Wilhelm Brandenstein

Abb. 1 Der Historiker und Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Wilhelm Brandenstein (1898-1967)

(red) Der österreichische Altphilologe und Historiker Wilhelm Brandenstein (* 23. Oktober 1898 in Salzburg; † 1. Dezember 1967 in Graz) war von 1941 bis 1967 Leiter des Instituts für vergleichende Sprachwissenschaften an der Universität Graz. Er verfasste Werke über die altpersische und die altgriechische Sprache sowie zu historischen Fragen, z.B. zur Herkunft der Etrusker. [1]

Besondere Bedeutung für die moderne Atlantisforschung erhielt Prof. Dr. Brandensteins Wirken durch seine wissenschaftliche Beschäftigung mit Platons Atlantisbericht. Im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Fachwissenschaftlern kam er nämlich aufgrund seiner literarkritischen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass Atlantis keine Erfindung des Athener Philosophen sei, sondern eine historische Überlieferung darstelle, die seiner Meinung nach mit Reminiszenzen an die minoische Kultur in Verbindung zu bringen ist.

Mit seinen Forschungsergebnissen beinflusste Wilhelm Brandenstein u.a. die Arbeit des deutschen Atlantologen Jürgen Spanuth und, in besonderem Maße, die des italienischen Archäologen und Atlantisforschers Massimo Pallottino, der das Atlantis-Problem in seinem Artikel 'Atlantide', an die Adresse seiner Berufskollegen gerichtet, demonstrativ zur "offenen Frage" erklärte. [2]

In seinem, 1951 unter dem Titel "Atlantis – Größe und Untergang eines geheimnisvollen Inselreiches" (Abb. 2) erschienenen, Hauptwerk zum Thema 'Atlantis' ging Brandenstein zunächst der Frage nach, in welcher Weise Platons Atlantis-Erzählung zu interpretieren sei bzw. welcher literarischen Gattung man sie zuzurechnen habe.

Dazu untersucht und definiert Brandenstein zunächst, was unter Begriffen wie Mythos, Legende, Sage und Märchen überhaupt zu verstehen ist, um dann auf dieser Grundlage deduktive Ableitungen bezüglich der Atlantida vornehmen zu können. Auf diesem Wege weist er zunächst die unter seinen KollegInnen gängige Annahme zurück, es handele sich bei ihr um einen Mythos. Thorwald C. Franke bemerkt dazu: "Für Brandenstein kann die Atlantis-Erzählung kein Mythos sein. Dies erschließt sich zunächst aus der Definition des Mythos, nach der der Kern eines Mythos aus einem unerklärlichen Sachverhalt gebildet wird, der durch den Mythos intuitiv und anthropomorph statt rational erklärt wird. Die Atlantis-Erzählung ist jedoch eine diesseitige und mit mehrfachen Belegen untermauerte Darlegung.

Abb. 2 Das Atlantis-Buch von Wilhelm Brandenstein aus dem Jahr 1951

Ein zweites Argument ist der Vergleich mit typischen Beispielen mythischer Erzählungen. Brandenstein destilliert aus ihnen ein Grundschema heraus, das allen diesen Erzählungen zugrunde liegt, und zeigt: Die Atlantis-Erzählung weicht in einem entscheidenden Punkt von diesem Grundschema ab: Am Ende sind nicht nur die 'Bösen', d.h. die Atlanter, sondern auch die 'Guten', d.h. die Ur-Athener, dem Untergang geweiht." [3]

Auch eine "mythische Allegorie" , also eine von Platon zur Illustration seiner Ideen erfundene, 'künstliche Mythe' (siehe: Platonischer Mythos) schließt Brandenstein im vorliegenden Fall kategorisch aus. Dazu Franke: "Hauptgrund für diese Ansicht ist Brandensteins Überzeugung, dass die Atlantis-Erzählung ihre Funktion in dem von Platon vorgegebenen Kontext nur dann erfüllen kann, wenn es sich um eine wahre Geschichte handelt. Die Absicht Platons sei es ja, einen Beleg für die Richtigkeit seiner staatspolitischen Thesen zu liefern. Demgemäß enthalte die Atlantis-Erzählung auch eine Beweisführung für ihre Richtigkeit sowie Wahrheitsbeteuerungen, die für die literarische Gattung einer mythischen Allegorie völlig unpassend seien." [4]

Die Möglichkeit, dass es sich bei der Atlantida um eine Art historischen oder historisierenden Roman handeln könne, stellte Brandenstein ebenfalls entschieden in Abrede, wobei er darauf verwies, dass sich dieses literarische Genre erst viel später entwickelt habe. [5] Davon abgesehen, war Platon ohnehin alles andere als ein Romanautor: "Dazu zieht Brandenstein die Auffassung von Wilamowitz bei: Platon habe nie eine Erzählung geschrieben, geschichtliche Stoffe hätten ihn nie gereizt, die Historiker seines Volkes habe er ganz beiseite gelassen. Seine Lust am Fabulieren sei schon längst erstorben gewesen. Es wäre also 'wahrlich merkwürdig', wenn Platon einen Roman geschrieben hätte." [6]

Stattdessen kommt Brandenstein zu dem bedeutsamen Schluss, Platons Atlantisbericht sei literarisch den Sagen [7] zuzurechnen, wobei sein Verfasser durchaus historische Überlieferungen verarbeitet habe, "und dass er keineswegs ‘mit lächelndem Ernst’ Erdichtetes darbieten wollte." [8] Dabei erweist Brandenstein sich mit seinen Überlegungen zu unterschiedlichen - ägyptischen und proto-hellenischen Quellenkomplexen durchaus als Vorläufer heutiger Synthese-Theorien bzw. ihrer Verfechter, da bereits er davon ausging, "dass Solon zwei verschiedene Erzählungen irrtümlich zu einer verknüpfte: Aus Ägypten habe er Kenntnisse über die Seevölkerkriege gehabt, aus Athen hingegen Überlieferungen über die Auseinandersetzungen zwischen Kreta und Athen, wie sie tatsächlich in bekannten Mythen belegt sind. Damit glaubt Brandenstein, dass nur ein Teil der Atlantis-Überlieferung aus Ägypten stamme." [9]

Abb. 3 Die Metropolis von Atlantis nach Wilhelm Brandensten, 1951

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zu den eigentlichen Quellen und zum Überlieferungsweg der Atlantida - mit denen Brandenstein, was die (verifizierende) Exegese des Atlantisberichts angeht, für die heutige Atlantisforschung Standards gesetzt hat - wird auch seine Übernahme der kreto-minoischen Atlantis-Lokalisierung [10] nachvollziehbar, die heute im atlantologischen Diskurs kaum noch eine Rolle spielt, und auch von ihm argumentativ nur vergleichsweise schwach untermauert werden konnte, wie auch Franke bemerkt: "Über die Hypothese, dass Kreta Atlantis sei, sagt Brandenstein manches Bedenkenswerte, im Ganzen jedoch weist seine Argumentation immer mehr Lücken auf bzw. gleitet in Spekulationen ab. [...] Wesentlich besser belegt sind Brandensteins Überlegungen zur Einordnung des Atlanterkrieges in die mykenische Chronologie. Damit grenzt er den Zeitpunkt zwischen 1700 v.Chr. und dem Trojanischen Krieg um 1200 v.Chr. ein." [11]

Was die Betrachtung anderer Atlantis-Lokalisierungen und Modelle zur Interpretation des platonischen Atlantisberichts angeht, grenzte Brandenstein sich und seine Arbeit vordringlich gegenüber zwei Lagern ab, die er typologisch mit den Begriffen "Romantiker" und "Skeptiker" erfasste. Zu den erstgenannten rechnete er vor allem die Vertreter der 'klassischen' Auslegung der Atlantida, "die an ein Atlantis glauben, dass tatsächlich vor 10000 Jahren im Atlantik versunken sein soll. Ihnen hält er entgegen, dass in der Steinzeit niemand von einer solchen Insel hätte wissen können, und dass Untersuchungen des Meeresbodens zweifelsfrei ergeben hätten, dass eine solche Insel niemals existiert habe. Den Romantikern fehle die nötige Vorstellungskraft und Einfühlungsgabe, um die Problematik zu erfassen; statt dessen hätten sie ihre Freude am Fortwuchern ihrer eigenen Phantasien." [12] Die "Vorstellung, dass die Insel Atlantis im Atlantik gelegen habe, habe Platon aus dem Wissen seiner Zeit geschlossen. Der originale Atlantis-Bericht habe aber über den Atlantik noch nichts berichten können, weil dieser noch außerhalb der damals bekannten Welt gelegen habe. Vielmehr gebe es nur eine Insel, die als Seemacht am Rande der damals bekannten Welt gelegen habe: Kreta." [13]

Aber auch Atlantis-Lokalisierungen im westlichen Mittelmeerraum schloss W. Brandenstein - ziemlich voreilig - aus, wobei er darauf abhob, die iberische Hypothese sei angeblich bereits von dem Altphilologen Hans Herter widerlegt worden, was aus heutiger Sicht zumindest als äußerst zweifelhaft zu betrachten ist. "Überhaupt habe es im Westen vor den Karthagern und Etruskern keinerlei Seemächte gegeben." [14] Zu Prof. Dr. Brandensteins Entlastung sei diesbezüglich angemerkt, dass er einer Generation von Prähistorikern angehörte, welche die Leistungen der atlantischen und atlanto-mediterranen Megalithiker noch völlig unterschätzte, und ganz dem Paradigma des "ex oriente lux" ergeben war, welches erst 1971 von dem britischen Archäologen Colin Renfrew in seiner traditionellen Form 'zu Grabe getragen' wurde. [15]

"Den Skeptikern hält er", wie Thorwald C. Franke weiter ausführt, "entgegen, dass es >völlig untragbar< sei zu glauben, dass Platon die Herkunft des Atlantis-Berichts aus Ägypten einfach erfunden hätte." Und "Romantikern wie Skeptikern macht Brandenstein den Vorwurf, dass sie >kühn darüber hinweggegangen< seien, dass die Ortsbestimmung der Insel Atlantis zeitgebunden verstanden werden müsse und deshalb ein Interpretationsfehler aus Solons bzw. Platons Zeit vorliegen könne. Der Schluss, dass es überhaupt kein Atlantis gegeben habe, wenn es im Atlantik kein Atlantis gegeben habe, ist für ihn nicht bündig. Das sei, wie wenn Kolumbus gefolgert hätte, dass es überhaupt kein Indien gebe, wenn es im Atlantik kein Indien gebe." [16]


Werke von Wilhelm Brandenstein

  • Die Herkunft der Etrusker, 1937.
  • Frühgeschichte und Sprachwissenschaft, 1948.
  • Einführung in die Phonetik und Phonologie, 1950.
  • Atlantis – Größe und Untergang eines geheimnisvollen Inselreiches, Wien 1951.


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Quelle: Wikipedia - Die freie Enzyklopädie, unter: Wilhelm Brandenstein Stand: (21. Feb. 2010)
  2. Siehe: Massimo Pallottino, Atlantide, in: Archeologia Classica Nr. 4/1952, S. 229-240.
  3. Quelle: Thorwald C. Franke, "Ein Wissenschaftler pro Atlantis - Prof. Dr. Wilhelm Brandenstein und sein Beitrag zur Atlantis-Forschung", bei: Mysteria 3000
  4. Quelle: ebd.
  5. Anmerkung: Bei Franke heißt es dazu: "Platon hätte einer längeren Entwicklung und Entfaltung literarischer Formen weit vorgegriffen und wäre demgemäß bei seinen Zeitgenossen auf kein Verständnis gestoßen, hätte er mit der Atlantis-Erzählung so etwas wie einen historisierenden Roman vorlegen wollen. Das sei praktisch unmöglich. [...] Auch der literarische Kunstgriff, eine fingierte Überlieferung zu präsentieren, sei erst viel später entwickelt worden." (Quelle: Thorwald C. Franke, op. cit.)
  6. Quelle: ebd.
  7. Anmerkung: Zur Definition dieser literarischen Gattung bei Brandenstein heißt es bei Franke: "Unter einer Sage versteht Brandenstein eine Erzählung, die im Kern auf eine historische Begebenheit zurückgeht. Zwar seien auch mythische und märchenhafte Aspekte enthalten, doch nur am Rande. Diese Sage sei zudem von Solon bzw. Platon durch ehrlich gemeinte aber teils irrige Schlussfolgerungen und Interpretationen ergänzt worden." (Quelle: Thorwald C. Franke, op. cit.)
  8. Quelle: ebd.
  9. Quelle: ebd.
  10. Siehe dazu bei Atlantisforschung.de auch die Beiträge in der Sektion "Die Ägäis als Feld der modernen Atlantisforschung"
  11. Quelle: ebd.
  12. Quelle: Thorwald C. Franke, op. cit.
  13. Quelle: ebd.
  14. Quelle: Thorwald C. Franke, op. cit.
  15. Siehe dazu bei Atlantisforschung.de den Beitrag: "Gerhard Herms nordeuropäisches Atlantis", Teil 1 (bb)
  16. Quelle: Thorwald C. Franke, op. cit.

Bild-Quellen:

1) Studien zur Srachwissenschaft und Kulturkunde. Gedenkschrift für Wilhelm Brandenstein (Innsbruck 1968); nach: Thesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialien (TITUS), Galeria, unter: "Wilhelm Brandenstein"
2) Wilhelm Brandenstein, Atlantis, 1951, nach: Thorwald C. Franke, "Ein Wissenschaftler pro Atlantis - Prof. Dr. Wilhelm Brandenstein und sein Beitrag zur Atlantis-Forschung", bei: Mysteria 3000
3) ebd.