Alfred Baumgartner: Nacht über Atlantis (Rezension)

Über A. Baumgartners Roman und sein Atlantis

Abb. 1 A. Baumgartner, Nacht über Atlantis, Wien (Omnibus Verlag), 1979, 382 Seiten - Gestaltung des Schutzumschlags: Ingrid Thom

(bb) In der Frühzeit der Fantasy-Literatur im deutschsprachigen Raum erschien auch der im Jahr 1976 veröffentlichte [1] und 1979 [2] sowie 1980 [3] bei verschiedenen Verlagen erneut aufgelegte Roman "Nacht über Atlantis" des profilierten österreichischen Autors Alfred Baumgartner (1904-1991).

Zu diesem - vorweg bemerkt: höchst beachtenswerten! - Buch und seinem Verfasser ist zunächst einmal festzustellen, dass Baumgartner zu jenen Atlantis-Romanautoren gehörte, die sich nicht einfach ohne näheren Zugang zur Materie des Themas bemächtigen, sondern augenscheinlich nicht nur gründlich Platons Original-Bericht gelesen, zudem aber auch Literatur aus dem Bereich der Atlantisforschung studiert haben, bevor sie sich an die Abfassung ihrer Werke machten. Was letztgenannte Fachliteratur betrifft, so gehörten mit Sicherheit die Schriften Ignatius Donnellys und Baumgartners Landsmannes Otto Muck zum Fundus des Materials, das der Autor nutzte, um ein ebenso detailreiches wie in sich stimmiges und auch Kenner der Materie überzeugendes Szenario entwickeln zu können, das auf der Annahme einer vormaligen Großinsel im Atlantik als Heimat einer weit prähistorischen Hochkultur beruht.

Baumgartners Atlantis ist ein sich weit über den eigentlichen Inselkontinent im Atlantik ausdehnendes, nahezu weltumspannendes, polyethnisches und quasi multikulturelles Kaiserreich. Die Sozialstruktur ist geprägt von einem Kastensystem, auf dessen Basis die uralten Traditionen aus der Frühzeit des Reiches gepflegt und aufrecht erhalten werden, obwohl sie längst keinen Sinn mehr machen. Überhaupt erscheint sein Atlantis, was ist in Hinsicht auf Platons Erzählung keineswegs unpassend ist, eher als Dystopia denn als Utopia. Die Staatsreligion bringt Menschenopfer dar (zumeist verteilte 'Verbrecher', die in einen Vulkankrater geworfen werden), die Justiz arbeitet mit Folter, Einschüchterung und Todesstrafe, und das patriarchal strukturierte System hindert Frauen weitgehend daran, politische Führungspositionen zu übernehmen.

Einige dichterische Freiheit erlaubte Alfred Baumgartner sich in Bezug auf den 'großen Krieg', welchen Platon dem Untergang von Atlantis vorausgehen lässt. Diese militärische Auseinandersezung, die im Atlanticus zwischen den Atlantern und den Athenern (samt Allierten) ausgetragen wird, macht er zu einem militärischen Konflikt zwischen dem atlantischen Kaiserreich der westlichen Hemisphäre und seinem östlichen Gegenpart Gondwana, der sich 50 Jahre vor den im Roman geschilderten Ereignissen zugetragen hat - und bei dem die siegesgewohnten Atlanter unerwartet 'den Kürzeren zogen'.

Abb. 2 Das Frontcover der Lizenzausgabe von Alfred Baumgartners Atlantis-Roman, die ca. 1980 bei Bertelsmann erschienen ist

Abgefasst ist der Roman in Form einer sehr persönlich gehaltenen Chronik, die wenige Jahrzehnte nach der Atlantis-Katastrophe von der Figur des Erzählers, einem vormaligen Zollbeamten mit Namen Echnamar aus Atlan, der Hauptstadt des Inselkontinents, verfasst wurde. Diese Chronik wurde, wie Baumgartner augenzwinkernd feststellt, "sorgsam übertragen. Nur geographische Bezeichnungen, politische und militärische Ausdrücke, Maße und ähnliches sind sind der leichteren Verständlichkeit zuliebe in zeitnaher Form wiedergegeben." [4]

Was ihren technologischen Entwicklungsstand betrifft, ist die Zivilisation der Atlantier bei Baumgartner im Grundsatz fortschrittlicher als von Platon geschildert. Es scheint dort z.B. Druckmaschinen zu geben, denn Echnamar spricht davon, dass man auf Atlantis Zeitung liest, und eilige Nachrichten werden über ein System von Spiegeltelegraphen übermittelt. Es gibt sogar Fluggeräte, Sprengstoffe und ähnliches, aber die sind keineswegs Bestandteil des Alltagslebens: "Wir Angehörige der Priester- und Beamtenkaste", erklärt Echnamar den Lesern, "die Kasten der Kaufleute, Handwerker Soldaten und Bauern, wie das übrige Volk der Kastenlosen und Sklaven waren von all dem ausgeschlossen. Wir wussten zwar, daß da vieles Wunderbare, Unverständliche war, woran wir keinen Anteil hatten. Man konnte nur den Mund vor Staunen aufreißen, wenn die Rauch und Feuer speienden Maschinen durch die Luft sausten, wenn in den Tempeln und öffentlichen Gebäuden kaltes Licht ohne Feuer alles in erschreckende Helligkeit tauchte..." Die Fürsten der Herrscher-Kaste "verbrachten ein Leben für sich mit ihrem Wissen um alles, mit ihrer hochentwickelten Technik, mit ihren seltsamen Gebräuchen und ihrer unbeschränkten Macht." [5]

Über den Inhalt des Romans - eine Einführung

Die Handlung des Romans beginnt damit, dass Echnamar nach einem One-Night-Stand mit Lechnon, einer rothäutigen Atlanto-Amerikanerin 'aus gutem Hause', zur Ehe mit ihr gezwungen wird. Sehr schnell stellt sich diese Verbindung als Mesalliance heraus. Nicht nur, dass die beiden Eheleute rein gar nichts verbindet - Lechnon nimmt es ihrem Gatten übel, dass die arrangierte Ehe mit ihm sie um die Chance gebracht hat, als Fürsten-Konkubine gesellschaftlich aufzusteigen und Einfluss zu erlangen - eine der wenigen Karriere-Optionen, die Frauen in der patriarchalen Gesellschaft des Atlanter-Imperiums haben.

Abb. 3 Nur zwei Dinge sorgten in Echnamars Leben für Schmerz und Leid: Die Atlantis-Katastrophe - und seine Ehe mit der herzlosen und vom Ehrgeiz zerfressenen Lechnon. Die Katastrophe hatte er einige Jahrzehnte später verarbeitet und verkraftet, aber über seine Ex-Frau heißt es in seiner Chronik: "Sie sei verflucht! Sie ist tot, wie alle anderen. Trotzdem: Sie sei verflucht!"

Auch dass Echnamar durch die Protektion seiner Schwiegermutter zum Leiter des Zoll- und Abgabenamtes der Stadt Warun in der Atlanter-Provinz Oberitalien befördert wird, macht die Sache für ihn nicht besser. Abgesehen davon, dass er seine Heimatstadt auf Atlantis nur ungerne verlässt und keineswegs an einem hochrangigen Posten mit großer Verantwortung interessiert ist, zwingt ihn der verschwenderische Lebensstil seiner Gattin schon bald, Bestechungsgelder anzunehmen. Der ehelichen Kälte entflieht er, indem er sich mit anderen Frauen tröstet und schließlich, etwa zehn Jahre nach seiner Versetzung nach Italien, eine heimliche Liebesbeziehung mit Nahi, der Tochter eines kastenlosen, aber 'stinkreichen' einheimischen Geschäftsmann namens Niras eingeht, der zu seinen großzügigsten 'Sponsoren' gehört.

Währenddessen bandelt Lechnon mit Fürst Maros an, dem Gouverneur der Provinz, wobei Liebe offenbar keine besondere Rolle spielt, denn Echnamar bemerkt dazu: "Lechnon war nicht der Mensch, von einem beschlossenen Plan abzulassen. Von ihrer frühen Jugend an hatte sie die Absicht, Fürstenkonkubine zu werden, nicht aufgegeben. Sie wollte das gewohnte Leben mit der Fürstenkaste wieder aufnehmen. Jetzt war die Gelegenheit geboten. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie zu allem bereit war, an dieses Ziel zu kommen." [6]

Da die strengen Kastengesetze atlantischen Beamten weder die Scheidung noch Polygamie erlauben, plant Echnamar die gemeinsame Flucht mit der inzwischen schwangeren Nahi nach Gondwana im fernen Osten, dem vormaligen Kriegsgegner der Atlanter. Dazu kommt es jedoch nicht mehr. Obwohl Echnamar seine Frau und ihre ehrgeizigen Ziele durchaus richtig eingeschätzt hat, ahnt er nicht, wie weit sie zu gehen bereit ist, um sich ihres lästigen Gatten zu entledigen. Tatsächlich zeigt sie ihn bei Gouverneur Maros wegen Bestechlichkeit an, eiskalt kalkulierend, dass Echnamar damit das Todesurteil droht. Er und seine 'Geschäftsfreunde' werden daraufhin verhaftet und eingekerkert. Niras und ein weiterer Inhaftierter überleben die Torturen der Verhöre nicht, woraufhin Echnamar alles gesteht, was man ihm vorwirft, um wenigstens von der Folter verschont zu bleiben.

Nur knapp entgeht Echnamar danach einem scheußlichen Tod als 'Bärenfutter', den ihm ein atlantischer Fürst zugedacht hat. Er kann in die Wildnis fliehen, wo er in einer Höhle den Kataklysmus überlebt, der Atlantis und seine Kolonien ausradiert und das Gesicht der Welt völlig verändert. Nachdem sich die tobenden Elemente wieder beruhigt haben, beginnt die eigentliche Geschichte des vormaligen Zollbehörden-Leiters. Die Leser/innen erleben seine Streifzüge durch verwüstete Landstriche, in denen die Überlebenden ein primitives Dasein zu fristen beginnen, werden Zeugen gescheiterter Versuche eines Wiederaufbaus atlantischer Kolonien, und erfahren in einem Rückblick Einzelheiten über den glücklosen Feldzug der Atlanter gegen das Reich von Gondwana.


Addendum

Alfred Baumgarters katastrophistisches Szenario aus "Nacht über Atlantis"

Abb. 4 Am 5. Juni des Jahres 8498 v.d.Z. stürzte um etwa 20 Uhr ein Planetoid beim 75. Längengrad in den Atlantischen Ozean. (Graphik: ESA)

"Am 5. Juni des Jahres 8498 vor unserer Zeitrechnung gegen etwa 20 Uhr Ortszeit fiel ein Planetoid aus der Adonisgruppe unweit des nördlichen Wendekreises beim 75. Längengrad in den Atlantischen Ozean. Durch eine Konjunktion Erde - Mond - Venus - Sonne aus seiner Ellipsenbahn gerissen, war der kleine Sonnentrabant dem Anziehungsbereich der Erde zu nahe gekommen.

Der Himmelskörper hatte einen Durchmesser von ungefähr 10 Kilometer. Sein Gewicht betrug mehr als zwei Billionen Metertonnen. Die Fallgeschwindigkeit ist mit 20 Kilometer in der Sekunde errechnet worden, so daß die Aufschlagwirkung der Explosion von 30.000 geballten Wasserstoffbomben gleichzusetzen ist.

Das war die größte, folgenschwerste Katastrophe, die je über unsere Erde hereingebrochen ist, seit es darauf Menschen gibt. Der hereinstürzende Wandelstern durchschlug den Boden des Meeres und riß ihn in einer Länge von mehreren tausend Kilometern auf, so daß:

die amerikanische Küste von Neufundland bis zum Amazonas und die Westküsten Europas und Afrikas in ägnlicher Weise bis viertausend Meter tief absackten;
die Umrisse der Kontinente vollständig veränderte Gestalt annahmen, Gebirge um Hunderte von Metern höher wurden oder niedriger, Inseln neu entstanden oder verschwanden;
Abb. 5 Die ca. 400.000 Quadratkilometer große, zwischen Afrika und Amerika gelegene Insel Atlantis versank binnen weniger Stunden mit ihren 64 Millionen Bewohnern im Meer.
die Landbrücken, welche Afrika mit Italien und Spanien verbanden, einbrachen;
gewaltige Erdbeben die Länder erschütterten und zertrümmerten, tausende Vulkanausbrüche alles in ihrem Umkreis verbrannten, zerschmolzen, überschütteten und durch Giftgase Menschen und ganze Tierrassen in weiten Teilen der Erde bis zu beiden Polen erstickten;
eine immense Flutwelle mehrfach um den Globus gepeitscht wurde;
die 400.000 Quadratkilometer große, zwischen Afrika und Amerika gelegene Insel Atlantis, die den politischen und kulturellen Mittelpunkt des vom Indus bis zu den Anden reichenden atlantidischen Kaiserreiches bildete, mit 64 Millionen Einwohnern in kurzen Stunden versank.

Das bis in die Jonosphäre hinaufgeschleuderte feurig-flüssige Magma aus der Einbruchstelle im Ozean, die Lava aus den tobenden Vulkanen, vermischt mit Wasser und Dampf des explodierten Meeres, fiel als wochenlanger Schlammregen nieder, überdeckte das riesige Feld aus Trümmern und Leichen und erstickte und ertränkte, was Flut, Erdbeben und Vulkane zu töten und zu vernichten übriggelassen hatten.

Man schätzt, daß mehr als die Hälfte der Erdoberfläche von diesem Elementarereignis in Mitleidenschaft gezogen wurde. Da es sich dabei um die dichtest bevölkerten und die höchstkultivierten Landstriche handelte, sind wohl sechs bis sieben Zehntel der damaligen Menschheit umgekommen.

Das inmitten der Vernichtungszone gelegene Weltreich Atlantis, seine Provinzen in West- und Nordafrika, Vorderasien, Griechenland, Italien, Südfrankreich, Iberien, Südengland und Irland, die Kolonien in Mittel- und Südamerika mit vielen volkreichen Städten und hochentwickelten Kulturen sind bis auf wenige Reste ausgetilgt, zerschlagen worden.

Abb. 6 Die Vernichtung wirkte fort, bis der letzte Mensch verschwunden war, der Zeugnis von Atlantis in all seiner Pracht hätte geben können.

Auch im Raume zwischen Indien und Australien befand sich bis zu dieser Zeit ein ausgedehntes Land, wovon allerdings nur spärliche Nachrichten auf uns gekommen sind. Lediglich soviel wissen wir, daß sich auf dieser Brücke zwischen den östlichen Kontinenten ein bedeutendes Kultur- und Zivilisationszentrum entwickelt hatte. Welche Ausmaße die Weltkatastrophe im einzelnen dort genommen, können wir nur entfernt vermuten. Sicher ist, daß der Hauptteil dieses Landes damals in das Meer gestürzt und nur eine Reihe von Inseln übrig geblieben ist.

Zu dieser Stunde ist der Uhrzeiger der Menschheitsgeschichte von der blinden Gewalt der Natur auf Null zurückgeworfen worden. Alles mußte neu beginnen. Jahrtausende mußten vergehen, bis sich Erde und Menschheit von diesem Schlag erholten. Denn der Überlebenden, welche die Tradition des atlantischen Reiches hätten fortsetzen können, waren zu wenig.

Verschont blieben vor allem Völker, die sich aud ihrem Dasein zwischen Hunger und Angst noch nicht erhoben und an Leben und Kultur der Völkergemeinschaft von Atlantis nicht teilgenommen hatten. Und die Einzelnen, welche einen Wiederaufbau der Vergangenheit aus den Trümmern und Erinnerungen, wenn auch im kleinsten Rahmen versuchten, scheiterten, mußten scheitern an den gänzlich veränderten Verhältnissen.

Die Vernichtung wirkte fort, bis der letzte Mensch verschwunden war, der Zeugnis von Atlantis in all seiner Pracht hätte geben können, wirkte fort, bis auch jeder Gedanke daran verweht war. Was da in den ehemaligen Provinzen des Kaiserreiches an Staaten und Städten im Jahrhundert nach dem Untergang gegründet und aufgebaut wurde, waren nur vergebliche Versuche.

Aus den letzten Scherben der zerschlagenen Hochkultur konnten nichts als Zerrbilder der zertrümmerten Vergangenheit entstehen. Mit dem Tode der Männer, die Atlantis noch gesehen und eine Ahnung der entschwundenen Größe über diese bedeutendste Zeitgrenze der Geschichte der Menschheit gerettet haben, sind auch diese Unternehmungen zu Grunde gegangen. Einzelne Glieder des auseinandergerissenen Reiches zuckten noch eine weile nach, bis sie erstarrten und sich der Auflösung ergaben.

Atlantis ist untergegangen ganz und gar. [7]



Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Anmerkung: Jedenfalls stammt die früheste dem Rezensenten bekannte Ausgabe des Romans aus diesem Jahr. Siehe: Alfred Baumgartner, "Nacht über Atlantis", Wiener Verlag, 1976
  2. Siehe: Alfred Baumgartner, "Nacht über Atlantis", Wien (Omnibus Verlag), 1979 (Abb. 1)
  3. Siehe: Alfred Baumgartner, "Nacht über Atlantis", Gütersloh (Bertelsmann), 1980
  4. Quelle: Alfred Baumgartner, op. cit. (1979), S. 7
  5. Quelle: ebd., S. 26
  6. Quelle: ebd., S. 45
  7. Quelle: ebd., S. 5-7

Bild-Quellen:

1) Ehrigabonauten2.gif
villa-galactica.de, unter: Doublettenverkauf (Autoren A-F) (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
2) Bertelsmann / Bild-Archiv Atlantisforschung.de
3) Léon Bakst bei Wikimedia Commons, unter: File:Terror Antiquus by L.Bakst (1908).jpg
4) ESA, nach: Its A Strange World., unter Earth's Water Likely From Asteroid Impact
5) Wolter Smit, "Was This Atlantis? Examination of the possible location and the reason of its disappearance", unter: Downloads
6) Dovilio Brero (nach: Dovilio Brero the Atlantean) / Bild-Archiv Atlantisforschung.de