Diffusionismus gestern und heute

Eine kleine Geschichte des Diffusionismus, Teil I


Ein Überblick zum Einstieg in die Materie

(bb) Der Diffusionismus im engeren Sinn der Bezeichnung [1] entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts als sozialwissenschaftliche Theorie zur Erklärung kultureller Entwicklung und der Ähnlichkeit weit voneinander entfernter Kulturen. Grundlegend war dabei die Annahme, dass kulturelle Innovationen nur selten erfunden werden und sich dann zu anderen Kulturen ausbreiten und somit Gleichheit und Ähnlichkeit auf Kulturkontakt zurückgeführt werden kann. [2] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich, weitgehend unabhängig voneinander, mehrere Schulen oder Richtungen des Diffusionismus, z.B. die 'Wiener Schule' (mit dem Modell der 'Kulturkreislehre') und die 'British school', die einen heliozentrischen Diffusionismus propagierte.

Abb. 1 Eine Skizze des Modells weltweiter, von Ägypten ausstrahlender, kultureller Diffusion (nach Grafton Elliot Smith) als plakatives Beispiel für den 'heliozentrischen' Diffusionismus im frühen 20. Jahrhundert (für eine vergrößerte Ansicht bitte das Bild anklicken!)

Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Diffusionismus, dessen damals wesentliche Schulen, Modelle oder Hauptströmungen entweder auf unhaltbaren Prämissen beruhten, wie z.B. der 'Heliozentrische Diffusionismus', und/oder sich als weitgehend unfähig zur Weiterentwicklung erwiesen ('Kulturkreislehre'), nach und nach aus dem fachwissenschaftlichen Diskurs verdrängt. In der akademischen 'Diaspora' entwickelte er sich, weitgehend ohne neue (komplexe) Theorien-Gerüste auszuzubilden, in Form einer fundamentalen, transdisziplinären Oppositionsbewegung zu den in Fächern wie Anthropologie bzw. Ethnologie, Ur- und Frühgeschichtsforschung sowie Klassische Altertumswissenschaft, Archäologie und insbesondere in der Patchwork-Disziplin Altamerikanistik vorherrschenden Lehrmeinungen zur Kultur- und Zivilisationsgeschichte der Menschheit.

Heute stellt er - abseits des wissenschaftlichen Mainstreams - ein polydisziplinär basiertes [3] Modell der Ur-, Früh- und Zivilisationsgschichtsforschung dar, dessen Anhänger sich mit zu vermutenden, großräumigen - kontinentalen und interkontinentalen - Kontakten und Übertragungen (Transfusionen und Infusionen) von Kulturelementen bzw. mit der Beweisführung befassen, dass solche Übertragungen tatsächlich erfolgt sind. Die Verfechter dieser Annahme gehen davon aus, daß es - zumindest teilweise - möglich ist, die Herkunft bzw. die Wege zu rekonstruieren, auf denen die betreffenden Kulturelemente sich großräumig verbreitet haben. [4] Ähnlich wie ihre frühen Vorgänger setzten auch viele heutige Diffusionisten voraus, dass kulturelle Entwicklung, hin zu 'Hochkultur' und 'Zivilisation', nicht zwangsläufig - wie im Evolutionismus vorausgesetzt -, sondern als Ergbnis von Interaktion (von Angehörigen) unterschiedlicher Gesellschaften erfolgt. [5]

Während der Diffusionismus in seinen Urprungs-Disziplinen (Anthropologie bzw. Ethnologie, Archäologie und Kulturgeographie) eine nach wie vor geringe Akzeptanz genießt – und bisweilen geradezu tabuisiert wird [6] –, hat sich die Beschäftigung mit kulturellen Diffusionsprozessen, insbesondere mit der Verbreitung von Innovationen [7], in angrenzenden Fachwissenschaften zu einem ganz selbstverständlichen Gegenstand der Forschung entwickelt.

Zu diesen Disziplinen gehören u.a. die Agrarsoziologie, die Wirtschaftsgeographie, Geschichtswissenschaft, Erziehungswissenschaft und Politikwissenschaft. [8] Abgesehen von der Geschichtswissenschaft schließt die Forschung in besagten Disziplinen die Betrachtung von Gesellschaften unter dem Gesichtspunkt ein, wie sie dahingehend beeinflusst werden können, Neuerungen vorzunehmen, sowie die Vorhersage der Resultate solcher Innovationen. [9]


Fortsetzung: Vorläufer des Diffusionismus (bb)


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Anmerkung: Zu Ideengeschichte und Vorformen siehe: "Vorläufer des Diffusionismus" (bb)
  2. Siehe: Fritz Stolz, "Grundzüge der Religionswissenschaft", 2001 (Erstveröffentl.: Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1988), ISBN 3-8252-1980-1, S.197f
  3. Quelle: Horst Friedrich, "CULTURAL DIFFUSION: AN INTERDISCIPLINARY, MULTIFACETED PROBLEM" im MIDWESTERN EPIGRAPHIC NEWSLETTER, REPORTS OF THE MIDWESTERN EPIGRAPHIC SOCIETY - A CHAPTER OF THE EPIGRAPHIC SOCIETY, 11-8-05/V. 22, No. 4" --- sowie: Ders., "WITHOUT THE GENERALIST, WE WILL NEVER BE ABLE TO FIND OUT THE TRUTH ABOUT WORLDWIDE CULTURAL DIFFUSION", 2011 (Volltext als PDF-Datei, 180,13 KB; (abgerufen: 20.06.2013), bei: Migration & Diffusion
  4. Siehe z.B.: Bruno Wolters (Düsseldorfer Institut für amerikanische Völkerkunde), "From northeast Asia to Terra del Fuego - History and spreading routes of native American steam baths and other baths therapies, in: Migration & iffusion, Vol 6, No. 21, 2005 (Vollversion als PDF-Datei, 1,13 MB; abgerufen: 23.06.2013)
  5. Quelle: Horst Friedrich, "A diffusionist view on the genesis of civilizations", 2008 (Volltext als PDF-Datei, 643.28 KB; abgerufen: 07.02.2014), bei: Migration & Diffusion
  6. Quelle: o.A., Cultural Diffusion - Resolution, bei: Science Encyclopedia (abgerufen: 06.06.2013)
  7. Quelle: Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 4th Edition, Simon and Schuster, 06.07.2010 (Orig.: Free Press of Glencoe, 1962); Rogers geht davon aus, dass die Entscheidung zur Übernahme von Innovationen nicht primär von ihrer Bekanntheit, sondern vor allem von interpersonaler Kommunikation abhängt. Allein durch Information kann die Innovation eine Kulturschwelle nicht überspringen.
  8. Quelle: Peter J. Hugill, Diffusion, in: Encyclopedia of Cultural Anthropology, David Levinson und Melvin Ember (Hrsg.), New York (Henry Holt and Company), 1996, S.343
  9. Quelle: Michael Goldstein, Gail King und Meghan Wright, Diffusionism and Acculturation, The University of Alabama, Department of Anthropology (abgerufen: 07.02.2014). Siehe dazu bei Wikipedia auch -> Diffusionstheorie sowie -> Diffusion [Politikwissenschaft)

Bild-Quelle:

1) Kcanterbury08 bei Wikimedia Commons, unter: File:Grafton Elliot Smith Cultural Diffusion Map from Egypt.jpg (Bildbearbeitung durch Atlantisforschung.de)