Über die Bedeutung: "Atlantis" (Teil III)

von Leo Frobenius (1911)

Abb. 1 Originale Unterschrift des Bildes: Aus eurafrikanischer Kulturvergangenheit; Dolmen auf dem Tafelberg bei Kulikorro am Niger. Gezeichnet nach photogr. Aufnahme von L. Frobenius.

Es gab eine Zeit- und Kulturperiode, wo die Menschen gewaltige Felsmassen auftürmten oder aneinanderreihten. Dolmen (Abb. 1) und Steinkreise fanden ihre Verbeitung am Westrande Europas von Norwegen her über England, Westdeutschland, Frankreich bis nach Afrika. Ich fand ihre Ausläufer in den Nigerländern und sogar in schöner Erhaltung noch im westafrikanischen Urwaldstreifen Liberias (Abb. 2). Man prägte seinerzeit das Wort "Eurasien" und sprach von eurasischer Kultur als Zusammenfassung von europäischen und asiatischen Eigenarten und Äußerungsformen. Europa ward hierbei als Halbinsel Asiens aufgefaßt und ist oftmals in seiner kulturgeschichtlichen Abhängigkeit von diesem Mutterboden aller jüngeren Kultur behandelt worden.

Im Gegensatz hierzu will ich fortan den Kulturboden "EURAFRIKA", das eurafrikanische Gebiet stellen, dessen Früchte nicht unbedingt von asiatischen Feldern zu stammen brauchen, das vielmehr eine solche Fülle eigener Zuchtergebnisse hervorgebracht hat, und, nachdem es lange Zeit unter asiatischem Übergewicht gestanden hat, jetzt wieder hervorzubringen bereit scheint, daß man sehr wohl die Frage aufwerfen kann, ob der Erdball nicht ein Hin- und Herschwanken der Kräfte erlebt haben mag. Muß zu allen Zeiten alles Kulturheil von Osten nach Westen gewirkt haben? Oder haben die Zeiten solchen Druckes mit Perioden abgewechselt, in denen die Wucht aufstrebenden Wachstums die Bahn in entgegengesetzter Richtung belebte? Hier stehen Probleme vor den Pforten der Überlieferung und Betrachtungsweise, die mit Gewalt Eintritt fordern und vielleicht manchem alten Dogma an den Lebensnerv rühren.

Abb. 2 Abbildung eines Steinkreises, den Leo Frobenius im
Norden Liberias entdeckte (Zeichnung von Fritz Nansen).

Eins ist jedenfalls auffallend. Sowohl Solon als vor allen anderen Diodor künden von einem gewaltigen Ringen zwischen der atlantischen Westkultur und der athenischen Ostkultur. Amazonenheere [1] strömten von West nach Ost siegreich weiter und weiter, bis sie im Osten sich auflösten. Und die Ahnen aller hohen Götterschaft sollen im Anbeginn im westlichen Nordafrika heimisch gewesen sein. Das aber erinnert uns daran, daß auch der kundige Herodot mit allen seinen Zeitgenossen darin übereinstimmt, daß die Inlandstämme Nordafrikas die frömmsten aller Menschen gewesen seien. Solches sind zwingende Hinweise.

Abb. 3 Der Tumulus von El Ualedji in Faraka, dem fruchtbaren Land zwischen Oberniger und Bani.

Inwieweit die Nordafrikaner mit den Nordwest- und Westeuropäern zusammengehangen haben können, das vermochte kein alter Grieche zu bedenken, denn solche Frage lag außerhalb seines Geichtsfeldes. Daß er aber der Südgruppe eurafrikanischer Bevölkerung und Kultur solch hohe Stellung, so wichtigen Vortritt in der Vorhalle des Tempels einräumte, sagt unendlich viel.

Dies sind einige der Gedanken, Überlegungen und Ergebnisse, die mich im Jahr 1907 auf den Weg nach Atlantis drängten. Der Leser muß sie kennen, und ich bitte, sie sich einzuprägen, damit sie in seinem Unterbewußtsein in ihrer eminenten Bedeutung lebendig bleiben, wenn das lesende Auge den bunten Karnevaltanz modernen Sudanlebens an sich vorbeiziehen läßt. Die Masse der kleinlichen Mitteilungen und Schilderungen des "Heute" möge ihn die größere Vergangenheit und kulturgeschichtliche Höhe nicht vergessen lassen, die mir, dem Forscher selbst, immer den Hintergrund des Gemäldes bildeten. Wenn der Bardensang an das Ohr schlägt, wenn die Bundesgottheit den Nachtreigen tanzt, wenn die Könige sprechen und die Palastbauten auftauchen, die heute Moscheen sind, dann mag es ja unschwer sein, vergangener Herrlichkeit zu denken. Aber auch im kleinlichsten Tageswerke [...] blieb mir mein Ziel vor Augen, die Suche nach dem größeren Atlantis, nach der Wiege der Götter, nach der Erbschaft aus vorklassischer Herrlichkeit.



Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag ist eine Transkription des 1. Kapitels ("Über die Bedeutung: >Atlantis<", S. 1-14) aus dem Buch "Auf dem Wege nach Atlantis - Bericht über den Verlauf der zweiten Reise-Periode der D.i.a.f.e. in den Jahren 1908 bis 1910" von Leo Frobenius; erschienen 1911 in Berlin (Vita Deutsches Verlagshaus); nach der digitalisierten Fassung bei Archive.org

Fußnote:

  1. Red. Anmerkung: Zu diesen Kriegerinnen siehe bei Atlantisforschung.de auch: "Amazonen" (Definition nach Brockhaus, 1837), sowie: "Kleinasiatische und andere Amazonen des Ostens (bb); und: "Die nordafrikanischen Amazonen und die Atlantioi" (Diodorus Siculus)

Bild-Quellen:

1) Leo Frobenius, op. cit. (1911), S. 1
2) ebd., S. 4b
3) ebd., S. 184b