Tributschs Atlantida-Exegese
Atlantis in der Bretagne - Betrachtungen zur Theorie des Helmut Tributsch - Teil II
(bb) Zu Beginn seiner Betrachtungen über Platon als Autor und die Entstehungsbedingungen der Atlantis-Dialoge bringt H. Tributsch einen kurzen Rückblick zur Entstehungsgeschichte des Atlantisberichts: "In seinem bekannten Dialog 'Politeia' (Der Staat) hatte er seine Vorstellungen vom idealen Staat [...] zum Ausdruck gebracht. Nun plante er eine Fortsetzung dieser Ideen, die er im Timaios niederschreiben wollte. Hier bot sich die Gelegenheit, das Thema Atlantis aufzugreifen.[...] Timaios sollte, zusammen mit den beiden darauffolgenden Kritias und Nomoi (Die Gesetze) eine Trilogie werden, ein dreiteiliges Werk. Leider wurde es nur bruchstückweise vollendet. Im Timaios sollte Platons Verwandter Timaios Ideen über die Entstehung der Welt und die Natur des Menschen vortragen.[...] Kritias sollte dann über den Krieg zwischen den Vorfahren der Griechen und Atlantis berichten. Hermokrates war als dritter Redner vorgesehen." [1]
Die Zeitangaben Platons für den Untergang von Atlantis (ca. 9600 BP) betrachtet Tributsch, vergleichbar mit den Jungzeitlern unter den Atlantologen, schlichtweg als "ein Mißverständnis": "Über eine solche Zeitspanne hinweg können natürlich keinerlei Überlieferungen erhalten sein, ganz zu schweigen davon, daß damals weder Hochkulturen noch eine Schrift existiert haben und die Menschen noch als Nomaden durch das Land zogen." [2] Auch sein Urteil über die Vertreter anderer Betrachtungsweisen fällt eindeutig aus: "Wer diesen Zeitpunkt von 9600 v. Chr. ernst nimmt, was viele Atlantisforscher getan haben, ist dazu verurteilt, eine Phantasiewelt aufzubauen, die sich weder auf archäologische noch auf gesicherte kulturelle Fakten stützen kann." [3]
Da Helmut Tributsch als Grundlage seiner eigenen Theorie auch die Authentizität des platonischen Atlantisberichts beweisen muss, steht er zunächst vor der Aufgabe, das Datierungs-Problem zufriedenstellend aufzulösen, mit dem er sich durch Platons Zeitangaben konfrontiert sieht: "Wir haben uns dieser Aufgabe gestellt und glauben, den Widerspruch gelöst zu haben. Der Angelpunkt liegt hierbei in den historischen Angaben, die der griechische Schriftsteller Herodot anläßlich seiner Ägyptenreise aufzeichnete. Um 450 v. Chr., also ein- einhalb Jahrhunderte nach der Reise Solons ins Pharaonenland und ungefähr zu Lebzeiten Platons, der die Atlantissage überlieferte, beschäftigt Herodot sich nämlich mit dem Ursprung Ägyptens. Wie seinerzeit Solon bezog Herodot seine Informationen nach eigenen Angaben ebenfalls von den ägyptischen Priestern im Nildelta. Im zweiten Buch seiner 'Historien' schreibt er:
>Bis zu diesem Punkt habe ich mich auf die Berichte verlassen, welche mir von den Ägyptern und ihren Priestern übermittelt worden sind. Sie erklären, daß den ersten König von Ägypten von dem letzten, den ich erwähnt habe - dem Priester von Hephaestus – dreihundertundeinundvierzig Generationen trennen, und daß es für jede Generation einen König und einen Hohepriester gab. Wenn man nun für drei Generationen hundert Jahre nimmt, machen dreihundert Generationen zehntausend Jahre und die restlichen einundvierzig Generationen machen zusätzlich 1340 Jahre; somit bekommt man insgesamt 11340 Jahre.<" [4]
Dieser antiken Herodot-Chronologie mittels Pharaonen-Listen läßt Tributsch nun eine langatmige und unnötig kompliziert formulierte Argumentation folgen, die hier unmöglich wiederzugeben ist. Letztlich wirft er Herodot und - analog dazu - Solon einen Umrechnungsfehler, mithin ein "Versehen", vor, welches er "unter Zuhilfenahme moderner Ergebnisse der Ägyptenforschung" so auflöst, dass aus seiner Sicht alles zusammenpasst.
Mit dieser Argumentation meint Tributsch, das Problem der chronologischen Inkompatibilität des platonischen Atlantisberichts zu den Vorstellungen heutiger Historiker gelöst zu haben. Eine derartige Chonologie-Revision mittels "Verwechslungstheorien" bezüglich des multiplen altägyptischen Kalendariums ist keineswegs neu (und sie war es auch 1985 nicht, als sein Buch erschien), sondern sie stellt lediglich seine individuelle Variation altbekannter Standard-Vorgehensweisen aller "schulwissenschaftlich" orientierten Atlantisforscher dar, die wir hier nicht weiter zu besprechen brauchen. (Mehr dazu bei Atlantisforschung.de unter: Atlantida-Exegese). Es möge als Hinweis genügen, dass bereits Diodorus Siculus in diesem Zusammenhang eine Verwechslung ägyptischer Sonnen- und Mondjahre vermutet hat.
Tributschs Atlantida-Exegese hat im Detail aber auch Interessantes zu bieten. So arbeitet der Forscher etwa in vorbildlicher Weise einige wesentliche, Platons Lebenslauf und die Entstehungsgeschichte seines Spätwerks betreffende, Punkte heraus, deren Kenntnis für eine stimmige Interpretation der Atlantida zwingend notwendig sind. So bemerkt er beispielsweise: "Um das Jahr 355 v. Chr. stand Platon bereits im achten Jahrzehnt seines Lebens. [...] Platon war ein alter Mann geworden, aber noch hatte er nicht alles verraten, was er wußte. So begann er niederzuschreiben, was ihm mehr Ruhm einbringen sollte als alle übrigen Schriften. [...] Der griechische Philosoph wählte die Form des Gesprächs für sein Wissen, das der Nachwelt also in Dialogen erhalten ist." [5]
Tributsch tritt nun der Vorstellung entgegen, Platons Atlantisbericht sei von seinem Autor tatsächlich beendet worden, nach dessen Tode jedoch aus ideologischen (politischen oder religiösen) Gründen gezielt 'verstümmelt' und zensiert worden, indem ein wesentlicher Teil des Manuskripts im nachhinein vernichtet wurde. Ohne sich explizit von solchen, rein spekulativen, Verschwörungstheorien zu distanzieren, hält er eine Erklärung für das Fehlen des 'Finales' der Atlantida bereit, die sich stimmig aus Vita und Lebenssituation des greisen Philosophen heraus ableiten und belegen läßt:
"Platon beendete dieses für uns so spannende Gespräch über Atlantis nicht. Er versuchte, den Faden dieser Erzählung im nächsten Dialog Kritias weiterzuspinnen. Wie ein Dramatiker, der für die Geschichte seines Helden nicht den richtigen Rahmen gefunden hat, brach er dann aber plötzlich ab. Er schrieb offenbar am letzten Dialog, Nomoi, weiter und starb, bevor die restlichen Bruchstücke der Geschichte von Atlantis für die Nachwelt an Land gezogen werden konnten." [6]
Auch mit dem häufig bestrittenen Wahrheitsgehalt der Atlantida, also mit der Frage, ob Platons Erzählung einen - tendentiell - fiktionalen oder historischen Charakter aufweist, beschäftigt sich Tributsch eingehend in einem kompletten Kapitel ("DICHTUNG ODER WAHRHEIT?") seines Buches, in dem er u.a. auch interessante Zitate aus der klassischen Literatur (darunter Aussagen von Proklos, Diodorus Siculus [7] und Aelian) präsentiert. Bei letzterem (er lebte ca. 200 n. Chr.) lassen sich beispielsweise weitere Details über Atlantis finden, die uns Platon vorenthält: "Er berichtet, daß die alten Könige von Atlantis, welche vom Meeresgott Poseidon abstammten (nach Überlieferungen von Bewohnern der Ozeanküste), als Zeichen der Würde Kopfbänder aus der Haut von Seewiddern trugen. Die Königinnen trugen ihrerseits Stirnbänder von weiblichen Seewiddern." [8]
Zusammenfassend müssen wir allerdings feststellen, dass Tributschs Atlantida-Exegese – obwohl sie einige wertvolle Hinweise zu Platons Vita und zur Interpretatiion der Timaios- und Kritias-Dialoge enthält - insgesamt verengt und auf die Stützung seines Gavrinis-Lokalisierung zurecht geschnitten ist. Trotz ihrer guten Ansätze muss sie daher 'eindimensional' und an der Oberfläche des Verständnisses bleiben. In seinem Bemühen, Platon Flüchtigkeitsfehler nachzuweisen, um seine persönlichen Thesen in Einklang mit dem Atlantisbericht zu bringen, vernachlässigt Tributsch u.a. eine eingehende und umfassende Untersuchung desjenigen Quellen-Materials der Atlantida, das ihn für seine Präsentation nicht zu interessieren scheint: des proto-hellenischen Komplexes.
Da er somit - wie viele Atlantisforscher - geflissentlich ausblendet, dass zumindest EIN TEIL des im Atlantisbericht verarbeiteten Materials NICHT aus dem Neolithikum/Mesolithikum (und ebenfalls NICHT aus dem Oberen Paläolithikum) stammen kann, sondern eindeutig bronzezeitlichen bzw. spät- mykenischen Ursprungs ist, verkennt er (ebenso wie diejenigen, die einzig auf die Bronzezeit fixiert sind) völlig den synthetischen Charakter der Atlantida, in der Platon offenbar Überlieferungen aus unterschiedlichen, chronologisch zu differenzierenden, Perioden zusammengeführt und miteinander verschmolzen hat.
Fortsetzung:
Anmerkungen und Quellen
Fußnoten:
- ↑ Quelle: Helmut Tributsch, "Die gläsernen Türme von Atlantis - Erinnerungen an Megalith-Europa", Frankfurt am Main (Ullstein), 1986, Seiten 96-97
- ↑ Quelle: H. Tributsch, op. cit. Seite 140; --- Red. Anmerkung: Wir bezweifeln, z. B. angesichts der Funde von Glozel, (siehe dazu auch: Streit um die Urschrift) entschieden Tributschs diesbezügliche Annahmen.
- ↑ Quelle: ebd.; Red. Anmerkung: Wir glauben, auf diesen Internet-Seiten genügend handfeste Anhaltspunkte, 'weiche' und 'harte' Evidenzen, präsentieren zu können, um auch diese Behauptung von Herrn Prof. Tributsch zurückweisen zu dürfen.
- ↑ Quelle: H. Tributsch, op. cit., S. 140
- ↑ Quelle: ebd., S. 96
- ↑ Quelle: ebd., S. 97
- ↑ Anmerkung: Diodorus Siculus wird von H. Tributsch (op. cit., Seite 112) wie folgt zitiert: "Wie der Bericht fortfährt, ließen sich die Amazonen, von der Stadt Cherronesos ausgehend, auf große Abenteuer ein. Ein Bedürfnis hatte sie übermannt, viele Teile der bewohnten Welt zu überfallen. Das erste Volk, gegen das sie der Sage nach vorgingen, waren die Atlantioi, die zivilisiertesten Menschen unter den Bewohnern dieser Region, welche in einem reichen Land lebten und große Städte besaßen. Unter sie verlegt, wie man uns erzählt, die Mythologie die Geburt der Götter in die Gebiete, welche entlang der Ozeanküsteliegen. In dieser Hinsicht stimmen sie mit den Griechen überein, welche Legenden erzählen und darüber werden wir im einzelnen später sprechen. Nun stellte die Königin der Amazonen, Myrina, wie man berichtete, eine Armee von 30 000 Fuß-Soldaten und 3000 Reitern auf. Nachdem sie in das Land der Atlantioi einfielen, besiegten sie die Einwohner der Stadt >Kerne< in einer offenen Feldschlacht. Die Atlantioi, von Schrecken ergriffen, lieferten ihre Städte unter Kapitulation aus und verkündeten, daß sie alles machen würden, was man ihnen befiehlt. Die Königin Myrina, welche sich den Atlantioi gegenüber ehrenhaft verhielt, schloß Freundschaft mit ihnen und begründete eine Stadt, welche ihren Namen tragen sollte anstelle von >Kerne<, welche ausradiert worden ist." Zu der Entstehungsgeschichte der Atlantioi heißt es dort (Tributsch, S. 112, 113): "Nach dem Tod von Hyperion, erzählt die Sage, wurde das Königreich zwischen den Söhnen von Uranos geteilt, unter denen die Bekanntesten Atlas und Kronos waren. Von diesen Söhnen erhielt Atlas als seinen Anteil die Gebiete an der Küste des Ozeans (des atlantischen), und und er gab nicht nur seinem Volk den Namen Atlantioi, sondern nannte den größten Berg in seinem Land Atlas. Es heißt auch, daß er die Wissenschaft von der Astrologie vervollkommnet hat und er der erste war, der der Menschheit die Lehre von der Kugel vermittelt hat; und es war aus diesem Grunde, daß sich die Idee durchsetzte, daß der ganze Himmel auf den Schultern des Atlas ruhte. Atlas, erzählt die Sage weiter, hatte auch sieben Töchter, welche als Gruppe nach ihrem Vater Atlantiden genannt werden; aber ihre einzelnen Namen waren Maia, Elektra, Taygete, Sterope, Merope, Halkyone und schließlich Kelaino. Diese Töchter vermählten sich mit den angesehensten Helden und Göttern und wurden die ersten Vorfahren des größten Teils der menschlichen Rasse..."
- ↑ Quelle: H. Tributsch, op. cit., S. 110
Bild-Quellen:
- 1-3) Bild-Archiv Atlantisforschung.de