Atlantis auf den Azoren?
von unserem Gastautor Andrew Collins
[...] Eine andere mehr oder weniger plausible Lösung des Atlantis- Rätsels wäre, daß Platons Insel in der Nähe der atlantischen Inselgruppe gelegen hat, die heute als die Azoren bekannt ist. Da die Sargassosee westlich der Azoren liegt und diese Inseln bisweilen mit den Hesperiden gleichgesetzt worden sind, [1] argumentieren manche Atlantologen, die versunkene Landmasse müsse sich unter diesem Teil des Ozeans befinden.
Bevor wir weiter darauf eingehen, sollten wir die |Azoren genauer betrachten. Es handelt sich um eine Gruppe von neun Hauptinseln inmitten von Unterwassergebirgen, die bis zu 9000 Meter hoch sind. Diese Gebirgskette gehört zum Mittelatlantischen Rücken, der eine 17 600 Kilometer lange, ziemlich genau von Norden nach Süden verlaufende Trennlinie zwischen tektonischen Platten unter dem Ozean bildet. Die Hauptinseln der Azoren, auf denen wiederum sich über 2100 Meter hohe Berge erheben, sind nichts anderes als die höchsten Gipfel dieser unterseeischen Gebirge.
Einer der ersten Forscher, die den Gedanken äußerten, die Azoren könnten Überreste eines Atlantischen Kontinents darstellen, war Ignatius Donnelly, der Autor des bahnbrechenden Klassikers Atlantis - The Antediluvial World, der 1882 erschien. Seither sind Hunderte, wenn nicht Tausende von Büchern und Artikeln zu diesem Thema veröffentlicht worden. Donnellys Buch hat zahllose Neuauflagen erlebt und ist heute noch erhältlich, obwohl vieles von dem, was er über Atlantis als das vorsintflutliche Mutterland aller Zivilisationen auf beiden Seiten des Atlantiks zu sagen hatte, sich inzwischen als falsch erwiesen hat.
Seine ursprüngliche These allerdings, es habe einmal eine mittelatlantische Landmasse gegeben, ist von einigen angesehenen Kennern der Materie am Leben erhalten worden, vorrangig von dem russischen Akademiker Nikolai Zhirov, der in den 60er Jahren eine Reihe von Artikeln zu diesem Thema veröffentlichte. 1970 erschien dann sein Buch Atlantis - Atlantology: Basic Problems. Wie Donnelly argumentiert er darin, die frühere atlantische Landmasse, ein wirklicher Kontinent, liege in der Umgebung der Azoren und habe vor ihrem Verschwinden als Landbrücke zwischen Afrika und Amerika gedient. [2]
Christian O´Brien, ein Geologe, Archäologe und Geschichtsautor, und Barbara Joy O´Brien haben dieselbe Theorie in ihrem Buch The Shining Ones behandelt. Sie behaupten, die atlantische Landmasse sei im flüssigen Magma der Erde versunken und es seien nur die Azoren übrig geblieben [3] Als Beweis dafür führen sie die sechs Felder heißer Quellen um die Azoren an. Solche Quellen erscheinen, wenn kaltes Ozeanwasser durch Lava sickert und durch Hitze darunter wieder nach oben gedrückt wird. [4]
1971 fanden Christian und Barbara O´Brien vor der Insel São Miguel (Abb. 3), der größten der Azoreninseln, klare Hinweise auf ein mit Felsbrocken gefülltes Flussbett unter dem Meer. [5] Anhand ausgeklügelter hydrographischer Karten erkannten sie Flüsse, die einmal auf den Süd-hängen von São Miguel entsprungen und in einem gigantischen Tal, 64 Kilometer vor der heutigen Insel, zusammengeflossen sind. [6] Andere Inseln der Azorengruppe wiesen ähnliche hydrographische Unregelmäßigkeiten auf, und in einem Fall entdeckten die O´Briens gar eine Serie von Hunderte Kilometer langen Flußtälern, die sich in einem großen Strombassin treffen. [7]
Dank dieser antiken Flusssysteme konnten die O´Briens ein Landprofil rekonstruieren, das eine Azoren-Landmasse "etwa der Größe und der Form Spaniens" zeigte, mit Gebirgsketten 4000 Meter über dem Meeresspiegel und mächtigen Flüssen in "gewundenen Talsystemen": "Im Südosten erstreckte sich die von uns so genannte »Große Ebene« über eine Fläche von über 10 000 Quadratkilometern, durchzogen von einem Fluß etwa wie der Themse in England. Diese Ebene hat manches gemein mit der von Platon im Kritias als Teil der Insel Atlantis beschriebenen Landfläche." [8]
Es wird also der Schluss gezogen, die Azoren seien einmal Teil einer viel größeren Landmasse gewesen, die dann in den Fluten versank und nun »Tausende von Metern« unter dem Meeresspiegel liegt. [9] Um Genaueres herauszufinden, sollte man nach Meinung der O´Briens Bohrproben aus den von ihnen gekennzeichneten Flusskanälen entnehmen. Diese würden - da sind sie sicher - nicht nur beweisen, dass es sich tatsächlich um antike Flussbetten handelt, sondern auch Überreste von Süßwasserflora und -fauna, die einmal auf der Azoren-Landmasse gediehen sind, zum Vorschein bringen. [10]
Im Ganzen haben wir in dieser Theorie ein weiteres sehr reizvolles Modell eines versunkenen Atlantis vor uns, das zudem von einer örtlichen Legende gestützt wird, der zufolge sieben Städte in zwei vulkanischen Seen, der eine blau, der andere grün, versunken sein sollen [...]. [11] Doch es gibt leider auch fundamentale Probleme. Zum Beispiel wissen wir heute, dass die vulkanischen Berge, die den Mittelatlantischen Rücken bilden, relativ jung sind. In vielerlei Hinsicht kann man sie als klaffende geologische Wunden beschreiben, die nie ganz heilen werden. Der Nord-Süd-Riß zwischen den tektonischen Platten treibt einen Magmastrom nach oben, der ständig neue unterseeische Gebirgssysteme hervorbringt, jedoch niemals eine derartige Landmasse bilden kann.
Die Theorie der Kontinentalverschiebungen, die der deutsche Meteorologe Arthur Wegener [12] 1915 erstmals vorgeschlagen hat, ist inzwischen weitgehend anerkannt. In einfachen Worten besagt sie, dass Amerika und Afrika vor Millionen von Jahren eine einzige Landmasse waren und seitdem langsam, aber stetig auseinander treiben. Man braucht die Kontinente nur auszuschneiden und aneinanderzulegen, um zu erkennen, wie sauber sie zusammenpassen. Die Kontinentalverschiebung ist also Realität, und da die beiden Kontinente einmal zusammengehangen haben, brauchen wir auch keine antike Landbrücke zwischen ihnen, um Gemeinsamkeiten in Flora und Fauna auf beiden Seiten des Atlantik zu erklären.
Auf den Azoren selbst fanden die ersten portugiesischen Seefahrer, die die Inseln 1427 besuchten, nicht nur keine Menschenseele, sondern auch keinerlei pflanzliches Leben vor. Es gibt Hinweise darauf, dass im 3. vorchristlichen Jahrhundert karthagische Schiffe auf der Insel Corvo gelandet sein könnten [...] Darauf aber, dass die Inselgruppe einmal eine eingeborene Kultur beheimatet haben könnte, deutet nichts hin.
Meiner Meinung nach ist es also höchst unwahrscheinlich, dass Platons Atlantis auf der Erinnerung an eine Hochkultur auf einer Azoren-Landmasse beruht, die einmal existiert haben soll, selbst wenn sich die Befunde der O´Briens hinsichtlich prähistorischer Flussbetten vor den Gestaden São Miguels bestätigen sollten.
Anmerkungen und Quellen
Dieser Beitrag von Andrew Collins © wurde seinem Buch Neue Beweise für Atlantis entnommen (1. Teil, unter: "Auf den Azoren"), das 2001 im Scherz Verlag (Bern, München, Wien) in der Übersetzung von Bernd Seligmann erschienen ist. Die Orginalausgabe erschien unter dem Titel "Gateway to Atlantis" bei Headline Publishing, London. Bei Atlantisforschung.de erscheint er mit freundlicher Genehmigung des Autors in einer unwesentlich gekürzten, redaktionell bearbeiteten Fassung.
Fußnoten:
- ↑ siehe z.B.: Ashe, S. 139
- ↑ Quelle: N. Zhirov, "Atlantis - Atlantology: Basic Problems", S. 179-85
- ↑ Quelle: O´Brien & O´Brien, "The Shining Ones", Dianthus Publishing, Kemble, Cirencester, Glos., 1997 S. 438-41
- ↑ Quelle: ebd., S. 436-8
- ↑ Quelle: ebd., S. 439
- ↑ Quelle: ebd.
- ↑ Quelle: ebd., S. 441
- ↑ Quelle: ebd.
- ↑ Quelle: ebd.
- ↑ Anmerkung d. A.: Nach persönlichen Gesprächen mit Edmund Marriage, einem Neffen von Christian und Joy O´Brien im Mai 1998
- ↑ Quelle: William Henry Babcock, S. 78, nach A.S. Brown, "Guide to Madeira ant the Canary Islands (with notes on the Azores)", 5. Aufl. London, 1898, S. 148
- ↑ Red. Anmerkung: Collins meint hier offensichtlich Alfred Wegener.
Bild-Quellen:
- 1) The Atlantis Museum
- 3) Bild-Archiv Atlantisforschung.de