Schulwissenschaft - Parawissenschaft - Pseudowissenschaft (Essay)

von Gerald L. Eberlein

Vorbemerkung

Unter Parawissenschaften versteht man Disziplinen, die neben (gr. para) den üblichen oder Schulwissenschaften angesiedelt sind. Sie reichen von Astrologie bis zenbuddhistischen Theorien. Schul- und Parawissenschaften haben unterschiedliche Wertprämissen, auch divergieren die Motivationen der im jeweiligen Wissensbereich Tätigen. Dagegen sind soziale Prozesse und Strukturen in Schul- und Paradisziplinen teilweise ähnlich.

Anhand von zehn Hypothesen zeigt der Autor, daß Wissenschaft weder einen monopolistischen noch einen absolutistischen Anspruch erheben kann, will sie nicht Ideologie werden.


Moderne Okkultwelle

In der Bundesrepublik Deutschland sind oder waren zumindest in Hessen staatlich geprüfte Astrologen tätig; nach Klagen von Ärzteverbänden sucht eine wachsende Patientenzahl Heilung bei examinierten und nicht examinierten Heilpraktikern, die mit außerschulgemäßen Methoden ihrer Klientel Erfolge versprechen; esoterische Abendkurse und Akademien florieren in den Großstädten, wo sich neuerdings sonntags mehr Menschen in spiritistischen Zirkeln als zum Gottesdienstbesuch zusammenfinden. In Großstadtbuchhandlungen ist die esoterische Abteilung manchmal die umfangreichste überhaupt, und Volkshochschulen bieten astrologische und parapsychologische Kurse an.

Nach Anthropologie ist heute bei deutschen Akademikern wieder Anthroposophie gefragt; statt Archäologie und Prähistorik lesen Millionen Bundesbürger Atlantologie, Bermudologie und Dänikens Prä-Astronautik; Alchemie, nicht Chemie, gewinnt neue Freundee; interdisziplinäre Wissenschaftler- und Ingenieurteams beschäftigen sich hauptberuflich mit Luft- und Raumfahrt, nebenberuflich betreiben sie Ufologie; Mathematik wird zur Numerologie, Philosophie weltweit von esoterischen Metaphysiken und Mystik überrundet, während Physiker seit Jahren in wachsender Zahl eigene paraphysikalisch-parapsychologische Tagungen besuchen.

Abb. 1 Prof. Dr. Gerald L. Eberlein (1930-2010). Studium der Philosophie, Psychologie und Soziologie an den Univeritäten Freiburg, München und an der Sorbonne, Paris. 1962 Promotion in Wissenschaftshistorie und Soziologie an der Technischen Hochschule Stuttgart. 1970/71 Habilitation an Freier und Technischer Universität Berlin in Soziologie und Wissenschaftstheorie. 1972 Professur an der Universität des Saarlandes. 1975 Ruf an den Lehrstuhl für Soziologie an der Technischen Universität München. Zahlreiche Publikationen auf dem Gebiet der Soziologie und Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften. Herausgeber der Fachzeitschrift "Theory and Decision: An International Journal for Philosophy and Methodology of the Social Science" sowie der Buchreihe "Theory and Decision Library".

Anstelle von Prognostik finden Prophezeiungen ein mehr oder minder gläubiges Publikum; Anti- oder Parapsychatrie kämpft gegen Schulpsychatrie an. Parapsychologie hat neuerdings nicht nur ein interessiertes psychologisches, sondern zunehmend ein spirituelles Publikum. Jüngste Befragungen von Lehrern und Beratungsstellen in der Bundesrepublik ergeben ein beunruhigendes, stürmisch wachsendes Experimentierinteresse von Schülern mit Okkultpraktiken. [1] Soziologie wird in Europa mehr und mehr von Parasoziologie überwuchert; neben baustatischen Veröffentlichungen sind in den letzten Jahrzehnten zunehmend "harmonikale" Schriften (zum Beispiel Pyramidologie) getreten, und Zoologie bedeutet für Tausende interessierter Leser Nessie- oder Yeti-Forschung.

Mag man die modische Okkultwelle, "Dänikenitis", Ufologie u. a. m. nur als Anlässe der Beschäftigung mit nicht-schulwissenschaftlichen Disziplinen betrachten, so trifft die Forderung deutscher Homöopathen und Astrologen nach Universitätslehrstühlen den Nerv der akademischen Disziplinen. Die Tatsache, daß 1982 mit der Society for Psychical Research die Parapsychologie 100 Jahre alt wurde, während kein einziges ihrer angeblichen oder tatsächlichen Forschungsergebnisse unbestritten geblieben ist, zeigt hinlänglich, daß eine deskriptiv-vergleichende Analyse von Schul- und Parawissenschaften heute aus aktuellen wie systematischen Gründen durchzuführen wäre.


Zur Klärung der Begriffe

Das Konzept "Grenzgebiete der Wissenschaft" bildet den weitesten Rahmen des hier Gemeinten, nämlich den "noch nicht integrierten bzw. noch nicht integrierbaren Bereich solcher Tatbestände und Vorgänge, die auf eine die materielle Welt transzendierende Wirklichkeit hinweisen." Dies bezieht sich auf sämtliche "Randfragen aus dem Überlappungsfeld von Physis, Bios, Psyche und Geist". [2] Enger ist der von A. Resch 1969 geprägte Begriff Paranormologie als Wissenschaft von paranormalen Phänomenen parapsychischer, -physischer und paranormaler geistiger (Intuition, Prophetie) Natur. Dies wird in den USA als "Anomalistics" bezeichnet und umfaßt alles Unerklärte. Parawissenschaften beschäftigen sich folglich mit Anomalien der verschiedenen Einzelbereiche. "Anomalistics" ist demzufolge die interdisziplinäre Betrachtungsweise von Anomalien, deren einzelne Zweige die verschiedenen Parawissenschaften sind. "Anomalistics" besteht aber nicht nur aus Parawissenschaften, sondern auch aus "Cryptosciences", etwa der Kryptozoologie als Suche nach behaupteten, aber noch nicht nachgewiesenen Tieren (Yeti, Seeschlange von Loch Ness u.a.). [3]

Der Begriff Pseudowissenschaft wird in der Regel von orthodoxen Wissenschaftlern, und zwar abwertend, verwendet; tatsächlich bestehen Pseudowissenschaften häufig aus wissenschaftlichen Forschungsprogrammen (Protowissenschaften), die zur Untersuchung unorthodoxer oder umstrittener Forschungsgegenstände angewandt werden.


Parawissenschaftliche Themen

Wenige Beispiele müssen genügen: Erkenntnis durch ursprüngliche Einheit von Erkennendem und erkanntem; eine gegenüber der "realen" stehende "alternative Wirklichkeit"; eine Letzterklärung durch teleologische Vitalkräfte; die Lösung des Leib-Seele-Problems durch die Vorstellung geheimnisvoller Kraftfelder sowie schließlich die Bewertung des Todes als Übergang zu einer höheren Daseinsstufe, in die nur der Reinkarnierte Eingang findet.

Bei den genannten Problemen handelt es sich um Fragestellungen, die derzeit mit schulwissenschaftlichen Methoden und Theorien nicht zufriedenstellend, das heißt nicht in einer endlichen Zahl von Schritten überzeugend zu beantworten sind. Parawissenschaften schieben dann als "Lückenbüßer" geheime oder jedenfalls bisher unentdeckte Kräfte und Strukturen ein. In einzelnen Fällen werden schulwissenschaftliche Antworten intensiv diskutiert bzw. "theoretisiert". Dies gilt beispielsweise für Prigogines Konzept der Selbstorganisation, aber auch für einen interdisziplinär zu erweiternden Feldbegriff; ebenso schließlich für transrationale Selbstaktualisierung, also die Vorstellung von spirituellen Trainingsverfahren unter veränderten Bewußtseinszuständen, wie sie sich in der mystischen Tradition sämtlicher Weltreligionen finden, aber auch in okkultistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts als esoterisch-magische Praktiken.

Im Falle ganzheitlicher Einheit von Erkennendem und Erkanntem kann die Schulwissenschaft darauf verweisen, daß dieser Ansatz bereits 1931 von dem theoretischen Physiker N. Bohr geschaffen wurde; später wurde er sozialwissenschaftlich herausgearbeitet als "Soziale Konstruktion der Wirklichkeit". Die Gegenüberstellung aberativer Wirklichkeiten entstammt ebensowenig der Gegenwart; vielmehr wurde dies bereits 1925 von B. Russell in seiner vergleichenden Analyse der sensorischen und der hellseherischen Wirklichkeit geleistet.


Orthodoxe-deviante Wissenschaft

Warum spreche ich von Para-, nicht aber von Pseudowissenschaften? Weil ich von der ersten Hypothese und Diskussionsthese ausgehe: daß nämlich Wissenschaft trotz ihres universalistischen Charakters weder einen monopolistischen, noch gar einen absolutistischen Anspruch erhebt – dann wäre sie nämlich Ideologie. Wissenschaftler als Teilnehmer eines pluralistischen Erkenntnisbetriebs, wozu auch andere Wissensformen, wie Philosophien, Künste und Ideologien gehören, werden nach dem Scheitern der neopositivistischen "Einheitswissenschaft" schon deswegen "Wissenschaftspluralisten" sein müssen, weil sie analytisch-empirische Disziplinen, also "objectivism" einerseits anerkennen, aber auch "weiche" oder Geisteswissenschaften, also "subjectivism" andererseits. Bilden aber schon Schulwissenschaften ein systematisch-methodologisches Kontinuum von Erkenntnisverfahren und Schauweisen aus, so wird man als Nicht-Monopolist und Nicht-Wissenschaftsideolologe wissenschaftsartige Randerscheinungen anerkennen müssen.

Solche Parawissenschaften fordern bekennerisch die Anerkennung ihres Objekts, sie beanspruchen eigene Methoden und Ansätze – obgleich Theoriebildung im Sinne der Schulwissenschaften meist fehlt -, sie bieten Ad-hoc-Erklärungen als sogenannte "Erklärungsprinzipien" an. Sie orientieren sich an Wertprämissen und erfüllen schließlich psychosoziale für ihre Angehörigen wie für die Gesamtgesellschaft. Parawissenschaften weichen also hinsichtlich Objekt, Methodik und Erklärung vorsätzlich und zielstrebig von den Schul- oder orthodoxen Wissenschaften ab und sind daher wertfrei als deviante, abweichende Wissenschaften zu bezeichnen. [4]

Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht mir keineswegs um eine Stellungnahme pro oder contra der von Schulwissenschaften abweichenden Disziplinen, sondern um skeptische, beschreibende Analyse und Bewertung der Ansprüche von Parawissenschaften. Die Frage nach der Existenz und Gewichtung empirischer Anomalien, Alternativparadigmen, Sonderverfahren usw. betrachte ich nicht als lösbar durch prinzipielle Vorentscheidungen, sondern allein durch wissenschaftliche Erforschung dessen, was effektiv behauptet oder beansprucht wird, und eben dies nenne ich die Haltung wissenschaftlicher Skepsis. Über rationale, mehr als nur aktuale Kriterien zur Abgrenzung von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft verfügen wir offenbar derzeit nicht.


Pseudo- oder Parawissenschaft?

Der Wissenschaftstheoretiker wie der empirische Schulwissenschaftler allgemein sprechen also von Pseudowissenschaften, da sie sich aufgrund orthodoxer Methodenkriterien im Besitz der Alleinigen, wissenschaftlichen Wahrheit glauben. Der Wissenschaftssoziologe hingegen kann sich szientistischer Ideologie nicht verschreiben, sondern muss von devianten oder eben "Parawissenschaften" sprechen. Diese unterscheiden sich auch konkret von Schulwissenschaften: Sie behaupten einen methodisch nicht erwiesenen Forschungsgegenstand, orientieren sich an subjektiven, "weichen" Kriterien, verwenden ebensolche, zum Teil spekulative und illustrative, Theorien. Besonders halten sie die Forderung der Wiederholbarkeit nicht für zwingend und verfahren individuenbeschreibend ("idiographisch"), nicht gesetzesformulierend ("nomothetisch"). Während Universitätswissenschaften anerkannte Methodenkriterien bevorzugen und ihre Legitimation in wissenschaftlichem Fortschritt sehen, geht es Parawissenschaften eher um Bewahrung von Traditionen und um geheimwissenschaftliche Initiation als individuelle Bewußtseinsveränderung. Fragt man danach, wie stark sich beide Wissenschaftstypen unterscheiden, so zeigt sich ein Kontinuum, das von "weichen" Disziplinen wie Ethnologie und und Soziologie über Parapsychologie bis zu esoterischen Ideologien reicht. Jedoch wäre schon die unbefangene Gleichsetzung von Wissen allein mit Wissenschaft szientistische Ideologie.

Meine zweite Hypothese lautet: Schulwissenschaften sind ebenso an Wertprämissen orientiert wie Parawissenschaften. Als Charakteristiken der akademischen Disziplinen kann man nennen: Elementarismus als isolierende Analyse; Naturalismus; Szientismus, das heißt Wissenschaft als Selbstzweck; objektivierender Methodismus, also Forschungslogik; schließlich Technizismus als Inbegriff wissenschaftlicher Instrumentation.

Für Parawissenschaften können demgegenüber aufgeführt werden: Holismus, Esoterismus, metaphysische Spekulation, Subjektivismus (zum Beispiel Analogik) und "Krypturgie", ein Kunstwort für den Anspruch eines verborgenen Bewirkens oder die Bewirkung durch geheime Kräfte. Schulwissenschaft dringt dabei auf strikte Trennung inner- von außerwissenschaftlichen Wertprämissen; sie betrachtet Erkenntnis, genauer: Informationszuwachs, als Selbstzweck und zentrale innerwissenschaftliche Wertsetzung. Als außerwissenschaftliche Wertprämissen sind Naturbeherrschung, Rationalisierung der Welt im allgemeinen und der Gesellschaft im besonderen zu nennen.

Demgegenüber, so meine dritte Hypothese, kennen Parawissenschaften keine Trennung inner- von außerwissenschaftlichen Wertungen. Bewahrung metaphysischer Traditionen und Bewußtseinsveränderung, zum Beispiel als geheimwissenschaftliche Initiation, stellen für deviante Disziplinen zugleich inner- und außerdiszipliärer Wertsetzungen dar. Während orthodoxe Wissenschaften grundsätzlich immer in der Lage – wenngleich nicht immer bereit – sind, ihre Wertbindungen durch Analyse und offene Diskussion zu objektivieren, ist dies bei Parawissenschaften wegen ihrer bekennerischen Absicht nicht der Fall.


Soziale Prozesse und Strukturen

Vierte Hypothese: Soziale Prozesse und Strukturen in Lehre und Forschung der Paradisziplinen sind denen der Schulwissenschaften ähnlich: Konkurrierende Forscher- und Lehrergemeinschaften bilden ihren Nachwuchs in paradigmatischer Manier aus, sie Veröffentlichen Monographien und Zeitschriften, treffen sich auf Tagungen, entfalten also insgesamt die gleiche Art von Betrieb wie die akademisch anerkannten Fächer. Der hohe Beteiligungsgrad nichtwissenschaftlich gebildeter Mitglieder (sogenannte Laienforscher) dürfte ein spezielles Merkmal der Parawissenschaften sein. Parawissenschaftliche Gemeinschaften sind tendenziell Glaubensgemeinschaften; so Parapsychologen, die von der Existenz einer Funktion Psi überzeugt sind und deren Äußerungsformen in "positiver Kritik des Aberglaubens" (Bender) statistisch wie kasuistisch zu erweisen suchen. Eine kleine Zahl kritischer Parapsychologen orientiert sich an akzeptierten Standards empirischer Forschung und gibt zu, daß parapsychologische Ergebnisse ständiger Erosion der Entdeckung von Fehlerquellen und alternativer Erklärungsmöglichkeiten unterliegen. [5]

Skeptische Äußerungen kritischer Parapsychologen über mögliche Zukünfte ihrer Disziplin sowie überzeugende Darlegungen der prinzipiell "normalpsychologischen" Erklärbarkeit parapsychologischer Ergebnisse legen dem unvoeingenommenen Wissenschaftsforscher den Verdacht nahe, daß Parapsychologie nicht die häufig beschworene Protowissenschaft, vielmehr ein Residuum für Psychologie und andere Fächer ist. [6]


Privatwissenschaft?

Daß die ernsthafte Diskussion wissenschaftlicher Veröffentlichungen vom Status und akademischer Einbindung des Verfassers entscheidend abhängen, zeigt die sogenannte Velikovsky-Affäre gezeigt. 1950 veröffentlichte der amerikanische Privatgelehrte "Welten im Zusammenstoß"; darin vertrat er, gestützt auf eine Fülle natur- und geisteswissenschaftlicher Daten, seine Theorie, der Planet Venus sei erst in historischer Zeit in unser Sonnensystem gelangt. Einerseits wurde das Buch in Fachzeitschriften totgeschwiegen bzw. seine Grundthese nicht rezensiert, sondern hämisch "verrissen", wobei Velikovsky kein Raum für Erwiderungen gegeben wurde. Andererseits wurden auf starken Druck prominenter Fachwissenschaftler der für die Veröffentlichung verantwortliche Verlagsmitarbeiter entlassen. Erst die amerikanische Studentenbewegung der sechziger Jahre ermöglichte universitätsinterne Diskussionen von Velikowskys Büchern, vor allem Auseinandersetzungen mit dem Autor selbst, der von den Studenten eingeladen wurde. Obgleich seine Grundthese schulwissenschaftlich nicht akzeptiert ist, haben sich doch einige seiner damit zusammenhängenden Prognosen inzwischen bestätigt. Jedoch haben auch spätere sachliche Auseinandersetzungen mit Velikovsky nicht dazu geführt, daß seine Veröffentlichungen innerhalb der Forschergemeinschaft der Astronomen hätten einen Platz finden können. Er gehört eben nicht dazu. [7]


Parawissenschaft als Religionsersatz

Als fünfte Hypothese möchte ich die Vermutung zur Diskussion stellen, daß die Motivation parawissenschaftlich Tätiger derjenigen von Anhängern "neuer", also ebenfalls "abweichender" Religionen entspricht. In der angelsächsischen Wissenschaftsforschung ist neuerdings davon die Rede, daß abweichende Überzeugungssysteme zum "kultischen Milieu", dem "kultischen Untergrund der Gesellschaft" gehören. Kompensation von Frustrationen, Realitätsflucht (Eskapismus), Widerstand gegen die Rationalisierung der Welt, also eher erkenntnisabwehrende als erkenntnisinnovierende Motivationen sind hier am Werk. Das hängt mit der Rolle von Anomalien zusammen. Sind für die Schulwissenschaften hypothetische oder faktische Anomalien Anlässe vertiefter empirischer Forschung oder intensivierter Erklärung, so bedeuten Anomalien den Parawissenschaften Kristallisationspunkte, ja Glaubensbekenntnisse ihrer ihrer gewollt abweichenden Orientierung. Die Existenz von 'Psi', von Ufos usw. ist ihnen rechtfertigende Vorentscheidung, nicht zwangloses Forschungsproblem. Für den Schulwissenschaftler ist eine Anomalie ein wohl zu definierendes und zu lösendes Forschungsproblem, und er bearbeitet es mit ständiger Rückkopplung zwischen fachlich-gruppenmäßigem Konsens einerseits und der Prüfung von Behauptungen an der Wirklichkeit andererseits. Der abweichende Wissenschaftler definiert und gewinnt seine Mit-"Sucher" aufgrund des Konsensus über die absolut sichere Existenz von Anomalien als abweichenden Phänomenen oder Gesetzmäßigkeiten, wodurch menschliche Lebensprobleme universal zu lösen sein sollen. Parawissenschaften dienen somit auch teilweise als Religionsersatz, als Heils- und Orientierungswissen, beispielsweise in der New-Age-Bewegung.

Wissenschaftshistorisch ist zu vermuten, - so die sechste Hypothese – daß Parawissenschaften anders entstanden sind als Schulwissenschaften. Letztere haben sich arbeitsteilig ausdifferenziert – man denke an die säkulare Entfaltung der Philosophie. Deviante Disziplinen dürften dementgegen über ihren Ursprung als in der Akzeptanz und oberflächlichen, das heißt aktuell modischen, Rationalisierung von Überzeugungssystemen haben.


Para- oder Schulwissenschaft?

Was Para- und was anerkannte Wissenschaft ist, scheint zuweilen nur von der Perspektive, genauer gesagt, von den Trägern her bestimmt zu sein. UFO-Forschung wird beinahe ausschließlich von wenigen angesehenen, aber unbekannten Schulwissenschaftlern und Laienforschern betrieben; viele dieser Forscher vertreten die Meinung, bei den Entsendern bzw. Mannschaften dieser "Unidentifizierten Flugobjekte" handle es sich um intelligente Wesen aus anderen Sonnensystemen, die unsere Erde besuchten, beobachteten, ja möglicherweise vor einer atomaren Katastrophe retten sollten. Solche immer wieder geäußerten Überzeugungen haben der Ufologie allgemein den Stempel des Unseriösen, einer Parawissenschaft, aufgedrückt, die teilweise zum Religionsersatz zu werden drohte.

Demgegenüber wird seit Jahrzehnten von Wissenschaftlern an amerikanischen Universitäten und bei der NASA das SETI-Projekt (Search for Extraterrestrial Intelligence), aus öffentlichen Mitteln gefördert, betrieben. Obgleich von manchen Universitätswissenschaftlern nicht ernst genommen, käme doch niemand auf die Idee, SETI-Forschung als parawissenschaftlich abzutun. An den kooperierenden Disziplinen kann der Unterschied nicht liegen, denn bei SETI wie der Ufologie sind überwiegend Naturwissenschaften, aber auch Sozial- und Geisteswissenschaften vertreten.

Oft ist das Urteil: Para- oder Schulwissenschaft erst im nachhinein von Wissenschaftshistorikern zu fällen. Außer den schon erwähnten Disziplinen Alchemie und Phrenologie wurde auch die Phlogiston-Chemie früher akzeptiert, später dann verworfen, so daß die drei genannten Fächer heute sicherlich als Pseudowissenschaften zu betrachten sind. Andererseits wurde noch in unserem Jahrhundert [dem 20.; d. Red.] die Verschiebungstheorie der Kontinente des deutschen Geologen Wegener sowie die junge, vielversprechende Disziplin Radioastronomie als pseudowissenschaftlich verlacht und abgelehnt. Heute ist beides Bestandteil der Schulwissenschaften.

Vieles spricht – siebtens – dafür, daß bei schulwissenschaftlichen, besonders empirisch-analytischen Disziplinen, ontologische Voraussetzungen erst in deren philosophischem Metaparadigma auftreten: Das heißt monistische, dualistische, aber auch idealistische oder realistische Vorentscheidungen spielen bei schulwissenschaftlichen Methoden und Theorien nur in deren "Wertbasis" eine Rolle. Hingegen haben westliche Parapsychologie wie auch sogenannte Geheimwissenschaften als methodisches und erklärendes Grundprinzip die metaphysische Überzeugung gemeinsam, daß unabhängig von jeder physiologisch-physikalischen Basis geheime Kräfte wirken – also Dualismus oder gar objektiver Idealismus – als Prämisse. Empirisch-analytische, phänomenologische, aber auch dialektische und funktionalistisch-systemtheoretische Humanwissenschaftler gehen üblicherweise nicht von derartigen Grundsatzbekenntnissen aus, sondern von Theorien und Methoden, deren Ergebnisse dann unterschiedlich interpretiert werden können.


Was Wissenschaft leistet

Daraus ergeben sich – meine achte Hypothese – unterschiedliche Funktionen von orthodoxen und devianten Wissenschaften in der Gesellschaft. Schulwissenschaften liefern neue Erkenntnisse und Realisationen, also Aufklärung und wissenschaftlich-technologische Gesellschafts- und Weltgestaltung. In psycho- und logohygienischer Funktion wirken sie dem Einfluß der Parawissenschaften direkt hingegen, deren Ergebnisse sie konsequent als "Noopathien" bewerten. Demgegenüber wirken Parawissenschaften für ihre Mitglieder wie für die Gesamtgesellschaft bewußtseinsverändernd, kompensierend; sie verkörpern Hermetismus, sind zum Teil Religionsersatz und machen dezidierte Sinnangebote für die "verirrte" wissenschaftlich-technische Welt der Gegenwart. Deviante Wissenschaftler beanspruchen, dem zeitgenössischen Bewußtsein "Heilswissen" und "Gesinnungsethik" zu liefern – eine Reaktion auf die wachsende Komplexität der sich unablässig wandelnden Weltbilder der Wissenschaften. Parawissenschaften kanalisieren damit auch antirationale Protesthaltungen, und es ist nicht verwunderlich, daß sie qualitativ und quantitativ mit den Schulwissenschaften im System modernisierter pluralistischer Gesellschaften zu konkurrieren suchen. Der scheinbaren oder anscheinenden Einheit des wissenschaftlichen Weltbilds setzen sie die geforderte oder gesuchte Einheit eines esoterisch-parawissenschaftlichen Weltbildes entgegen.

Diese Konkurrenz führt – so die neunte Hypothese – fast automatisch auf die Frage, wem gerade der wissenschaftliche Laie denn letztlich eher zu glauben bereit ist: dem orthodoxen oder dem devianten Wissenschaftler? Erste wissenschaftssoziologische Einsichten lassen annehmen [8], daß Kriterien und Kredit orthodoxer Wissenschaften überwiegend von deren meinungsbildenden Eliten bestimmt sind, während deviante Wissenschaften hauptsächlich von Mitgliedern der unteren Ebene institutionalisierter Wissenschaft sowie von außerwissenschaftlichen Bevölkerungskreisen getragen werden.

Die tiefere Begründung devianter Lehr- und Forschungsstandards gegenüber den orthodoxen Disziplinen könnte einmal daran liegen, daß die schulwissenschaftlichen Standards innerhalb wie außerhalb des kognitiven Systems nicht universal akzeptiert sind; zum anderen darin, daß sie zu stark idealisiert auftreten und daher in der sozialen Organisation Wissenschaft anders interpretiert oder anders angewandt werden, als sie in der sozialen Institution Wissenschaft formuliert sind.


Zum Wandel abweichender Wissenschaften

Stellt man schließlich die Frage nach dem Wandel devianter gegenüber orthodoxen Wissenschaften, so ist – meine zehnte Hypothese – zu vermuten, daß sie defensive Taktiken zur Abwehr ihrer Gegner aufzuweisen haben; ferner sozialen Wandel im engeren Sinne, um sich nämlich gesellschaftlichen Erfordernissen anzupassen (dafür das Beispiel des Übergangs einer ursprünglich philosophisch-therapeutisch gemeinen "Dianetik" in eine "Scientology Kirche"). Schließlich ist zu erwarten, daß auch deviante Disziplinen analog den orthodoxen Wissenschaften progressiven Wandel durch Verbesserungen grundlegender Einsichten aufzuweisen haben. Genau dies wird von den Gegnern devianter Disziplinen allerdings leidenschaftlich bestritten, und eben an dieser Stelle wären deskriptive Wissenschaftstheorie wie auch empirische Wissenschaftssoziologie von besonderer Dringlichkeit.


Residuen und ihre Verwissenschaftlichung

Die Parawissenschaften erweisen sich zeitgenössischer interdisziplinärer Wissenschaftsforschung teilweise als Residuen früherer Denkformen, die im gegenwärtigen Wissenschaftskosmos durchaus ihren Platz haben. Dies gilt etwa für Alchemie, eine frühere Synthese protochemischer und kosmologischer Vorstellungen, die wir heute in der tiefenplychologischen Symbolik von C. G. Jung wiederfinden, also teilweise "theoretisieren" und empirisch prüfen können. Andere, nicht anerkannte Wissensformen sind etwa die sogenannte kosmobiologische Astrologie sowie die frühere, rein qualitative Ausdruckspsychologie, wie sie bis Ende der fünfziger Jahre auch an manchen deutschen Universitäten in Lehre und Forschung betrieben wurde, etwa als Graphologie und deutende Physiognomik; letztere wird heute von der Humanethologie (Eibl-Eibesfeld) verhaltenswissenschaftlich methodisch untersucht. Zu Residuen gehören allerdings auch definitiv aus dem Wissenschaftskanomn ausgeschlossene Disziplinen wie die im 19. Jahrhundert mit eigenen Lehrstülen vertretene Phrenologie; sie ist für uns nur noch wissenschaftsförmiger Aberglaube, der von der Schädelform auf Charakterzüge schließen zu können meinte.

Ein Prozeß der "Szientifizierung" von Parawissenschaften ist übrigens ständig zu beobachten; er betrifft nicht nur die ebengenannten Beispiele, sondern ansehnliche Problembereiche dessen, was heute noch immer von vielen zur Parapsychologie gerechnet wird. Ich erinnere hier nur kurz daran, daß die Orientierung von Zugvögeln heute von der Zoologie erforscht wird, nicht mehr von der "Anpsi", also animalischer Parapsychologie; die Erforschung der Beherrschung unwillkürlicher Körperfunktionen ist seit dem Autogenen Training mit Hypnose und "Biofeedback" aus den Grenzwissenschaften in Physiologie und "Normalpsychologie" übergegangen. Besonders spannend dürfte die Szientifizierung von Parawissenschaften an der sogenannten transpersonalen Psychologie zu beobachten sein. Was Mystiker und Esoteriker der Weltreligionen seit langem berichten, ist in den letzten Jahren als Erforschung und Verwirklichung veränderter Bewußtseinszustände ("Altered states of consciousness") methodisch erfaßbar geworden. [9]

Die Antwort auf die Frage: Sind Parawissenschaften Pseudowissenschaft? möchte ich also folgendermaßen formulieren: Para-Disziplinen stellen – im Vergleich mit den orthodoxen Wissenschaften – deviante, zum Teil konkurrierende, alternative Wissensformen dar. Auch wenn der Wissenschaftstheoretiker sie als pseudowissenschaftlich bewertet, gehören sie dennoch dem Erkenntnissystem modernisierter Gesellschaften an.


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Gerald L. Eberlein (1930-2010) wurde dem von ihm herausgegebenen, Buch "Schulwissenschaft - Parawissenschaft – Preudowissenschaft" (Stuttgart, 1991, S.109-117) entnommen.

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Die Wiederveröffentlichung des redationell bearbeiteten Textes (mit Links versehen) bei Atlantisforschung.de erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Inhaberin der Rechte an Gerald L. Eberleins Werken. Hinweis zu einem Corrigendum: In der Buchausgabe von 1991 wurden offenbar versehentlich die beiden Fußnoten 6 und 7 vertauscht. Wir haben die notwendige Korrektur vorgenommen.

Einzelnachweise

  1. Bauer, E. u.a.: Eine Umfrage bei psycho-sozialen Beratungsstellen zum Thema "Okkultpraktiken bei Jugendlichen", Zs. f. Parapsychol. u. Grenzgeb. d. Psychol., 30/1988, S. 33-45
  2. Zahlner, F.: Kleines Lexikon der Paranormologie, Hrsgg. von A. Resch, Abensberg 1972, S. 37.
  3. Truzzi, M., Zetetic Ruminations on Scepticism and Anomalies in Science. Zetetic ScholarNos. 12/13 (1987), S. 7-20
  4. Dolbry, R.G.A.: Reflections on Deviant Science. In: R. Wallis (Ed.): On the margins of Science: The Social Construction of Rejected Knowledge. Keele 1979. S.9-47.
  5. Kurtz, P. (Ed.): A Sceptic's Handbook of Parapsychology. Buffalo 1985; sowie Zusne, L./Jones, W.H.: Anomalistic Psychology. A Study of Extraordinary Phenomena of Behaviour and Experience.Hillsdale / N.J. 1982.
  6. Bauer, E. / von Lucadou, W.: Art. Parapsychologie. In: R. Asanger / G. Wenninger (Hrsg.): Handwörterbuch der Parapsychologie, 2. Aufl. Weinheim 1988, S. 523
  7. De Grazia, A. u. a. (Eds.): The Velikovsky Affair: Scientism versus Science. New Hyde Park / N.Y. 1966.
  8. Vgl. Anm. 4
  9. Eberlein, G.: Brauchen die Schulwissenschaften ein neues Paradigma?, in: Grenzgebiete der Wissenschaft 37, S. 206f.