sie diese Macht nicht besiegen konnten, es konnte ihnen nur mit menschlicher Hilfe gelingen, die sie von Herakles und Dionysos erhielten.

Abb. 2 Eine antike Darstellung der Göttin Athene im Kampf mut einem Giganten

Als Gaea erfuhr, dass die Olympier mit Hilfe von Menschen ihre Söhne besiegen könnten, wollte sie Kräuter wachsen lassen, die die Giganten auch gegen diese Menschen schützten, aber Zeus verbot Sonne und Mond zu erscheinen. Die Kräuter konnten nicht wachsen, Gaea konnte ihren Söhnen keinen Schutz geben.

Nachdem Herakles den ältesten der Giganten, Alkyoneus, zu Fall gebracht hatte, musste er ihn aus seiner Heimat Pallene herauszerren, da er dort sonst wieder zum Leben gekommen wäre. Athene kämpfte mit Enkelados, sie warf die Insel Sizilien auf den Flüchtenden und tötete ihn. Als sie auch Pallas besiegt hatte, schnitt sie ihm die Haut vom Leib und legte sie sich zum Schutz um den eigenen Körper. Der Gigant Polybotes floh vor Poseidon und kam nach Kos, dort brach Poseidon ein Stück der Insel, Nisyros, ab und warf es auf ihn.

Bei Ovid ist es Zeus selbst, der die aufgetürmten Berge mit seinem Donnerkeil zerschlägt, die Giganten werden unter den herabstürzenden Bergen begraben und verlieren ihr Leben. Aus dem Blut ihrer Söhne lässt Gaea jedoch neue Menschenwesen entstehen.

Diese Unbesiegbarkeit ist ein immer wiederkehrendes Motiv, dem wir im Zusammenhang mit der dritten Menschenart begegnen. Im Ramayana ist es Rama, der Mensch gewordene Vishnu, der im Auftrag der Götter die Rakshasas vernichtet, da sie selbst dazu nicht im Stande waren.

Auch im Ramayana spielen Kräuter eine Rolle. Allerdings werden dort Rama und Lakshman zweimal durch Ravanas Sohn Indrajit leblos zu Boden gebracht. Beide Male ist es der Bär Jambavan, der den Affen Hanuman nach Norden schickt und ihn von dort heilende Kräuter holen lässt, welche die beiden Helden wieder beleben.

Schließlich trifft die Rakshasas von Ravana im Kampf mit Rama und dem Heer der Vanaren das Schicksal. Als Rama Ravanas jüngsten Bruder Kumbhakarna mit seinen Pfeilen zerteilt, fallen dessen einzelne Glieder, Arme, Beine, Rumpf und Kopf, ins Meer, versinken dort zum Teil und stoßen Rauchwolken aus.

Abb. 3 Atikaya, einer der Söhne Ravanas. Auch er wird in den altindischen Mythen als gewalttätig und kriegerisch dargestellt.

Diese Ereignisse lassen den Schluss zu, dass das Ende der dritten Menschenart von heftigen Erdbewegungen verursacht wurde, bei denen sich die Erdoberfläche veränderte und damit den Lebensraum dieser Menschen vernichtete. Neben ihrer Körperkraft und ihrer Unbesiegbarkeit finden wir bei diesen Rakshasas, Giganten oder wie immer wir sie nennen wollen, eine Eigenschaft, die möglicherweise bei ihren Vorgängern noch nicht vorhanden war: der Verzehr von Fleisch.

Hesiod beschreibt diese Tatsache noch recht zurückhaltend, indem er sagt, dass sie keine Feldfrüchte oder Früchte des Halmes aßen, demnach also Fleischesser waren. Ganz anders ist die Aussage des Ramayana, dort erfahren wir von vielen Fällen des Kannibalismus, der von den Rakshasas praktiziert worden sein soll.

Das Ramayana selbst gibt zu dem Ursprung aber auch andere mögliche Erklärungen, vielleicht ist die Bedeutung einfach die, wie sie ja auch bei Hesiod zum Ausdruck kommt, dass diese Menschen die ersten waren, die sich von Fleisch nährten.

Ein weiterer wesentlicher Punkt ist das hermaphroditische Wesen in dem alle Überlieferungen übereinstimmen. Diese Eigenschaft macht sie noch, wie die Griechen es nennen, zu „Erdgeborenen“. Erinnern wir uns an Platons Aussage im „Gastmahl“ über die Fortpflanzung der Zwitterwesen, die der von Zikaden entsprach, die ihre Eier in den Boden legen, aus denen dann der Nachwuchs entspringt. Zur gleichen Zeit stellen sie auch den Übergang zu Menschenwesen dar, die sich im Mutterleib entwickeln.

Abb. 4 Der Held Arjuna und Krishnas Schwester Subhadra

In allen behandelten Mythen erscheint als Grund für die Vernichtung der dritten Menschenart ihre herrische, hochmütige Haltung, ihr unbeugsames Wesen, das sie in vielfacher Weise die ihr vorgegebenen Gesetze (der Natur) übertreten lässt. Sowohl in den griechischen Sagen als auch bei den Hopis und den Navajos wird explizit die frevlerische Nutzung ihrer schöpferischen Kraft und auch der Kraft ihrer Fortpflanzung genannt.

Den Punkt der Zeugungsart berührten wir bereits im Mahabharata, als dort über das von Arjuna selbst gewählte Asyl gesprochen wurde. Arjuna ist als Gegenspieler Karnas der „göttliche“ Widersacher des dritten Geschlechts. Durch seine Vermählung mit Draupadi, die auch die Gattin seiner Brüder ist, hat er eine Verbindung zum weiblichen Prinzip.

Während seines Asyls trifft er zuerst auf Ulupi, die Tochter des Naga-Königs, und zeugt mit ihr einen Sohn, eher noch gegen seinen Willen. Seine zweite Begegnung hat er mit Chitrangada, ebenfalls einer Königstochter, deren Beschreibung sie als ein hermaphroditisches Wesen erscheinen lässt. Auch mit ihr zeugt Arjuna einen Sohn. Am Hofe seines Freundes Krishna lernt Arjuna dessen Schwester Subhadra kennen. Krishna ist eine Menschwerdung Vishnus zum Ende des vergangenen Dwapara Yuga, seiner Schwester Subhadra kann man demnach unterstellen, dass sie, wie Krishna, einen Menschen aus dem vierten Geschlecht darstellt.

Mit Subhadra (Abb. 4) hat Arjuna ebenfalls einen Sohn, Abhimanyu, der in dem großen Krieg sein Leben verliert. Seine Frau Uttara empfing von ihm jedoch noch einen Sohn, Parikshit, der nach dem Krieg und mit dem Beginn des Kali Yuga von den Pandavas die Herrschaft übernahm. Dieser Parikshit ist demnach der erste Vertreter unserer heutigen Menschheit.

Abb. 5 Der Göttervater Zeus verführt Leda, die Tochter des ätolischen Königs Thestios, in Gestalt eines Schwans. Gemälde von Antonio da Corregio, ca. 1532

Karna, im Mahabharata der erste Sohn Prithas oder Kuntis, gezeugt vom Gott der Sonne, Surya, gibt uns einige weitere Hinweise, die noch etwas mehr zu diesen rätselhaften Wesen aussagen. Als Karna zum Beginn des Mahabharata zum ersten Mal erwähnt wird, heißt es: „Er war voller Energie, jeden Tag pflegte er von Sonnenaufgang bis Mittag die Sonne zu verehren bis sein Rücken von ihren Strahlen gewärmt war. Während der Dauer dieser Verehrung gab es nichts auf Erden, was der heroische und kluge Vasusena einem Brahmanen nicht gegeben hätte.

Kurz vor dem Ausbruch des Krieges macht Krishna einen Vermittlungsversuch und spricht auch Karna an, um ihn zu überreden, sich den Pandavas anzuschließen. Karna lehnt ab, da versucht Kunti, ihn zu überreden und ihm gar als Mutter zu befehlen, die Seiten zu wechseln. Seine Antwort darauf ist:

Wie kannst du erwarten, dass der Gehorsam meine höchste Pflicht gegenüber deinen Befehlen ist? Du hast mich ausgesetzt, sobald ich geboren war. Diese Verletzung meiner selbst, die auch mein Leben gefährdete, schränkte auch meine möglichen Errungenschaften und Ruhm ein. Wenn ich wirklich ein Kshatrya bin, wurde ich durch dich um die Riten des Kshatryas gebracht. Welcher Feind hätte mir eine größere Verletzung zugefügt? Du hattest kein Erbarmen, als du es mir hättest zeigen können.

Abb. 6 Abbildung eines der beiden 'Stachelschweinmenschen' aus der englischen Familie Lambert. (Wilhelm Gottlieb Tilesius von Tilenau, 1802)

In beiden Fällen versteckt sich hinter den Aussagen ein Hinweis auf die Herkunft Karnas. Er ist nicht im Mutterleib herangewachsen, sondern wurde von seiner Mutter ausgesetzt, so wie es bei den eierlegenden Tieren der Fall ist, die damit auch der Gefahr ausgeliefert sind, noch vor dem Schlüpfen oder im frühen Kindesalter getötet zu werden.

Zu der Geburt aus dem Ei gibt uns auch die griechische Sage ein Beispiel. Nach der bekanntesten Version der Sage von Zeus und der Verführung Ledas erscheint er ihr in der Form eines Schwans (Abb. 5), sie schenkt ihm Helena als Tochter. Eine andere Version nennt Nemesis als Mutter Helenas. Um den Nachstellungen von Zeus zu entgehen, nimmt sie verschiedene Formen von Tieren an. Als sie sich in einen Schwan verwandelt, nähert sich Zeus ihr ebenfalls als Schwan. Nemesis bringt ein Ei zur Welt, aus dem Helena schlüpft.

Auch Karnas „Sonnenbaden“ zur Regulierung der Körpertemperatur weist auf ein reptilienähnliches Wesen hin. Wir erinnern uns auch an Karnas Zusammentreffen mit Indra, bei dem er seinen Panzer vom Leib schnitt und ihn Indra gab und sich dadurch seines Schutzes beraubte.

Etwas Ähnliches geschieht in den griechischen Mythen als Athene ihrem Gegner Pallas die Haut abzieht, um sie als Schutz für sich selbst zu verwenden. Pallas und die anderen Giganten sind, wie uns die griechische Sage übermittelt, von einer Schuppenhaut bedeckt. Zu dieser Schuppenhaut findet sich auch in der Neuzeit ein Hinweis, der in diesem Zusammenhang recht interessant erscheint.

Der deutsche Gelehrte Ernst Haeckel, der in Deutschland Darwins Abstammungslehre bekannt machte, schrieb das Buch „Natürliche Schöpfungs-Geschichte“. In diesem Buch berichtet er in einem Kapitel über Vererbung und Fortpflanzung über die Vererbungskraft in der Bildung und Färbung der menschlichen Haut und Haare. Darin erwähnt er den Fall einer Familie, die eine absonderliche Hautform hatte:

Besonders berühmt geworden sind die Stachelschweinmenschen aus der Familie Lambert, welche im 18. Jahrhundert in London lebte. Edward Lambert, der 1717 geboren wurde, zeichnete sich durch eine ganz ungewöhnliche und monströse Bildung der Haut aus. (Abb. 6) Der ganze Körper war mit einer zolldicken hornartigen Kruste bedeckt, welche sich in Form zahlreicher stachelförmiger und schuppenförmiger Fortsätze bis über einen Zoll lang erhob. Diese monströse Bildung der Oberhaut oder Epidermis vererbte Lambert auf seine Söhne und Enkel, aber nicht auf Enkelinnen. Die Übertragung blieb also hier in der männlichen Linie, wie es auch sonst oft der Fall ist …“


Anmerungen und Quellen

Speidel - Cover II.jpg
Dieser Beitrag von Ferdinand Speidel (©) wurde seinem Buch "SCHÖPFUNG ST EVOLUTION (Die Enträtselung des Mythos II)", Re Di Roma Verlag, 2012, entnommen. Bei Atlantisforschung.de erscheint er mit freundlicher Genehmigung des Verfassers im Sept. 2016 in einer redaktionell bearbeiteten und illustrierten Online-Version als Leseprobe.

Bild-Quellen:

1) Sreejithk2000 bei Wikimedia Commons, unter: File:Karna in Kurukshetra.jpg
2) Marie-Lan Nguyen (Jastrow) bei Wikimedia Commons, unter: File:Athena Gigantomachy MAR Palermo NI2026.jpg
3) Sridhar1000 bei Wikimedia Commons, unter: File:Atikaya, a son of Ravana.jpg
4) Redtigerxyz bei Wikimedia Commons, unter: File:Ravi Varma-Arjuna and Subhadra.jpg
5) DcoetzeeBot bei Wikimedia Commons, unter: File:Correggio - Leda and the Swan - Google Art Project.jpg
x) Filip em bei Wikimedia Commons, unter: File:Tilesius.jpg