M.M. Kernon und die Pygmäen-Friedhöfe (1877)

Ein Privatforscher aus Tennessee berichtet in einem Leserbrief über seine Erkenntnisse

Abb. 1 M.M. Kernons Leserbrief im Memphis Daily Appeal vom 26. Mai 1877

(bb) Relevante Detail-Informationen für unsere Untersuchung des historischen Wissenschaftsstreites um die vormalige Existenz von Pygmäen und ihre Grabstätten in Nordamerika erfahren wir auch in der Ausgabe vom 26. Mai 1877 der Zeitung Memphis Daily Appeal.

Dort berichtete M.M. Kernon aus Memphis - ein Privatforscher, der sich offenbar intensiv mit der Pygmäen-Problematik befasst hatte - leider nur sehr kurz gefasst in einem Leserbrief (Abb. 1) über seine eigenen Erkenntnisse auf diesem Gebiet. 'Aufhänger' für seine Stellungnahme war die Anfrage eines anderen Lesers des Blattes - H.A.M. aus dem Panola County, Mississippi - vom 15. Mai 1877, der mit gesunder Skepsis versehen, Näheres über die 'Zwergenfriedhöfe von Tennessee' in Erfahrung zu bringen wünschte. Dazu hatte er geschrieben:

"Bei der Durchsicht eines Bandes der alten Encyclopedia Americana, herausgegeben 1836 von Francis Lieber et al., finde ich in dem Artikel 'Tennessee' die folgenden Aussagen: >In diesm Staat, wie auch in Missouri, gibt es alte Friedhöfe, wo die Skelette alle Pygmäen gewesen zu sein scheinen. Selbst die Gräber, in welchen die Leichen deponiert wurden, sind selten mehr als zweieinhalb Fuß [ca. 0,76 m; d.Ü] lang, und die Zähne zeigen, dass dies die Skelette von Erwachsenen sind.<" [1]

Diese Information muss zumindest diejnigen einigermaßen erstaunen, die sich bereits ein wenig in die Thematik eingearbeitet haben. Behaupten doch Fachwissenschaftler und deren offizielle Lehrmeinung kolportierende Journalisten seit langer Zeit unisono, bei den 'Zwergenfriedhöfen von Tennessee' handele es sich lediglich um einen von inkompetenten Laien aufgebrachten und verbreiteten "folkloristischen Mythos". Nun stellen wir fest, dass die Annahme der Existenz präkolumbischer Pygmäen und ihrer Grabstätten in Tennessee noch Mitte der 1830er Jahre Teil des 'konventionellen Allgemeinwissens' gebildeter Menschen in den USA war, welches in der Americana, der dortigen (an den Qualitäts-Kriterien des deutschen 'Brockhaus' orientierten) Referenz-Enzyklopädie, zusammengefasst wurde. Sollten Lieber et al. ungeprüft irgendwelche Gerüchte übernommen haben? Immerhin berufen sich die Enzyklopädisten - wie auch fast alle Verfechter der Pygmäen-Vermutung - auf entsprechende Dentalbefunde, die den pygmäischen Charakter diverser Spezimen eindeutig belegt haben sollen.

Jedenfalls fragt H.A.M nun: "Werden die oben erwähnten Aussagen durch jüngere Entdeckungen bestätigt, oder sind sie unrichtig? Die Gräber von Indianern, welche in einer sitzenden Position bestattet wurden, könnten von Pesonen, welche nicht qualifiziert sind die Skelette zur Vermessung zu rekonstruieren, leicht mit den Gräbern von Pygmäen verwechselt worden sein." [2]

Abb. 2 Eine zeitgenössische Abbildung der Anlage des Old Stone Fort bei Manchester, Tennessee, kartiert von Joseph Jones, aus: Explorations of the Aboriginal Remains of Tennessee (1876). Ob dieses 'Fort' in direktem Zusammenhang mit den benachbarten Gräberfeldern steht, ist unklar.

M.M. Kernon äußert sich dazu folgendermaßen: "Als Antwort auf Obiges kann ich nur sagen, dass solche Friedhöfe sowohl in Tennessee als auch in Missouri noch immer zu finden sind. Einer ist etwa eine Meile südöstlich der Ortschaft Beech Grove, im Coffee County, Tennessee; ein anderer im selben County, nahe der Einfriedung, die als 'Old Stone Fort' (Abb. 2) bekannt ist, in der Nähe des Dorfes Manchester, Tennessee. [3] So weit zu Tennessee." [4]

Nach diesen einleitenden Bemerkungen Kernons zu einigen 'Zwergenfriedhöfen von Tennessee', die uns allerdings in der Sache kaum Neues liefern, wird es nun wirklich interessant, denn unser Gewährsmann berichtet u.a. über seine eigene Feldforschung:

"Im Scott County (Abb. 3), Missouri, gibt es einen anderen Friedhof der selben Machart, nahe dem Dorf Charleston, an der Iron Mountain Railroad. Von allen der oben genannten Gräberfelder habe ich sorgfältig Skelette der Pygmäen-Rasse, die darin bestattet sind, entnommen und hergerichtet. Dies tat ich 1872, zusammen mit einem befreundeten, inzwischen verstorbenen Mediziner. Einige der Skelette existieren noch und können inspiziert werden. Die Skelette zeigen auf, dass das Subjekt voll ausgewachsen war, und dass die Größe (in reifem Zustand) zwischen zwei Fuß, zehn Zoll [ca. 0,86 m; d.Ü.] und drei Fuß, ein Zoll [ca. 0,94 m; d.Ü.] variierte." [5]

Abb. 3 Die geographische Lage des Scott County (rot markiert) im US-Bundesstaat Missouri

Da M.M. Kernon hier Aussagen macht, die in krassem Widerspruch zu der - wenige Jahre später von der Smithsonian Institution sowie dem Bureau of Ethnology durchgesetzten und noch heute gültigen - Lehrmeinung (d.h.: es gab in Nordamerika keine Pygmäen) stehen, haben wir uns zwei Fragen zu stellen: 1. Sagt der Privatforscher aus Memphis, Tennessee, in diesem Leserbrief schlichtweg nicht die Wahrheit? Und: 2. Könnte er bei der Bewertung seiner oben angesprochenen Funde einer Fehlinterpretation unterlegen sein?

Bei aller notwendigen Vorsicht tendiert der Verfasser eindeutg dazu, beide Fragen mit Nein zu beantworten: Hätte es sich bei Kernon, der seine Angaben äußerst sachlich und ohne jeden Anflug von Wichtigtuerei vorbrachte, um einen Lügner gehandelt, so hätte er in besagtem Leserbrief wohl kaum seinen Klarnamen und seine Wohnadresse ("No. 166 Main street, Memphis") angegegeben; und zudem hätte er vermutlich auch nicht dazu eingeladen, die in seinem Besitz befindlichen, skelettalen Spezimen zu inspizieren.

Die Vermutung möglicher Fehlinterptetationen erscheint im vorliegenden Fall ebenfalls äußerst unwahrscheinlich, da Kernon offenbar einen Mediziner in seine Forschungstätigkeit einbezog. Auch wenn Ärzten in den 1870er Jahren natürlich noch nicht die heutigen Möglichkeiten [6] zur Verfügung standen, waren damals auch Allgemeinmediziner ohne dentistische Spezialkenntnisse zur Erstellung eines solchen Befundes in der Lage, zumal es dabei nicht um eine Altersschätzung, sondern lediglich um eine Unterscheidung zwischen infantilen bzw. juvenilen und adulten Human-Relikten ging. Zudem argumentierte etwa zur selben Zeit wie Kernon auch die Smithsonian Institution mit Dentalbefunden zu anderen Spezimen, um vice versa die vermeintliche Unsinnigkeit der Pygmäen-These zu beweisen. [7]

Somit stellt M.M. Kernons Leserbrief aus dem Jahr 1877 - insbesondere wenn man ihn im Kontext weiterer historischer Pygmäen-Fundmelungen aus Missouri sowie aus anderen US-Bundesstaaten betrachtet - eines von zahlreichen Indzien dar, welche insgesamt dazu berechtigen, eine wissenschaftliche Reevaluation der überkommenen ablehnenden Haltung hinsichtlich der Annahme präkolumbischer 'Zwergvölker' Nordamerikas einzufordern.


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Quelle: o.A, "LETTERS FROM THE PEOPLE" (Rubrik); M.M. Kernon, "Ancient Burying-Grounds" (Leserbrief), 26. Mai 1877, in Memphis Daily Appeal; Übersetzung ins Deutsche durch Atantisforschung.de nach: CHRONICLING AMERICA - Historic American Newspapers, unter http://chroniclingamerica.loc.gov/
  2. Quelle: ebd.
  3. Red. Anmerkung: Zu - vermeintlichen oder tatsächlichen - Funden der Human-Relikte von Pygmäen in Tennessees Coffee County siehe auch: o.A., "A PIGMY GRAVEYARD IN TENNESSEE", 31. März 1876, in The Cambria Freeman; nach: CHRONICLING AMERICA - Historic American Newspapers, unter The Cambria freeman., March 31, 1876, Image 2 (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
  4. Quelle: M.M. Kernon, op. cit. (1877)
  5. Quelle: ebd.
  6. Siehe dazu z.B.: Dorothea C. Berndt, Tatjana Despotovic, Michael T. Mund, Andreas Filippi, "Die Rolle des Zahnarztes in der heutigen forensischen Altersschätzung", in: Schweizerische Monatsschrift für Zahnmedizin Vol. 118 11/2008, S. 1073-1080 (online als PDF-Datei; abgerufen: 26. Okt. 2016)
  7. Siehe: Kevin E. Smith, "TENNESSEE'S ANCIENT PYGMY GRAVEYARDS: THE 'WONDER OF THE WESTERN COUNTRY'", (ohne Datierung) bei academia.edu, S. 51

Bild-Quellen:

1) CHRONICLING AMERICA - Historic American Newspapers, unter Memphis daily appeal., May 26, 1877, Image 4 (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
2) G.P. Thruston, "The Old Stone Fort Near Manchester, Tennessee", in American Historical Magazine, Vol. 1, No. 3 (Juli 1896), S. 253; nach: BrineStans bei Wikimedia Commons, unter: File:Old-stone-fort-map.png
3) David Benbennick bei Wikimedia Commons, unter: File:Map of Missouri highlighting Scott County.svg