Neandertaler: Doch die ersten Amerikaner?

Abb. 1 Gelangten bereits unsere paläolithischen Vettern, die Neandertaler, vor mehr als 100.000 Jahren nach Amerika? Eine wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 2017 gibt dieser von außenseiterischen Forschern seit langem vertretene Annahme [1] neue Nahrung. (Bild: Die akribische Rekonstruktion eines Neandertalers im Neanderthal Museum in Mettmann)

(red) Potenziell Paradigmen sprengende Funde werden in der Archäologie und Paläo-Anthropologie zumeist noch immer als 'Heiße Kartoffeln' behandelt - vor allem, wenn es um die urzeitliche Besiedlunsgeschiche Amerikas geht. [2]. Zumeist werden solche Funde, die von ihren Entdeckern ohnehin erst dann publiziert werden, wenn diese sich ihrer Sache ganz sicher sind, kurz und heftig in Fachkreisen debattiert, um danach - mit dem Stempel 'kontrovers' versehen - möglichst schnell ad acta gelegt zu werden. Welcher karriereorientierte Archäologe will sich an so etwas die Finger verbrennen?

Von daher ist es auch nicht verwunderlich, dass wirklich brisante Entdeckungen nicht selten weder einer größeren interessierten Öffentlichkeit noch den 'nachwachsenden' Forscher-Generationen bekannt werden. Spätestens nach ein oder zwei Jahrzehnten ist dann das sprichwörtliche 'Gras' über die Sache gewachsen. [3] So dürfen wir schon heute Mutmaßungen darüber anstellen, ob dies auch das Schicksal der nachfolgend behandelten, bahnbrechenden Entdeckung sein wird, über die der Journalist Colin Barras bereits im April 2017 im renommierten populärwissenschaftlichen Journal New Scientist unter Bezugnahme auf ein bei Nature veröffentlichtes Papier [4] Folgendes berichtete:

"Ein außergewöhnliches Kapitel wurde gerade der Geschichte der Ersten Amerikaner hinzugefügt. Funde an einem Standort in Kalifornien legen nahe, dass die Neue Welt zum ersten Mal vor mindestens 130.000 Jahren erreicht wurde - mehr als 100.000 Jahre früher als konventionell gedacht. Wenn sich die Beweise häufen, könnten die frühesten Menschen, die Amerika erreichten, vielleicht Neandertaler oder Denisova-Menschen gewesen sein, statt moderne Menschen. Forscher müssen sich vielleicht damit abfinden, dass sie kaum die Oberfläche der nordamerikanischen archäologischen Aufzeichnungen angekratzt haben. [...] Die Beweise stammen von einem Küstenort im San Diego County, Kalifornien. In den frühen 1990er Jahren wurden bei routinemäßigen Autobahnausgrabungen fossile Knochen entdeckt, die zu einem Mastodon (Abb. 2) gehören, einem ausgestorbenen Verwandten des Elefanten. Die Forscher zogen ein, um das Gebiet zu untersuchen, und sie entschieden bald, dass dies kein gewöhnliches Mastodonfossil war.

Abb. 2 Der Archäologe Dr. Steven R. Holen schickt sich an, die urzeitliche Besiedlungsgeschichte Amerikas neu zu schreiben. (Foto: Archaeological Institute of America)

Viele der Knochen und Zähne waren fragmentiert (Abb. 3), einige mit 'Spiralfrakturen', die entstehen können, wenn Menschen frischen Knochen aufbrechen. Neben den gebrochenen Knochen und Zähnen fanden die Forscher Steinbrocken, die auf ihren Oberflächen Spuren von Schlagspuren aufwiesen. Zwei waren besonders groß - etwa 15 Zentimeter im Durchmesser - und jeder war von kleinen Knochen- und Zahnfragmenten umgeben. Zusammengenommen weisen die Beweise auf ein [spezifisches] Szenario hin, sagt Teammitglied Steven Holen (Abb. 2) vom Center for American Paleolithic Research in South Dakota. Eine Gruppe früherer Menschen stolperte über einen frischen Mastodonten-Körper, entfernte dann die Knochen und brach sie auf, indem sie Steine ​​als einfache Hämmer benutzten - wobei die zwei größeren Steine ​​als provisorische Ambosse dienten. >Die Verteilung von gebrochenen Knochenstücken rund um die Ambosse ist ein ziemlich schlüssiger Beweis<, sagt er." [5]

Colin Barras hebt hervor: "Nichts davon wäre besonders umstritten, bis auf ein letztes Detail. Holens Kollege James Paces vom United States Geological Survey in Colorado hat Uran-Thorium-Isotopendatierungen verwendet, um die Mastodonfossilien zu altern. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Überreste 131.000 Jahre alt sind, plus/minus 10.000 Jahre. Die gegenwärtige Ansicht ist, dass die Menschen Amerika erst viel später, vielleicht vor 15.000 Jahren, erreicht haben. >Wir glauben, dass wir ein robustes und vertretbares Alter haben, nach dem frühe Menschen mehr als 100.000 Jahre früher in Amerika leben, als sich die Menschen vorgestellt haben<, sagt Paces. Wer genau diese Leute waren, ist unmöglich zu sagen, da es am kalifornischen Standort keine menschlichen Fossilien gab. >Aber es gibt eine Reihe von Möglichkeiten<, sagt Teammitglied Richard Fullagar von der University of Wollongong in Australien. >Sie könnten Neandertaler oder Denisova-Menschen] gewesen sein.<

Abb. 3 Die physischen Überreste eines solchen Mastodons aus dem Paläolithikum, das vor zirka 131.000 Jahren im Gebiet des heutigen US-Bundesstaates Kalifornien lebte, könnten nun entscheidend dazu beitragen, die gängige Sicht zur urzeitlichen Besiedlungsgeschichte Amerikas über den Haufen zu werfen.

Beide Gruppen waren wahrscheinlich vor mehr als 130.000 Jahren in Sibirien präsent. Holen sagt, dass der Meeresspiegel niedrig war und es vor knapp 130.000 Jahren eine Landbrücke zwischen Sibirien und Nordamerika gab. Jede Gruppe könnte theoretisch herübergewandert sein. [...] Alternativ könnten moderne Menschen - Homo sapiens - vor 130.000 Jahren in die Neue Welt gekommen sein, sagt Fullagar. Jüngste archäologische Beweise legen nahe, dass unsere Spezies vor 120.000 Jahren in China war, was viel früher ist, als man früher dachte. Vielleicht waren die modernen Menschen sogar früher in Ostasien, als die chinesischen Fossilien andeuten, und zogen von dort aus nach Amerika.

Angesichts der Tatsache, dass genetische Untersuchungen stark darauf hindeuten, dass die indigenen Bevölkerungen in Nordamerika führen ihre Routen zu viel späteren Folgen der Kolonisation, wäre es wahrscheinlich, dass wer auch immer 130.000 Jahre kam es vor nicht sehr lange überleben. >Die Behauptungen sind außergewöhnlich und die potenziellen Auswirkungen sind atemberaubend<, sagt Jon Erlandson von der University of Oregon. Dennis Jenkins, ebenfalls an der Universität von Oregon, beschreibt die Arbeit einfach als >unglaublich< [orig: "mind-boggeling"; d.Ü.].

Aber beide Forscher - und viele andere - äußern äußerste Vorsicht bei den Schlussfolgerungen. >Gebrochene Knochen und Steine ​​allein machen aus meiner Sicht keine glaubwürdige archäologische Stätte<, sagt Erlandson. Als besonderen Schwachpunkt in der Analyse nennt er die vermeintlichen Steinhämmer und Ambosse. Vor 130.000 Jahren fertigten Hominini auf der ganzen Welt kunstvolle Steinwerkzeuge. Nichts derart Kompliziertes wurde in der Nähe des Mastodons gefunden. >Ich würde erwarten, raffiniertere Werkzeuge und Verhaltensweisen zu finden<, sagt María Martinón-Torres vom University College London, die an den frühen archäologischen Aufzeichnungen Chinas arbeitet." [6]

Was zu erwarten war: Kontroverse Reaktionen in der Fachwelt

Abb. 4 Die Oberfläche eines Mastodonten-Knochens von der Fundstätte im San Diego County zeigt eine deutliche Halbaufschlagkerbe in einem Femursegment. (Foto: Tom Deméré, San Diego Natural History Museum)

Und damit wären wir nun beim bereits eingangs angeschnittenen Thema 'Skepsis, Paradigmen & Hyperkritizismus' angelangt. Während im vorliegenden Fall die Validität der erbrachten Datierungs-Ergebnisse offenbar von niemand infrage gestellt wird, gehört die krude Beschaffenheit der Werkzeuge - oder Werkzeug-Reste - die im San Diego County entdeckt wurden, zu den wesentlichen Kritikpunkten, die nach der Publikation der Studie von Holen et al. geäußert wurden. Für einen Vergleich dieser lithischen Artefakte mit anderen einfachen Steinwerkzeugen eines ähnlichen Alters zieht Colin Barras relativ simple Artefakte heran, die etwa zur selben Zeit vom Homo floresiensis auf der indonesischen Insel Flores hinterlassen wurden. Dazu führt er aus:

"Aber selbst diese Werkzeuge zeigen ein Maß an Komplexität, das man auf der Mastodon-Fundstätte nicht sehen kann, sagt Adam Brumm von der Griffith University in Queensland, Australien, der an den archäologischen Funden von Flores arbeitet. >Wenn es sich tatsächlich um menschlich modifizierte Artefakte handelt, lassen sie das typische Hobbit-Werkzeug wie ein iPhone aussehen<, sagt er. Brumms allgemeine Reaktion auf die neue Studie ist skeptisch. >Die meisten Archäologen werden es einfach nicht glauben - die Daten [d.h. Datierungen; d.Ü.] sind zu alt, die 'Werkzeuge' zu unwerkzeughhaft [orig.: "too untool-like"; d.Ü.] und die Schlussfolgerungen zu schwindelerregend.< Fullagar ist jedoch nicht durch solche Skepsis zu entmutigen. >Ich habe ungefähr vier Jahre damit verbracht, diese Artefakte zu untersuchen, und das Team hat seit etwa 24 Jahren nach den Beweisen gesucht<, sagt er. >Es ist verständlich, dass es in ein paar Tagen schwierig sein wird, die Art dieser Beweise zu verstehen.<" [7]

Immerhin waren die Reaktionen der Fachwissenschaftler auf die Ergebnisse von Holen, Fullagar und deren Team-Kollegen keineswegs durchgehend skeptisch oder ablehnend. Gerrit van den Bergh z.B., der - wie Fullagar - an der University of Wollongong arbeitet und schon früh über das Forschungsprojekt und dessen Verlauf informiert war, kommentiert die Resultate positiv: “Ich denke, das Team hat sehr starke Argumente und gute Beweise. " [8] Aufgeschlossen zeigte sich auch Prof. Chris Stringer vom Natural History Museum in London: "Wir hören oft in den Medien, dass eine neue Studie alles ändert, was wir wussten [...] Wenn dieses Ergebnis der Überprüfung standhält, ändert es tatsächlich alles, was wir über die früheste menschliche Besiedlung Amerikas wussten. [...] Das Papier ist durch ein Peer Review gegangen", bemerkt er zudem, um dann hinzuzufügen: Aber "viele von uns werden [auch] von anderen Orten Beweise für diese uralte Inbesitznahme sehen wollen, bevor wir das konventionelle Modell aufgeben." [9] Dies aber kann angesichts des in einem frustrierenden Schneckentempo verlaufenden Erkenntnisprozesses zur Paläo-Anthropologie Amerikas noch Jahrzehnte dauern...


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Siehe z.B.: A.E.F. Hoening, "Fundort Stone Creek - Die Entdeckung des amerikanischen 'Neanderthalers'", Econ Verlag, 1981
  2. Siehe dazu zahlreiche Beiträge in unserer Rubrik "Farewell Clovis! - Vom langsamen Sterben eines Paradigmas" (red)
  3. Siehe dazu exemplarisch: "Ein 500 000 Jahre altes Brett aus dem Jordan-Tal" (rmh)
  4. Siehe: Steven R. Holen, Thomas A. Deméré, Daniel C. Fisher, Richard Fullagar, James B. Paces, George T. Jefferson, Jared M. Beeton, Richard A. Cerutti, Adam N. Rountrey, Lawrence Vescera und Kathleen A. Holen, "A 130,000-year-old archaeological site in southern California, USA", 27 April 2017, in Nature Vol. 544, S. 479–483 (Link abgerufen: 09. August 2018)
  5. Quelle: Colin Barras, "First Americans may have been Neanderthals 130,000 years ago", 26. April 2017, bei New Scientist (abgerufen: 09. August 2018; Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  6. Quelle: ebd.
  7. Quelle: ebd
  8. Quelle: ebd
  9. Quelle: ebd.

Bild-Quellen:

1) Stefan Scheer bei Wikimedia Commons, unter: File:Neandertaler reconst.jpg (Lizenz: Creative-Commons, „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“)
2) Charles R. Knight / FunkMonk bei Wikimedia Commons, unter: File:Knight Mastodon.jpg
3) Archaeological Institute of America, unter: AIA Lecturer: Steven R. Holen
4) Tom Deméré, San Diego Natural History Museum; nach: Colin Barras, "First Americans may have been Neanderthals 130,000 years ago", 26. April 2017, bei New Scientist