Ein amerikanisches Rätsel
Wie die Eröffnung des Panama-Kanals die historische Forschung enorm unterstützen wird
von Garrett P. Serviss (1913)
Nach der Eröffnung des Panama-Kanals werden wir damit beginnen können, die wahre Geschichte Altamerikas zu lernen. Viele Leser werden sich nicht bewusst sein, dass diese Neue Welt, wie wir sie nennen, eines der ältesten aller historischen Rätsel birgt, und sogar das allerälteste, wenn sie, wie manche verfechten, eine direkte Verbindung mit der Erzählung vom untergegangenen Kontinent Atlantis aufweist.
Begraben in den tropischen Dschungeln Mittelamerikas befinden sich die Ruinen einst prächtiger Städte, deren Überreste einer gigantischen Architektur mit Hieroglyphen bedeckt sind, rätselhafter als jene des alten Ägypten, da noch kein Mensch bezüglich der Entdeckung eines vollständigen Schlüssels ihrer Bedeutung erfolgreich war. Sie bewachen ihr Geheimnis eifersüchtiger als der Sphinx.
Ihr Ursprung wird einer praktisch verschollenen, Maya genannten Rasse zugeschrieben, die mit den Azteken aus Montezumas Reich verwandt waren, die alten Mexikaner jedoch, abgesehen von der Kriegstüchtigkeit, in Allem weit übertrafen. Die Ruinen ihrer Tempel bei Palenque (Abb. 2), Copán, Petén und anderswo erregen das Staunen des Reisenden, und bergen einige der schönsten und kunstvollsten Gravierungen, die überhaupt irgendwo zu finden sind.
Sie hatten nicht nur eine exquisite Bildersprache, sondern auch eine Schriftsprache, in welcher noch einige unentzifferbare Manuskripte existieren. Sie erbauten ca. vierzig Städte, die mieinander durch mit Steinen gepflasterte Straßen verbunden waren. Manchmal führten sie untereinander Krieg, und dann marschierten auf selbigen Straßen Armeen in die Schlacht.
Sie waren kundige Landwirte, und kultivierten weite Felder, die nun von bemoosten Bäumen, verschlungenen Ranken und Büschen überwachsen sind. Sie bauten Baumwolle an und woben sie zu Gewändern. Sie fertigten wunderschöne Schmuckstücke aus Gold und Halbedelsteinen, und waren in der Verarbeitung von Federn geschickter als selbst die Azteken. Die in ihre Häuser gravierten Designs und schmückenden oder symbolischen Strukturen sind von großer Schönheit und en détail von erstaunlicher Perferktion. Sie bedeckten die Wände der Räume mit brillanten Bildern auf Stuck.
Merkwürdigerweise sind die Menschen, die man für Nachfahren dieser Maya hält, nicht in der Lage, irgendein Licht auf die Geschichte ihrer vermuteten Vorväter zu werfen. Ihre ganze Zivilisation ist verschwunden, und mit ihr offenbar auch die gesamte Erinnerung an die Größe jener Rasse in alter Zeit.
Einige der von den Maya gemeißelten Figuren weisen eine so auffällige Ähnlichkeit mit vergleichbaren, in den antiken Ruinen der Alten Welt gefundenen Gegenständen auf, dass der Vorschlag gemacht wurde, es habe vormals eine Verbindung über den Atlantischen Ozean hinweg bestanden, und dies ist der Ursprung der Theorie, dass die Vorfahren der Maya auf dem sagenhaften Kontinent Atlantis lebten, welcher, wie Plato hörte, lange vor seiner Zeit im westlichen Ozean versunken war.
Auf einen der seltsamsten Fakten übe das altertümliche Land der Maya hat kürzlich Dr. Ellsworth Huntington aufmerksam gemacht. Es geht um Folgendes: In der Gegenwart weist der ganze Landstrich ein Klima auf, das so warm, feucht und kräftezehrend ist, dass er fast den schlechtesten Ort auf dem Globus für eine menschliche Besiedlung darstellt. Die Ruinen der uralten Städte sind, anstatt inmitten von Wüsten und unter einer brennenden Sonne zu liegen, wie es bei den meisten verlassenen Hauptstädten des Ostens der Fall ist, so überwachsen mit verknäuelter Vegetation und umgeben von fieberverseuchen Sümpfen, dass einige von ihnen fast unerreichbar sind.
Die Schlussfolgerung ist, dass sich in dieser Gegend Amerikas in den jüngsten 2000 Jahren ein enormer Klimawandel ereignet hat, und dass zu Zeiten der Maya-Zivilisation die Klima-Zonen der Erde derart verschoben wurden, dass das Land, welches von diesem bemerkenswerten Volk bewohnt wurde, atmosphärische Bedingungen genoss, die sich stark von jenen unterschieden, die dort heute vorherrschen. Petén, eine seiner wichtigsten Städte, die bisher wegen der Schwierigkeiten sich ihr zu nähern noch nicht gut erforscht ist, liegt inmitten einer gegenwärtig nur spärlich besiedelten Region, in der es unmöglich wäre, das Land so zu kultivieren, wie es in den Tagen der Maya bestellt wurde. Man meint, nur unter einer solchen Voraussetzung könne eine rationale Erklärung für die Tatsache gefunden werden, dass die am höchsten stehende native Zivilisation, die sich bevor der Weiße Mann kam auf diesem Kontinent herausgbildet hat, ihr Zentrum in einer Gegend hatte, die heute eine feindselige und fast unbewohnbare Wildnis ist.
Wenn der Panama-Kanal eine große Fernverkehrsstraße geworden, und die Aufmerksamkeit der Welt auf seine Umgebung gerichtet ist, wird vermutlich neues Licht auf dieses faszinierende Mysterium geworfen werden. Dann werden die Maya-Hieroglyphen womöglich komplett gelesen werden, und ein verborgenes Kapitel amerikanischer Geschichte wird offengelegt.
Anmerkungen und Quellen
Dieser Beitrag von Garrett P. Serviss erschien unter dem Originaltitel "AN AMERICAN MYSTERY - How the Opening of the Panama Channel Will Aid Greatly to Historical Research" im Rahmen seiner Wissenschaftskolumnen am 4. Juni 1913 in der Zeitung The Omaha Daily Bee. Übersetzung ins Deutsche und redaktionelle Bearbeitung durch Atlantisforschung.de nach der digitalisierten Version des Original-Artikels bei CHRONICLING AMERICA - Historic American Newspapers.
Bild-Quellen:
- 1) Bain News Service bei Wikimedia Commons, unter: File:Work on lock, Panama Canal.jpg
- 2) CHRONICLING AMERICA - Historic American Newspapers, unter: The Southern herald., November 15, 1912, Image 2 (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
- 3) CHRONICLING AMERICA - Historic American Newspapers, unter: The Southern herald., July 28, 1911, Image 6 (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
- 4) CHRONICLING AMERICA - Historic American Newspapers, unter: The San Francisco call., October 23, 1898, Page 22, Image 22 (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)