Diffusionismus und Atlantisforschung in der UdSSR
(bb) Wie wir gesehen haben, gab es in der UdSSR eine von euro-amerikani- schen Paradigmen weitgehend unabhängige Entwicklung innerhalb der uni- versitären Erdgeschichts-Forschung und Paläo-Biologie, die zu einer anderen Rezeption des Atlantis-Problems in der sowjetischen Scientific community als im Westen beitrug. Neben explizit atlantologischen Ansichten innerhalb der dortigen Geologen-'Szene' beförderte aber auch die unabhängige Ent- wicklung in anderen Fachwissenschaften das Entstehen einer nonkonform- istischen, wissenschaftlichen Atlantisforschung typisch sowjetischer Aus- prägung. Dies gilt vor allem auch für die Gebiete der Ethnologie sowie der Kultur- und Zivilisations-Geschichtsforschung.
Von entscheidedner Bedeutung war hier die Tatsache, dass der Diffusionis- mus als Erklärungsmodell für kulturelle und zivilisatorische Entwicklung in der Sowjetunion n i c h t - wie in den USA (vergl. dazu: Geschichte des Niedergangs der Diffusions- und Migrations-Theorien von Michael Arbuthnot) und in Westeuropa - in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch einen rigiden Isolationismus abgelöst wurde. Mit diesem Paradig- menwechsel war die klassische Atlantis-Theorie bzw. das von ihren Ver- fechtern propagierte Modell zur Zivilisations-Entwicklung im atlantischen Großraum (Abb. 1) auch aus Sicht konventioneller Kultur- und Zivilisati- onsgeschichtler im Westen "inakzeptabel" geworden.
Atlantik und Pazifik wurden an den Universitäten der "Freien Welt" nun endgültig als unüberwindliche Hin- dernisse für prähistorische oder frühgeschichtliche Reisen und Migrationen des Menschen betrachtet; augen- fällige Übereinstimmungen und Gemeinamkeiten zwischen den alten Kulturen östlich und westlich des At- lantik, mit denen Atlantologen seit Donnelly´s Zeiten für die vormalige Existenz einer gemeinsamen panat- lantischen 'Mutterkultur' argumentiert haben, wurden von westlichen Historikern jetzt durchgängig als "Pa- rallel-Entwicklungen" eingestuft, die völlig unabhängig voneinander erfolgt sein sollen (vergl. dazu auch: Ist der atlantologische Diffusionismus 'Schnee von gestern'? von Egerton Sykes).
Zum atlantologisch-diffusionistischen Alternativ-Modell einer atlantischen 'Mutterkultur' liefert Zhirov uns folgende allgemeine (und allgemeinverständliche) Darstellung: "Viele Atlantologen, die das Atlantis-Pro- blem vom historischen und ethnologischen Standpunkt aus betrachtet haben, waren geneigt, den Atlanti- ern ein hohes Level kultureller Entwicklung zuzubilligen und gelangten zu der Annahme, dass Atlantis der Quell einer Reihe der bekannten alten Zivilisationen gewesen sein könnte, ein Quell, aus dem Völker viel von ihrer Kultur, auch Pflanzen und sogar domestizierte Tiere, entlehnten. Mythen, die von der Ankunft von Göttern und Zivilisations-Bringern berichten, dienen als Begründung für diese Annahme." (+3)
Weitaus abgezirkelter hatte bereits 1917 der Zivilisations-Geschichtler V. Y. Bryusov (+4) die grundsätzlichen Vorstellungen des atlantologischen Diffusionismus in der UdSSR dargelegt: "Die Gemeinsamkeit der Ursprünge [orig.: "community of sources"; d. Ü.], die den unterschiedlichsten und ältesten Zivilisationen des 'frühen Altertums' [orig.: "of early antiquity"; d. Ü.] zugrunde liegen, wie der ägäischen, ägyptischen, babylonischen, etruskischen, japhetischen, früh-indischen, mayaischen und möglicherweise pazifischen Zivilisationen kann nicht zufriedenstellend durch reziproke Einflüsse und Imitation erklärt werden, indem ein Volk der Kultur eines anderen nacheifert. Alle alten Kulturen zugrunde legend, muss es einen singulären Einfluss gegeben haben, der allein die bemerkenswerte Analogie zwischen diesen Kulturen erklären kann.
Jenseits des Rahmens eines 'frühen Altertums' muss es eine unbekannte Quantität gegeben haben, eine kultivierte Welt, bislang unerkannt von der Wissenschaft, die den ersten Anstoß zur Entwicklung all jener Zivilisationen gab, die wir kennen. Die Ägypter, Babylonier, Ägäer und Hellenen waren unsere Lehrer, die Lehrmeister der modernen Zivilisation. Wer waren ihre Lehrer? Wem dürfen wir den hohen Titel 'Lehrer der Lehrer' verleihen? Die Überlieferung beantwortet diese Frage - Atlantis." (+5)
Auch die atlantologische Annahme, dass es bis zum Ende der Bronzezeit (um ca. 1250 vor d. Zeitenwende), ja bis in die Antike hinein, Kontakte und Verbindungen über den Atlantik hinweg gegeben habe, dürfte aus Sicht sowjetischer Zivilisations-Geschichtsforschung weit weniger abstrus erschienen sein als die im Westen - unter Federführung der Alt-Amerikanisten in den USA - kultivierte Vorstellung, die frühen Hochkulturen des amerikanischen Doppel-Kontinents seien in völliger Isolation voneinander und von den Menschen anderer Erdteile entstanden. Das nämlich war - aus Sicht sowjetischer Forscher - schlechterdings unmöglich, da isolierte Populationen nun einmal nicht zur Schaffung von Hochkultur und Zivilisation neigen, sondern eine unangenehme Tendenz zur Stagnation und sogar zur Regression aufweisen.
Diese Lehrmeinung vertrat beispielsweise bereits der sowjetischen Ethnologe P. P. Yefimenko, der 1938 in einer Abhandlung über "primitive" Gesellschaften ein plakatives Beispiel für kulturelle Stagnation durch Isolation lieferte: "Völlige Isolation von der Außenwelt ist die einzige Erklärung für das außerordentlich niedrige Niveau der Tasmanier vor ihrer Ausrottung durch die Engländer im frühen 19. Jahrhundert" (+6); auch Zhirov, der in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts forschte, bezog in der Sowjetunion seiner Zeit keine wissenschaftliche Außenseiter-Meinung, als er (1970) betonte: "Es muss festgehalten werden, dass Völker, die sich über Jahrtausende hinweg in Isolation (in Abwesenheit von Migration und Diffusion) und ohne Kontakt zu anderen, kultivierteren Völkern (+7) entwickelt haben, sehr langen Zeit in einem sehr niedrigen Niveau sozialer und kultureller Entwicklung verharrten". (+8)
Die Ur- und Frühgeschichte des präkolumbischen, karibo-amerikanischen Großraums deutet jedoch darauf hin, dass es dort immer wieder kulturelle Diffusionen zwischen 'amerinden' und non-amerinden Völkerschaften gegeben hat. Gerade Mittelamerika weist aus Sicht diffusionistischer Forscher geradezu den Charakter eines 'Schmelztiegels der Kulturen' auf. Dort scheinen im Verlauf der Jahrtausende zahlreiche Seefahrer aus Asien und dem pazifischen Raum sowie aus Afrika und Europa ihre Spuren hinterlassen zu haben. Weder die Zivilisation der alten Olmeken, noch die der späteren Maya-Nationen hätten in volkommener Isolation und ohne Infusionen bzw Transfusionen aus anderen Kulturkreisen aufblühen können.
In der UdSSR galt das Beringstraßen-Paradigma (vergl. dazu auch: Farewell) Hier bekamen die Atlantisforscher von der sowjetischen Paläo-Anthropologie, die auf Konfrontations-Kurs mit ihren US-amerikanischen Kollegen regelrechte 'Flanken-Deckung',
Fortsetzung:
F I/d - Klassische Atlantis-Hypothese, Beringstraßen- Paradigma und Anthroplogie in der UdSSR
Anmerkungen u. Quellen:
(+3) Quelle: N. Zhirov, "Atlantis - Atlantology: Basic Problems", Progress Publishers, Moskau, 1968, 1970, S. 16 [Reprint 2001] --- Red. Anmerkung: Diese Meinung lässt sich bei einer wissenschaftsgeschichten Betrachtung der Entwicklung von Diffusions- und Migrations-Theorien als Vorläufer heutiger diffusionistischer Vorstellungen zur kulturellen und zivilisatorischen Menschheits-Entwicklung verstehen (vergl. dazu die Beiträge in unserer Sektion "Stichwort: Diffusionismus").
(+4) Siehe: V. Y. Bryusov, "Uchiteli uchıteleı" ("Teachers of Teachers"), in: Letopıs, Nos. 9-12, 157 (Russland, 1917)
(+5) Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. 16
(+6) Quelle: P. P. Yefimenko, "Pervobytnoye obshchestvo" ("Primitive Society"), Leningrad, 1938, 2. ed., S. 301; nach: Zhirov, op. cit., S. 17
(+7) Anmerkung: Heute würden Diffusionisten an dieser Stelle vernutlich differenzierter formulieren: "... und ohne Kontakt zu Völkern mit stark differierenden Kulturen ..."; vergl. dazu auch den Beitrag: Der Diffusionismus - Zur Diskussion eines umstrittenen Konzepts (bb)
(+8) Quelle: N. Zhirov, op. cit., S. xxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Bild-Quellen:
(1) (2)