Iberien
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Atlantis in Spanien und die Ibero-Atlantologie
(red) Zu den wesentlichen neuen Richtungen, welche sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Bereich rationaler Atlantisforschung entwickelten, gehörte auch die 'Ibero-atlantologische' Schule, deren Anhänger die Iberische Halbinsel entweder als Zentrum, oder als wichtige Provinz des vermuteten Atlantier-Reiches betrachten, und dort nach seinen Spuren suchen.
Als 'Grand old Lady' dieser Richtung darf die aus England stammende Archäologin Elena Maria Wishaw gelten. Wishaws Ausgrabungen erbrachten in den 1920er Jahren sensationelle neue Erkenntnisse zur Vor- und Frühgeschichte Iberiens - Erkenntnisse, die bis zum heutigen Tag noch keine adäquate Würdigung unter europäischen Fachwissenschaftlern gefunden haben. Sie war davon Überzeugt, bei Niebla in Andalusien auf die Überreste einer alten post-atlantischen 'Tochterkultur' gestoßen zu sein.
Bei Charles Berlitz finden wir einen Hinweis, der Frau Wishaws Meinung stützen könnte: "Die alten Iberer wurden zur Zeit des Römischen Imperiums von den Bewohnern Italiens die Atlantiden genannt." In diesem Zusammenhang erinnert er auch an ein Zitat von Bodichon [?], das er bei Lewis Spence gefunden hat: "Die Atlantiden galten bei den Alten [den Völkern des Altertums] als die Lieblingskinder Neptuns ['Poseidons']. Sie brachten den anderen Völkern [seinen] Kult - so zum Beispiel den Ägyptern. Mit anderen Worten, die Atlantiden waren die ersten uns bekannten Seefahrer." (+7)
Jenes hochentwickelte Volk, das dort in prähistorischen Zeiten, lange vor dem geheimnisvollen Königreich von Tartessos (welches Wishaw ebenfalls intensiv beschäftigte) siedelte, errichtete kolossale Großsteinbauten, betrieb industriellen Bergbau und bewässerte seine Felder mittels hydraulischer Pumpsysteme, auf deren Überreste die Archäologin bei Niebla stieß. Die Technologie dieser Megalithiker muss "bemerkenswert weit entwickelt" gewesen sein, wie Wishaw in ihrem 1928 veröffentlichten Werk 'Atlantis in Andalucia' (+x) feststellt, in dem sie die wesentlichen Ergebnisse von etwa einem Viertel-Jahrhundert archäologischer Feldforschung in ihrer "geliebten spanischen Wahlheimat" zusammenfasst.
Ein populärer, konservativer Vertreter aus der frühen Periode der Ibero-Atlantologie war ihr deutscher Berufskollege Adolf Schulten (Abb.2), der etwa zur gleichen Zeit vergeblich auf der Suche nach der mysteriösen Stadt Tartessos war, die er für das historische Vorbild von Atlantis hielt. Tartessos gibt der Forschung auch heute noch Rätsel auf. Einerseits weiß man aus den antiken Überlieferungen mit einiger Sicherheit, dass es dieses mächtige Bergbau- und Handelszentrum tatsächlich auf iberischem Boden gegeben haben muss, wo genau es sich aber genau befunden hat - darüber gehen die Meinungen auseinander.
So wurde Tartessos im Lauf der Geschichte mit dem biblischen Tarschisch (+1) mit Gades oder den kleineren Städten Calpe und Carteira bei Gibraltar identifiziert, ohne dass diese Annahmen je durch harte Evidenzen gestützt werden konnten. Auch die Gründe seines Verschwindens liegen im Dunklen. Lyon Sprague de Camp bemerkt beispielsweise: "Niemand weiß, was mit ihm geschah. Nach Himilkons Reise (+2) wurde von ihm nichts mehr gehört. Die Annahmen gehen dahin, daß Himilkon diesen Rivalen Karthagos beseitigte." (+3)
Auch zu Schulten und seiner archäologischen und atlantologischen Forschung finden wir bei Sprague de Camp Hinweise, die hier zitiert werden sollen: "1920 grub Professor Adolf Schulten aus Erlangen, assistiert von dem Archäologen Bonsor und dem Geologen Jessen, an dem Platz, an dem Tartessos vermutet wird. [bei Huelva an der Mündung des Flusses Baetis, der heute Guadalquivir heißt; d. Red.] Außer [einem gravierten Metall-] Ring fand [ Schulten] Mauerblöcke, die, so war er der Meinung, die Existenz zweier früherer Städte erwiesen, wobei die eine um 3000 v. Chr., die andere um 1500 v. Chr. gegründet worden sein muß. Der hohe Grundwasserspiegel ließ ein Weitergraben nicht zu. Die Forscher mußten einsehen, daß die anderen Überreste von [ Tartessos] schon vor langer Zeit tief im Schlamm des Guadalquivir-Mündungsbeckens versunken waren. (+4)
Schulten machte auch die Ruinen des Tempels des [ Melkarth] von Gades auf der kleinen Insel Santi Petri ausfindig. Es wurden darin zwei Quellen gefunden, die schon von Polybios erwähnt werden und die Quellen des [ Poseidon]-Tempels von Atlantis ins Gedächtnis rufen. Schultens Theorie, die von Dr. Richard Henning veröffentlicht wurde, war, daß alles notwendige Material für [ Platons] Geschichte in Spanien zu finden sei." (+5)
Sprague de Camps Gesamt-Bewertung von Schultens Atlantis-Lokalisierung ist durchaus positiv. "Tartessos könnte noch am ehesten mit Atlantis identisch sein (mehr jedenfalls als Karthago oder Kreta): es lag, wie Atlantis, im fernen Westen, jenseits der Säulen [des Herakles]; es war enorm reich, vor allem an Mineralien, und unterhielt weitverzweigte Handelskontakte mit den Mittelmeervölkern; vor seinen Küsten lagen Sandbänke; hinter der Stadt breitete sich eine weite Ebene aus, die von Bergen begrenzt wurde; und es verschwand auf mysteriöse Weise. Wenn auch die Tartessianer nicht dafür bekannt waren, Stier-Feierlichkeiten abzuhalten, so war und ist das Gebiet ein Viehzuchtgebiet." (+6)
Trotz der teilweise spektakulären Funde der 1920er Jahre erlebte die Ibero-Atlantologie in der Folge einen fatalen Niedergang, für den es vermutlich mehrere Gründe gibt. Zunächst einmal weigerte sich die 'scientific community' schlichtweg, brisante Entdeckungen von Nonkonformisten wie Wishaw zur Kenntnis zu nehmen oder zu diskutieren: Ihre Ergebnisse wurden unterdrückt und verschwanden in der sprichwörtlichen 'Versenkung'. Was konformistische Forscher wie Schulten anging, dessen Arbeit durchaus eine höhere Akzeptanz genoss und ihren Weg in den akademischen Diskurs fand, waren die erbrachten Evidenzen dagegen bei weitem nicht ausreichend, um eine allseits befriedigende Lösung für das Atlantisproblem zu ergeben. Zudem begann in Spanien mit dem Ausbruch der Sozialen Revolution (1936), dem Bürgerkrieg und der Machtergreifung des klerikal-faschistischen Franco-Regimes eine langjährige Ära, deren Bedingungen alternativ-historischen Forschungen äußerst abträglich waren. Fast ein halbes Jahrhundert sollte vergehen, bis neuere Forschungen die iberische Halbinsel wieder ins Blickfeld der Atlantologie rückten.
Zu den modernen Ibero-Atlantologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören auch unsere Gastautoren Uwe Topper und Jürgen Hepke, zwei Alternativ-Historiker und Atlantisforscher aus Deutschland, die beide für sich in Anspruch nehmen dürfen, zu den Wegbereitern einer synthetischen Interpretation (+8) des platonischen Atlantisberichts zu gehören. Bereits 1977 entwickelte Topper ein Modell, das Iberien als Zentrum von insgesamt drei 'atlantischen Hochkulturen' identifizierte (siehe: Atlantis in Cadiz und die Chronik von Atlantis).
Anhand geologischer Befunde führt uns Topper noch einmal vor Augen, dass wir prähistorische Kulturen und ihre Entwicklung nur vor dem Hintergrund einer völlig anderen Topographie der Vorzeit verstehen können. Gerade in Iberien liefert die Geologie dieses Großraums uns reichhaltige Beweise für masssive Veränderungen der Landschaft, die [ aktualistischen] Betrachtungsweisen der Vor- und Frühgeschichte Hohn sprechen.
Auch Hepke setzt gravierende geologische Veränderungen im Gebiet der Iberischen Halbinsel voraus, die etwa 2000 v. Chr. zeitweise tatsächlich den Charakter einer Großinsel gehabt haben soll. (Abb. 1) Sein Szenario (siehe: Puerto de Santa Maria - Atlantis II in Iberien sowie: Das Land der Basken, eine atlantische Insel in Europa) sieht dagegen nur zwei atlantische Hochkulturen vor, ein späteiszeitliches Inselreich im Atlantik Atlantis (I) und ein Atlantis (II) der Bronzezeit in Iberien, bei dem heutigen Ort Puerto de Santa Maria, zwischen Cadiz und Xeres de la Frontera. Insofern tritt Hepke genau in die 'Fußstapfen' seiner berühmten Vorgängerin Wishaw, die ebenfalls von einem zentralatlantischen Ur-Atlantis ausging.
Die iberische Ur- und Frühgeschichte dürfte heute, zu Beginn des neuen Millenniums, zu den interessantesten und erfolgversprechendsten Forschungsfeldern der Atlantologie gehören. Dazu hat nicht zuletzt auch die Ausweitung der archäologischen Atlantisforschung auf diejenigen, ausgedehnten Gebiete beigetragen, die heute weit unterhalb des Meeresspiegels liegen, vor Jahrtausenden aber noch zum Festland gehörten. Gerade die prähistorischen Relikte, die während der vergangenen Jahrzehnte in diesen ehemaligen Küstenregionen des atlantischen wie auch des west-mediterranen Iberien entdeckt wurden (siehe dazu auch: Maxine Asher: Atlantis lag vor Gibraltar), lassen ahnen, welche Überraschungen hier noch - sowohl für begeisterte Atlantis-Befürworter als auch für die erklärten Skeptiker und Verneiner - zu erwarten sind.
Team Atlantisforschung.de
Weitere Beiträge bei Atlantisforschung.de
Ein bronzezeitliches Atlantis bei Cadiz - die These von W. Wickboldt und W. Kühne (red)
Die Chronik von Atlantis (Uwe Topper)
Maxine Asher: Atlantis lag vor Gibraltar (A.M.R.A.)
Atlantis-Kolonie Andalusien - Das Lebenswerk der Elena Maria Whishaw (red)
Das Land der Basken, eine atlantische Insel in Europa (Jürgen Hepke)
Los Millares - eine atlantische Metropole im Land des Gadeiros ([ Helmut Tributsch])
Das Eiland Spartel - die Collina-Girard These (bb)
Tartessos - Atlantis in Südspanien? (Gerhard Gadow)
Anmerkungen und Quellen
(+x) Anmerkung: Elena Maria Wishaws faszinierendes Werk wurde 1994 von Adventures Unlimited Press als Reprint unter dem Titel 'Atlantis in Spain' neu veröffentlicht.
(+1) Quelle: Charles Berlitz, "Das Atlantis-Rätsel", Zsolnay, Wien / Hamburg 1976, S. 144
(+2) Anmerkung: Bereits im Alten Testament klagt der Prophet Jesaja: "Wehe Euch, ihr Schiffe von Tarschisch, denn es wurde verheert..."
(+3) Anmerkung: Sprague de Camp erläutert dazu in "Versunkene Kontinente" auf S. 207: "Zwischen 533 und 500 v. Chr wurden die Karthager im Gebiet der Säulen aktiv. Sie sandten Hanno die afrikanische Küste hinab, brachten Gades so weit, daß es sich unterwarf, und preßten Rom im Jahre 509 ein Abkommen ab, das ihr westliches Monopol festigte. Zur selben Zeit beauftragten sie einen anderen Admiral, Himilkon, >die Außenküste Europas zu erforschen<. Wie sein Kollege Hanno, veröffentlichte Himilkon nach seiner Rückkehr einen Bericht. Wir wissen dies aus einem poetischen Abriß des spätrömischen Dichters Rufus Festus Avienus."
(+4) Quelle: Lyon Sprague de Camp, "Versunkene Kontinente - Von Atlantis, Lemuria und anderen untergegangenen Zivilisationen", Heyne, München 1977, S. 209
(+5) Anmerkung: Sprague de Camp übernimmt hier unkritisch Schultens - bislang unbewiesene - Annahme, bei den von ihm am Guadalquivir entdeckten Relikten handle es sich definitiv um die Überreste von Tartessos.
(+6) Quelle: Sprague de Camp, S. 209, 210
(+7) Quelle: ebd., S. 209
(+8) Anmerkung: Diese Interpretationen gehen davon aus, dass Platons Atlantisbericht inhaltlich eine Synthese aus Episoden und Ereignissen darstellt, die tatsächlich an unterschiedlichen Orten und/oder während verschiedener Epochen stattgefunden haben.
Bild-Quellen
(1) www.tolos.de
(2) http://www.uv.es/~alabau/Image39.jpg
(3) E. M. Wishaw, "Atlantis in Spain"