Helike - ein protohellenisches Atlantis?

Abb. 1 Künstlerische Impression eines "quasi-hellenischen" Atlantis. Das historische Helike dürfte dagegen etwas archaischer gewirkt haben.

(bb) Die Geschichte der uralten Achäer-Metropole Helike ("Eliki") reichte vermutlich so weit zurück in die Vergangenheit, dass ihre Einwohner während der jüngsten Blütezeit, in der zweiten Hälfte des letzten vorchristlichen Jahrtausends, mit einiger Sicherheit längst nichts mehr über die eigentlichen Ursprünge ihrer Stadt wussten. Ihr Ende kam plötzlich und unerwartet (aber nicht ganz ohne Vorwarnung, wie wir noch sehen werden) in einer Winternacht des Jahres 373 v. Chr.

Die Historizität des überraschenden Untergangs der Achäer-Stadt Helike und ihrer Nachbarstadt Boura ist gut belegt und wurde - von der modernen Geschichtsforschung nie vehement in Zweifel gezogen - inzwischen auch durch archäologische Funde bestätigt. Schon in der klassischen, griechisch/römischen Literatur finden sich eine ganze Reihe von Verweisen auf Helike und detaillierte Schilderungen von Einzelheiten dieser gewaltigen Katastrophe.


Die Klassiker berichten über Helike

Der hellenische Geograph, Geschichtsschreiber und Poet Eratosthenes erzählte beispielsweise, dass er selbst die Stätte des versunkenen Helike gesehen habe, und dass ihm die Fischer und Fährleute berichteten, eine riesige Bronzestatue des Poseidon erhebe sich nach wie vor unter der Wasseroberfläche. Der Dreizack, den der Gott in seiner Hand hielt, stellte eine Gefahr für alle Fischer dar, die mit Netzen fischten. Heraklit wusste laut dem griechischen Geographen Strabon (64 v.Chr.-23 n.Chr.) zu berichten, "dass sich die Katastrophe bei Nacht ereignet hatte, und obwohl sich die Stadt 12 Stadien (ca. 2 km) vom Meer entfernt befand, die gesamte Region mitsamt der Stadt am Morgen nicht mehr zu sehen war. 2000 Männer, die von den Achaiern zur Rettung entsandt waren, konnten die toten Körper nicht bergen." [1]

Pausanias (143-176 n.Chr.), ein griechischer Reise-Schriftsteller, notierte: "Vierzig Stadien (7 km) entfernt von Aegion befindet sich ein Platz am Meer namens Helike .... wo einst die Stadt Helike stand .... Dies war ein Erdbeben, dass den Meeresboden umdrehte und darüberhinaus, so wird erzählt, ereignete sich in diesem Winter eine weitere Katastrophe: eine riesige See überflutete einen großen Teil des Landes und begrub Helike unter sich. Und die Flut überschwemmte den Poseidon-Tempel so dass nur noch die Wipfel der hohen Bäume sichtbar blieben. Denn als plötzlich der Gott erbebte, erhob sich die See zusammen mit dem Erdbeben und riss Helike mit all seinen Bewohnern in die Tiefe. Die Ruinen von Helike sind noch sichtbar, aber nicht mehr so deutlich wie einst, denn sie sind vom Salzwasser zerfressen." [2]

Diodorus Siculus ( 80-20 v.Chr.) schrieb: "Starke Erdbeben erschütterten die Peloponnes, begleitet von Flutwellen, welche das freie Land in einer Weise zerstörten, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegt. Die Katastrophe kam in der Nacht, so dass .... die Mehrheit der Bewohner in den Ruinen umkam. Als es Tag wurde, konnten noch einige aus den Ruinen fliehen, aber als sie glaubten, der Gefahr entronnen zu sein, wurden sie von einem noch weit größeren Desaster überrascht. Denn die See und die Wellen wuchsen zu gigantischer Größe an und das gesamte Land mit seinen Bewohnern war verschwunden. Zwei Städte in Achaia wurden Opfer dieser Katastrophe: Helike und Boura. Vor diesem Erdbeben war Helike die Erste unter den Städten Achaias." [3]

Abb. 2 Auf dieser Karte wird die zentrale Lage von Helike (Eliki) in der Welt des achäischen Griechenland deutlich.

In seinen berühmten Metamorphosen (1.263) schrieb der römische Dichterfürst Ovid (43 v. Chr.-17 n.Chr.): "Wenn Du nach Helike und Boura suchst, die einst Städte in Achaia waren, so wirst Du sie unter den Wellen finden, und die Seeleute zeigen Dir noch heute die ertrunkenen Städte mit ihren begrabenen Mauern." [4]

Ein interessantes Detail hielt schließlich der römische Chronist Claudius Aelianus (Aelian) (170 -235 n. Chr.) fest: "Fünf Tage vor dem Verschwinden von Helike flohen alle Mäuse, Ratten, Schlangen, Käfer und jegliche andere Kreatur dieser Art entlang der Straße, die nach Kyrinia führt. Und alle Einwohner Helikes, die dieses Schauspiel beobachteten, waren erstaunt, aber unfähig, den Grund dieser Flucht zu erahnen. Aber nachdem diese Kreaturen Helike verlassen hatten ereignete sich ein Erdbeben in der Nacht, die Stadt wurde zerstört und eine riesige Flutwelle begrub Helike unter sich und auch zehn Schiffe aus Sparta, die dort vor Anker lagen, waren ebenso verschwunden wie die gesamte Stadt." [5]


Archäologen auf der Suche nach Helike

Trotz aller Referenzen in der klassischen Literatur tappten die Forscher im 20. Jahrhundert auf ihrer Suche nach der genauen Position Helikes zunächst im Dunklen: "Die modernen Archäologen vermuteten die Ruinen des antiken Helike am Grunde des Golfes von Korinth, bedeckt von Schlammablagerungen. Man hoffte, eine ganze Stadt >wie ein Schiffswrack< zu finden: über die Jahrtausende gut konserviert und allen zerstörerischen Einflüssen durch Mensch und Umwelt entzogen. Doch die Suche auf dem Meeresboden blieb erfolglos. Mittlerweile hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern eine neue Theorie entwickelt. Die Überreste der Stadt sollten demnach in der fruchtbaren Küstenebene liegen, nahe den Dörfern Eliki und Rizomylos, zwischen den Flüssen Kerynites und Selinous." [6]

Abb. 3 Diese Münze gehört zu den Funden, welche die Archäologen bei ihren Grabungen im alten Helike entdeckten.

Diese neue Idee hielt sich an die Angaben der antiken Autoren, welche die überflutete Stadt im Wasser einer - heute versandeten - Inland-Lagune gesehen haben wollen - und dies brachte schließlich den Durchbruch: Seit 1991 gräbt nun ein griechisch-amerikanisches Forscherteam unter Leitung der Archäologin Dora Katsonopoulou "in der Ebene von Eliki. Neolithische, mykenische, klassische, hellenistische und römische Funde kamen zu Tage. Der Stätte zeigt eine bemerkenswerte Siedlungskontinuität. Besonders erfolgreich waren die Grabungen in den Jahren 2000 und 2001.Es gilt als sicher, daß die ersten Überreste der verschwundenen Stadt Helike jetzt gefunden sind.

In drei Metern Tiefe stießen die Ausgräber auf gut erhaltene Gebäude aus klassischer Zeit sowie auf Keramik und Münzen (Abb. 3) aus dem 4. Jht. v. Chr.; die Funde waren bedeckt von einer dicken Lehmschicht, die Brackwasser-Weichtiere enthielt. Eine bronzezeitliche Siedlung, etwa 2400 v. Chr., wurde in 4 Metern Tiefe in der Nähe des Dorfes Ryzomilos ergraben. Die Zerstörungen der Häuser deuten darauf hin, daß die prähistorische Ahnin von Helike ebenfalls Opfer eines schweren Erdbebens wurde." [7]

Und weiter heißt es dort: "Sogar ein Teil der römischen Straße, die der reisende Schriftsteller Pausanias auf seinem Weg nach Helike benutzte, wurde entdeckt. Und eben diese Straße - Leophoros - könnte die Forscher zum Zentrum Helikes führen, zu reichen Häusern, Tempeln und Statuen sowie zum einstmals weithin berühmten Heiligtum des Poseidon. Die Grabungen werden fortgesetzt. Man darf hoffen, daß die griechische Erde in den nächsten Jahren eines ihrer letzten Geheimnisse preisgeben wird." [8]


Helike entdeckt - Atlantis gefunden?

Es dürfte niemand verwundern, dass das Drama von Helike zumindest im Spektrum konservativer, schulwissenschaftlicher Atlantisforschung, wo man lediglich mediterrane Atlantis-Lokalisierungen als zulässig betrachtet, zu atlantologischen Überlegungen einlud. Der Autor von "Das antike Helike in Aegialia bei Aeghio", von dem wir auch die Zusammenstellung der Klassiker-Zitate zu Helike übernommen haben, listet die wesentlichen Verfechter der Helike-Hypothese auf: "Taylor (1926) [9] und Frutiger (1930) [10] waren die ersten, die annahmen, dass das plötzliche und dramatische Verschwinden von Helike - zerstört von einem starken Erdbeben und überflutet von der See - Plato zu seinem Atlantis-Mythos inspiriert hatte. Siehe auch Forsythe (1980) [11], Giovannini (1985) [12] und Ellis (1998) [13]." [14]

Abb. 4 Helike heute: das versandete Areal der Inland-Lagune, an der einst die Stadt stand.

Wenn wir ihn richtig interpretieren, liegt zumindest ein Zugang zum Verständnis des 'Helike = Atlantis'-Konzepts in der Tatsache begründet, dass Platon seinen Atlantisbericht in den beiden Dialogen Timaios und Kritias aller Wahrscheinlichkeit nach in den Jahren 349 / 348 v. Chr. (siehe: Zeittafel) verfasst hat, also wenige Jahrzehnte nach der Helike-Katastrophe (373 v. Chr.): "Plato wusste ganz sicher von der Katastrophe und hatte möglicherweise ein persönliches Interesse daran. 388 v. Chr. hat er den Hof von Dionysos I. in Syrakus besucht, wo es ihm gelang den Tyrannen anzugreifen. Nach Plutarch (Dion 5.2) fragte Dionysos darufhin Pollis, einen Admiral und Gesandten aus Sparta, ihm einen Dienst zu erweisen und ihn von Plato zu befreien. Pollis nahm Plato gefangen, brachte ihn zum Sklavenmarkt auf der Insel Aegina und bot ihn dort zum Verkauf an. Diogenes Laertius (3.19) berichtet, dass ein Athener Mitbürger Plato dort erkannte, ihm die Freiheit kaufte und ihn nach Athen zurück schickte.

15 Jahre darauf ertrank Pollis bei der Katastrophe von Helike. Dionysos hörte davon und betrachtete das Schicksal Pollis' als ein Zeichen Gottes. Um sein eigenes Leben fürchtend, schrieb er einen Brief an Plato, in welchem er ihn bat, nicht schlecht über ihn zu reden. Plato antwortete ihm lediglich, dass er keine Zeit habe, sich mit Dionysos' Schicksal zu befassen." [15] Unsere Quelle stellt dazu weiter fest: "Diese ganze Geschichte hört sich ein wenig nach >Propaganda< der damaligen Akademie in Athen an (Caven 1990), aber sie könnte durchaus einen Kern Wahrheit enthalten. Admiral Pollis kann durchaus in Helike ertrunken sein, denn wir wissen von den Berichten Aelians, dass Kriegsschiffe aus Sparta in der Nacht der Katastrophe bei Helike vor Anker lagen." [16]

Der Verfasser kann da nur zustimmen. Allerdings erklären Platons sizilianische Leidensgeschichte und Pollis späterer Tod keineswegs, warum ausgerechnet Helike das historische Vorbild für Atlantis gewesen sein soll. Haben wir etwa das dekadente und gewalttätige Atlanter-Imperium seines Berichts als eine versteckte Anspielung auf das Regime von Dionysos I. zu betrachten? Nein, ein Konstrukt wie die Helike-Theorie ist u.a. nur vor dem Hintergrund eines skurrilen Platon-Verständnisses, oder besser: Missverständnisses, möglich, nämlich dann, wenn man Platon als eine Art Vorläufer heutiger Hollywood-Drehbuchautoren betrachtet. [17]

Platon war kein Schriftsteller im heutigen Sinne, der sich und er bediente sich auch nicht willkürlich an historischen Motiven als 'Bausteine' einer fiktionalen Erzählung; sein Bild der Menschheits- und Zivilisations-Geschichte und damit auch von Atlantis bewegte sich sowohl in georaphischer als auch chronologischer Hinsicht in gänzlich anderen Größenordnungen, als sie Helike zu bieten hatte. [18] Durchaus legitim scheinen aus atlantologischem Blickwinkel jedoch Überlegungen, ob das Helike-Ereignis, dessen Zeitzeuge Platon war, möglicherweise einen ganz konkreten Einfluss auf die Herausbildung seines katastrophistischen Welt- und Geschichtsbildes hatte, das im Atlantisbericht einen unmittelbaren Ausdruck fand.


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Quelle: Das antike Helike in Aegialia bei Aeghio - DIE GESCHICHTE DER VERSUNKENEN STADT HELIKE / ELIKI BEI AEGION / EGION IN AEGIALIA
  2. Quelle: ebd.
  3. Quelle: ebd.
  4. Quelle: ebd.
  5. Quelle: ebd.
  6. Quelle: Achaia, Achaia - Helike
  7. Quelle: Quelle: Das antike Helike in Aegialia bei Aeghio - DIE GESCHICHTE DER VERSUNKENEN STADT HELIKE / ELIKI BEI AEGION / EGION IN AEGIALIA
  8. Quelle: ebd.
  9. Siehe: Alfred E. Taylor: "A Commentary on Plato's Timaeus", Oxford University Press 1928
  10. Siehe: P. Frutiger, "Les Mythes de Platon", Librairie Felix Alcan, Paris 1930
  11. Siehe: P.Y. Forsythe: "Atlantis: the Making of a Myth", Montreal Queen's University Press 1980
  12. Siehe: A. Giovannini:" Peut on demythifier l'Atlantide?", Museum Helveticum 42, 151-156, 1985
  13. Siehe: R. Ellis: "Imagining Atlantis", New York, Alfred A. Knopf 1998
  14. Quelle: Das antike Helike in Aegialia bei Aeghio - DIE GESCHICHTE DER VERSUNKENEN STADT HELIKE / ELIKI BEI AEGION / EGION IN AEGIALIA
  15. Quelle: ebd.
  16. Quelle: B. Caven, "Dionysos I., War-Lord of Sicily", Yale University Press 1990
  17. Anmerkung: Platon war, wie wir heute sagen würden, ein 'Katatrophist', und Anhänger der Vorstellung einer zyklischen Menschheits- und Zivilisationsgeschichte. Er ging davon aus, dass alle Kulturen einen Kreislauf von Werden, Entwicklung und Vergehen durchmachen, wobei sie schließlich - zumeist im Verlauf gewaltiger Katastrophen - untergehen. Die Historie von Helike mag ihn darin womöglich bestärkt haben; als "Basis" für seinen Atlantisbericht hat sie dagegen kaum getaugt.
  18. Anmerkung: Vergl. dazu etwa Nomoi (Die Gesetze), Atlantis und das verlorene Wissen der Alten

Bild-Quellen:

1) http://www.occultopedia.com/a/atlantis.htm (Bild nicht mehr online)
2) http://www.eliki.com/ancient/civilizations/eliki/ (Bild nicht mehr online)
3) Achaia, Achaia - Helike
4) http://www.leeds.ac.uk/media/reporter/472/472%2002.jpg (Seite nicht mehr online)